Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe. Levin Schücking
nehmen. Ich habe eine Angelegenheit zu betreiben, bei welcher mir eine Fürsprache bei dem Großherzog von großer Fördernis sein könnte.«
»O zweifeln Sie nicht,« rief Madame mit großem Eifer aus. »Wenn Sie mich schon jetzt in Ihre Angelegenheit einweihen wollten –«
»Ich weiß nicht, ob Ihnen dieselbe ganz verständlich ist. Es liegt im Großherzogtum ein Gut, welches meinem Vater gehörte. Der letztere war leider durch unglückliche Umstände so in Schulden geraten, daß es nach seinem Tode den Gläubigern anheimfiel. Mir blieb nichts davon übrig und deshalb verließ ich, wie ich schon sagte, die Heimat. Das Gut, von dem ich Ihnen rede, war aber ein Lehnsgut. Es durfte nicht veräußert, nur die Einkünfte konnten den Gläubigern überlassen werden. Seitdem das Land unter französischer Herrschaft steht, ist jedoch das Lehnswesen aufgehoben. Infolge davon wird das Gut meines Vaters bereits veräußert sein und dann darf ich hoffen, daß der Verkauf einen Ueberschuß über den Schadenbetrag ergeben hat, welchen ich ausgeantwortet zu erhalten hoffe, Oder es ist noch nicht veräußert. In diesem Falle werde ich meine Rechte geltend machen dahin, daß man mir den Besitz einräume; ich werde dann durch die jetzt gesetzlich erlaubte Veräußerung einesteils die Schulden abtragen und mir einen kleinen Rest meines alten angestammten Erbes retten können.«
»O, ich verstehe das recht gut,« erwiderte Madame auf diese Auseinandersetzung, »Sie sind deshalb also aus der Fremde zurückgekommen?«
»Deshalb – weil ich in den Zeitungen von den großen Veränderungen las, welche in meinem Vaterlande durch die neue Herrschaft vorgekommen sind. Da ich in der Neuen Welt ein neues Glück nicht gefunden habe, bin ich zurückgekehrt, um in der Alten zusammenzuklauben, was noch von Ueberresten und verkommenen Brocken eines alten Glücks übriggelassen sein mag.«
Madame legte nun dem Fremden dringend ans Herz, sie recht bald zu besuchen, wenn sie am Ziele ihrer Reise, in der großherzoglich bergischen Hauptstadt angekommen seien, damit sie ihn dann ihrem Manne vorstelle, der ... das konnte sie fest zusagen ... sich aufs lebhafteste für ihn verwenden werde.
Ihr Reisegefährte versprach dies zu tun, wenn auch in der ruhigen und kalt höflichen Weise, die sein ganzes Benehmen charakterisierte, und bewies, daß er Hoffnungen und Aussichten, welche ihm das Leben eröffnete, durchaus nicht mit sanguinischem Eifer aufzunehmen pflegte, sondern viel eher mit der bedächtigen Vorsicht eines Mannes, welcher an Täuschungen gewöhnt ist und einsehen gelernt hat, was menschliche Berechnungen und Voraussetzungen wert sind. Doch war er von nun an um vieles offener gegen seine Wagennachbarin und sprach sich über Menschen und Welt in einer Art aus, die Madame höchst originell und unterhaltend fand – einem ernstern Geiste hätten sie vielleicht einen andern Eindruck gemacht und Anlaß gegeben, über den Einfluß nachzudenken, den widrige Lebensschicksale auf unser Denken, unser Fühlen und unsern Glauben haben.
Die kleine Gräfin aus Marseille hörte aufmerksam, wenn auch zuweilen mit einem leisen Gähnen, das sie unter freundlichem Lächeln zu verstecken suchte, derartigen Aeußerungen zu, und so kam es, daß man in dem besten gegenseitigen Einvernehmen sich endlich seinem Ziele näherte. Bei der Langsamkeit der Fortbewegungsanstalt, welcher man sich überlassen, wurde es jedoch späte, tiefe Nacht, bevor man wirklich die Hauptstadt des bergischen Landes erreichte. Die Frau Gräfin konnte nicht mehr daran denken, jetzt noch ihren Gatten aufzusuchen; es blieb ihr nichts übrig, da sie nicht einmal seine Wohnung wußte, als sich in den nächsten anständigen Gasthof zu begeben. Der Fremde schloß sich ihr dabei an, und während die Postbedienten versprachen, daß sie das Gepäck dahin abliefern würden, nahm der letztere den kleinen schlaftrunkenen Husaren, der die reisende Gräfin eskortierte, auf den Arm und trug ihn durch die schweigenden dunkeln Gassen bis zu den »Drei Reichskronen«, wo schon alles in tiefer Ruhe lag und nur durch langes und zäh-beharrliches Anklopfen ein unglücklicher Kellner aus den Federn zu bringen war.
Zehntes Kapitel
Richard von Huckarde
Die schwarzäugige Provenzalin hatte sich durch einen sehr langen Schlummer für die Mühseligkeiten ihrer Reise entschädigt. Es war vielleicht zehn Uhr, als sie am andern Morgen, in ihrem Zimmer in den »Drei Reichskronen« vor dem Spiegel sitzend, damit beschäftigt war, durch alle Künste der Toilette ihrer, wie gesagt, nicht mehr ganz blühenden Schönheit die möglichste Frische der Jugendlichkeit zu geben, um ihrem Gatten einen blendenden Eindruck zu machen, wenn sie vor ihm erscheine. Ihren kleinen Husaren hatte sie ebenfalls möglichst herausgeputzt, mit eigenen hohen Händen gewaschen, gekämmt und gestriegelt – einen dienstbaren Geist, eine Kammerjungfer auf der weiten Reise mit sich zu führen, darauf hatte die kleine Gräfin ihrer finanziellen Umstände wegen ja leider verzichten müssen. So saß der kleine Bursche denn mit den Füßen vor Ungeduld zappelnd auf dem Sofa und verlangte ungestüm, daß der Weg zu dem Papa angetreten werde, während ihn die Gräfin mit der Herzählung aller der schönen Dinge zu beschäftigen suchte, welche er von seinem Papa jetzt unfehlbar geschenkt erhalten werde, namentlich ein kleines Pferd, nach welchem der Husar verlangte, und einen allerliebsten kleinen Reitknecht in blauer Livree dazu. Sie war endlich im Begriff, sich zu erheben und die Klingel zu ziehen, um sich einen Lohnbedienten heraufsenden zu lassen, der sie zu der Wohnung ihres Mannes führen sollte, als plötzlich rasch an ihre Tür geklopft wurde und im nächsten Augenblick, bevor noch von ihr herein! gerufen worden, ihr Reisegefährte von gestern hereintrat.
Sein Wesen und seine Züge verrieten eine Aufregung, welche in schroffem Kontrast zu der kaltblütigen Zurückhaltung stand, die er am gestrigen Tage gezeigt hatte.
»Ah, Monsieur,« rief ihm die kleine Gräfin entgegen, »Sie sehen aus, als ob Sie mir eine Neuigkeit bringen wollten!«
»Madame, verzeihen Sie, daß ich so ohne Zeremonien bei Ihnen eindringe,« versetzte der Fremde. »Ihr Mann ist der Graf von Epaville ...«
»Mein Mann heißt Antoine d’Anglure, Graf von Epaville!« antwortete die Dame. »Was ist, was haben Sie?«
Der Fremde befand sich augenscheinlich in einer tiefen Gemütsbewegung; sein dunkler trauriger Blick haftete auf dem Antlitz der kleinen Frau, und während er soeben noch voll Hast geredet hatte, schien er jetzt nach Worten zu suchen, um fortzufahren.
»Was kommen Sie mir anzukündigen?« lief die Gräfin beunruhigt und erschrocken durch dies Benehmen aus.
Statt auf diese Frage zu antworten, fuhr der Fremde fort: »Sie wollen zu ihm – Sie haben zu ihm geschickt?«
»Ich will eben zu ihm, ich habe nicht geschickt, weil ich ihn überraschen wollte.«
»O, bleiben Sie, bleiben Sie,« rief der Fremde aus, »setzen Sie sich wieder, ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen, die ...«
»Um des Himmels willen – wie erschrecken Sie mich! Was ist mit meinem Manne?«
»Es ist ein unglückliches Ereignis eingetreten ...«
»Ein Unglück ist ihm zugestoßen?«
»Ja – ein Unglück – machen Sie sich auf eine traurige Nachricht gefaßt ...«
»Aber mein Gott, wie können Sie mich so auf die Folter spannen – sprechen Sie doch, reden Sie ... ist er krank, verwundet – ist er tot?« schrie die entsetzte kleine Frau.
»Madame, werden Sie Ihre Fassung behaupten, wenn ich Ihnen sage, daß Sie ihn nicht wiedersehen werden?«
»Er ist tot?«
»Sie sagen es!«
»Tot – aber um Himmels willen, so plötzlich – in seinen besten Jahren... o, mein Gott, mein armes Kind, das ist ja entsetzlich!«
Die kleine Frau sprang auf und drückte, laut schluchzend, ihren Knaben an ihr Herz, der nun, den Jammer der Mutter sehend, auch zu weinen begann.
Der Fremde ließ schweigend diesen ersten Ausbruch des Schmerzes vorübergehen. Als er zu bemerken glaubte, daß die Gräfin, schneller als er es erwartete, ihre Fassung wieder gewonnen, sagte er