Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
auch ihn, Logre, zu beschuldigen, daß er in den Diensten der Polizei stehe! Ihn, der im Jahre 1848 und im Jahre 1851 sich für die Freiheit geschlagen und zweimal nahe daran gewesen, verschickt zu werden! Indem er so schrie, betrachtete er die anderen mit vorgestrecktem Kinn, als wolle er ihnen unnachsichtig die Überzeugung annageln, daß er nicht zur Polizei gehöre. Bei seinen wütenden Blicken verwahrten sich alle dagegen, daß sie ihn verdächtigten. Lacaille allein ließ stumm den Kopf sinken, als Lebigre ein Wucherer genannt wurde.
Der Zwischenfall ging in den Besprechungen unter. Seitdem Logre den Gedanken einer Verschwörung angeregt, teilte Herr Lebigre kräftige Händedrücke an die Stammgäste des Kabinetts aus. In Wahrheit mochte ihre Kundschaft ihm wenig Nutzen bringen; sie ließen sich niemals einen zweiten Trunk bringen. War die Stunde des Aufbruchs gekommen, dann tranken sie den letzten Tropfen aus ihrem Glase, den sie während ihrer heftigen Debatten über politische und soziale Gedanken vorsichtigerweise hatten stehen lassen. Beim Aufbruch in der feuchten Nachtkälte fröstelte man. Sie standen eine Weile auf dem Fußweg mit glühenden Augen, summenden Ohren, gleichsam überrascht durch die Dunkelheit und Stille der Nacht. Wenn sie einmal draußen waren, schloß Rose die Fensterläden. Dann, wenn sie ausgepumpt, kein Wort mehr fanden und einander die Hände gedrückt hatten, trennten sie sich, brummten noch vor sich hin mit dem Bedauern, daß sie sich ihre Überzeugungen nicht gegenseitig in den Rachen stoßen konnten. Der runde Rücken Robines verschwand nach der Seite der Rambuteau-Straße hin, während Charvet und Clémence die Hallen entlang bis zum Luxemburggarten gingen, Seite an Seite, mit festem, militärischem Tritt, noch immer irgendeinen politischen oder philosophischen Punkt erörternd und sich niemals den Arm reichend.
Das Komplott reifte nur langsam. Zu Beginn des Sommers war noch immer nur von der Notwendigkeit die Rede, »den Streich zu versuchen«. Florent, der in der ersten Zeit ein gewisses Mißtrauen hegte, glaubte schließlich an die Möglichkeit einer revolutionären Bewegung. Er beschäftigte sich sehr ernstlich damit, machte Notizen, entwarf schriftliche Pläne. Die anderen redeten nur immer. Er konzentrierte allmählich sein ganzes Leben in dieser fixen Idee, über die er sich jeden Abend den Kopf zermarterte in dem Maße, daß er schließlich seinen Bruder Quenu zu Herrn Lebigre führte, natürlich ohne an Schlimmes zu denken. Er behandelte ihn noch immer ein wenig wie seinen Zögling; er dachte wohl auch, daß er die Pflicht habe, ihn auf den guten Weg zu leiten. Quenu war in der Politik völlig ein Neuling; allein nach fünf oder sechs Abenden war er mit der Gesellschaft in Übereinstimmung. Er zeigte große Gelehrigkeit, eine Art Achtung vor den Ratschlägen seines Bruders, wenn die schöne Lisa nicht dabei war. Vor allem verlockend schien ihm diese spießbürgerliche Zerstreuung, seinen Wurstladen verlassen, sich in diesem Kabinett einschließen zu können, wo man so laut schrie und wo die Anwesenheit Clémences in die ganze Unterhaltung einen köstlichen Stich ins Verbotene brachte. Er trachtete jetzt eilig von seinen Würsten wegzukommen, um kein Wort von diesen Reden zu verlieren, die ihm höchst gescheit schienen, ohne daß er ihnen immer bis zu Ende zu folgen vermochte. Die schöne Lisa merkte wohl seine Eile fortzukommen, aber sie sagte noch nichts. Wenn Florent ihn wegführte, trat sie auf die Schwelle und blickte ihnen blaß mit strengen Augen nach, bis sie bei Herrn Lebigre eingetreten waren.
Fräulein Saget erkannte eines Abends von ihrer Dachluke aus den Schatten Quenus hinter den matten Scheiben des auf die Pirouette-Straße gehenden Fensters des Kabinetts. Sie hatte da einen vortrefflichen Beobachtungsposten gefunden gegenüber dieser Scheibe von durchsichtigem Milchglas, an der sich die Schattenbilder der Herren abzeichneten mit plötzlich auftauchenden Nasen, Kinnbacken, mit riesigen Armen, die plötzlich erhoben wurden, ohne daß man die Körper sah. Diese überraschenden Gliederverrenkungen, diese stummen und wütenden Gesichter, die nach außen die feuereifrigen Besprechungen des Kabinetts verrieten, hielten sie hinter ihren Musselinevorhängen fest, bis das Fenster dunkel ward. Sie witterte da einen »bösen Streich«. Sie hatte schließlich alle diese Schatten an den Händen, an den Haaren, an den Kleidern erkannt. Wenn sie dieses Durcheinander von geballten Fäusten sah, von zornigen Köpfen, von erhobenen Schultern, die sich ausrenken und aufeinander losfallen zu wollen schienen, sagte sie bestimmt: »Dies ist der lange Vetter, dies der alte Geizhals Gavard, dies der Bucklige und dies die Hopfenstange Clémence«. Wenn die Schatten sich erhitzten und in einen wüsten Streit gerieten, ward sie von einem unwiderstehlichen Bedürfnis erfaßt, hinabzugehen und näher zuzuschauen. Sie kaufte ihren Likör am Abend unter dem Vorwande, daß sie sich des Morgens immer »so gar nicht recht wohl« fühle und ein Schlückchen nehmen müsse, sowie sie das Bett verlassen habe. An dem Tage, da sie den dicken Kopf Quenus sah, vor dem von Zeit zu Zeit die dünne Hand Charvets herumfuchtelte, kam sie ganz atemlos zu Herrn Lebigre herunter und ließ ihr Fläschchen von Rose ausspülen, um dadurch mehr Zeit zu gewinnen. Sie war im Begriffe wieder heimzukehren, als sie die Stimme des Wurstmachers hörte, der laut wie ein Kind sagte:
Nein, es geht nicht weiter! ... Man muß gründlich aufräumen mit allen diesen Deputierten und Ministern! ...
Am anderen Morgen war Fräulein Saget schon um acht Uhr im Wurstladen. Sie fand daselbst Frau Lecoeur und die Sarriette, die ihre Nase in den Schmorofen steckten, um sich Würste für ihr Frühstück auszusuchen. Da die alte Jungfer sie in den Streit mit der schönen Normännin wegen des Sandaales für zehn Sous mit hineingezogen, hatten beide sich schnell mit der schönen Lisa ausgesöhnt. Sie ließen jetzt kein gutes Haar an der Fischhändlerin, schimpften über die Méhudin, »diese Dirnen, die nur nach dem Gelde der Männer trachteten«. Die Wahrheit war, daß Fräulein Saget der Frau Lecoeur zu verstehen gegeben hatte, daß Florent von Zeit zu Zeit eine der Schwestern Herrn Gavard überlasse und daß sie dann alle vier im Restaurant Baratte Zechgelage halten, deren Kosten natürlich der Geflügelhändler bestreite. Frau Lecoeur glaubte, darüber vor Ärger bersten zu müssen.
An diesem Morgen war es Madame Quenu, der die Alte einen Hieb versetzen wollte. Sie trippelte vor dem Pulte hin und her und sagte endlich mit ihrer sanftesten Flötenstimme:
Gestern abend sah ich Herrn Quenu. Oh, sie vergnügen sich gar nicht schlecht in dem Kabinett, wo sie soviel Lärm machen.
Lisa blickte auf die Straße hinaus; sie hörte aufmerksam zu, wollte aber ohne Zweifel der Sprechenden nicht ins Gesicht sehen. Fräulein Saget machte eine Pause, weil sie hoffte, man werde sie befragen. Dann fügte sie ganz leise hinzu:
Sie haben auch eine Frau mit sich ... Oh, nicht Herr Quenu ... Das sage ich nicht ... denn ich weiß es nicht ...
Es ist Clémence, sagte die Sarriette; eine lange Dürre, die sich spreizt, weil sie in der Pension gewesen. Sie lebt mit einem schäbigen Lehrer ... Ich habe sie zusammen gesehen; sie sehen immer aus, als würden sie sich gegenseitig zur Polizei führen.
Ich weiß, ich weiß, sagte die Alte, die ihren Charvet und ihre Clémence sehr wohl kannte und die nur sprach, um die Wursthändlerin zu beunruhigen.
Doch diese rührte sich nicht; sie tat, als beobachte sie eine sehr interessante Sache in den Hallen. Da griff die andere zu den großen Mitteln. Sie wandte sich an Madame Lecoeur:
Ihnen wollte ich sagen, Sie täten gut daran, Ihrem Schwager zu raten, daß er vorsichtig sei. Sie schreien in ihrem Kabinett schreckliche Dinge. Die Männer sind wirklich nicht gescheit mit ihrer Politik. Wenn man sie hörte, könnte die Sache eine schlimme Wendung für sie nehmen.
Gavard tut leider was er will, sagte Frau Lecoeur seufzend. Das hat noch gefehlt. Der Kummer wird mich töten, wenn er eines Tages eingesperrt wird.
Ein Licht blitzte in ihren trüben Augen auf. Die Sarriette aber lachte und schüttelte ihr von der Morgenluft gerötetes, kleines Gesicht.
Jules, sagte sie, würde bald mit jenen fertig werden, die Schlimmes vom Kaiserreich reden ... Man müßte sie sämtlich in die Seine werfen; wie er mir erklärt hat, gibt es keinen einzigen anständigen Menschen unter ihnen.
Es ist nicht schlimm, fuhr Fräulein Saget fort, so lange das, was sie reden, nur von solchen Personen gehört wird, wie ich bin ... Sie wissen ja, ich würde mir eher die Hände abhacken lassen ... So sagte gestern abends Herr Quenu...
Sie hielt abermals inne. Lisa machte eine leise Bewegung.
Herr Quenu sagte, man müsse die Deputierten, die Minister und das ganze Pack niederknallen.