Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola

Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen - Emile Zola


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geht los, ich höre die Kugel an meinem Ohre vorüber pfeifen und paff! die Kugel zerschmettert den Spiegel des Herrn Bürgermeisters.

      Die Verblüffung war allgemein. Ein so schöner Spiegel! Unglaublich fürwahr! Der dem Spiegel widerfahrene Unfall hielt in der Teilnahme dieser Herren dem Heldenmute Rougons die Wage. Dieser Spiegel ward eine Person und man sprach von demselben eine Viertelstunde lang mit Worten des Mitleids, als ob diese Person im Herzen getroffen wäre. Es war das Sträußchen, wie Peter es vorbereitet hatte, die Entwickelung dieser wunderbaren Odyssee. Ein lautes Stimmengewirre erfüllte den gelben Salon. Man wiederholte unter sich die Geschichte, die man soeben gehört hatte, und von Zeit zu Zeit trat ein Herr aus der Gruppe, um von einem der drei Helden die genaue Darstellung irgendeiner bestrittenen Tatsache zu erfragen. Und die Helden stellten die Tatsache mit einer peinlichen Genauigkeit fest; sie fühlten, daß sie für die Geschichte sprachen.

      Indessen sagten Rougon und seine beiden Beistände, daß sie auf dem Rathause erwartet würden. Achtungsvolle Stille trat ein; man grüßte sich gegenseitig mit ernstem Lächeln. Granoux platzte schier im Bewußtsein seiner Wichtigkeit; er allein hatte gesehen, wie der Aufständische den Hahn losdrückte und der Spiegel in Trümmer ging. Das machte ihn groß; er blies sich auf, daß er schier aus der Haut fuhr. Als er den Salon verließ, nahm er den Arm Roudiers mit der Miene eines von den Mühen gebrochenen großen Anführers und murmelte:

      Seit sechsunddreißig Stunden bin ich auf den Beinen und Gott weiß, wann es mir vergönnt ist, das Bett aufzusuchen.

      Als Rougon ging, nahm er Vuillet beiseite und sagte ihm, die Partei der Ordnung zähle mehr als je auf ihn und die Zeitung. Er müsse einen schönen Artikel bringen, um die Bevölkerung zu beruhigen und die Bande von Bösewichten, die Plassans durchzogen hatte, nach Gebühr zu geißeln.

      Seien Sie beruhigt, erwiderte Vuillet. Die Zeitung sollte erst morgen erscheinen, aber ich will sie schon heute ausgeben.

      Als sie fort waren, blieben die Gäste des gelben Salons noch einen Augenblick da geschwätzig wie die Basen, die ein entflohener Zeisig auf den Fußsteig versammelt. Für diese vormaligen Kaufleute, für diese Ölhändler, für diese Hutfabrikanten waren die neuen Ereignisse ein wahres Zauberdrama. Niemals hatte ein solcher Stoß sie aufgerüttelt. Sie konnten sich vor Staunen darüber nicht fassen, daß solche Helden wie Rougon, Granoux und Roudier unter ihnen erstanden. Als ihnen der Salon zu eng wurde und sie es überdrüssig wurden, sich immer wieder die nämliche Geschichte zu erzählen, empfanden sie ein lebhaftes Verlangen, die große Neuigkeit überallhin zu verbreiten. Sie verschwanden einer nach dem andern, jeder von dem Ehrgeiz getrieben, der erste zu sein, der alles weiß und alles erzählt; und Felicité, die allein geblieben war, sah, zum Fenster hinausgeneigt, wie sie sich in der Banne-Straße zerstreuten, die Arme bewegend wie große, dürre Vögel ihre Schwingen und nach allen vier Enden der Stadt die Aufregung verbreitend.

      Es war zehn Uhr. Das aus dem Schlafe erwachte Plassans lief in den Straßen umher, verblüfft durch die umlaufenden Gerüchte. Wer die aufständische Rotte gesehen oder gehört hatte, erzählte märchenhafte Geschichten, die einander widersprachen, und erging sich in ungeheuerlichen Vermutungen. Aber die größte Anzahl Leute wußte nicht einmal, um was es sich handelte; sie wohnten in den äußeren Teilen der Stadt und hörten offenen Mundes wie ein Ammenmärchen, diese Geschichte von mehreren tausend Banditen, die die Straßen überfluteten und vor Tagesanbruch wieder verschwunden waren, wie ein Heer von Gespenstern. Die schlimmsten Zweifler sagten: »Geht, geht!« Und doch waren einige Einzelheiten ganz genau. Schließlich war Plassans überzeugt, daß, während es schlief, ein furchtbares Unglück über sein Haupt hinweggezogen sei, ohne es zu berühren. Diese schlecht erklärte Katastrophe verlieh den nächtlichen Schatten, den Widersprüchen der verschiedenen Nachrichten einen unbestimmten Charakter, einen unergründlichen Schrecken, der die Tapfersten erzittern ließ. Wer hat den Blitzschlag abgewendet? Es grenzte ans Wunderbare. Man sprach von unbekannten Rettern, von einer kleiner Schar von Männern, die der Hydra den Kopf abgeschlagen, aber ohne Einzelheiten vorzubringen wie von einer kaum glaublichen Sache, als die Gäste des kleinen Salons sich durch die Straßen zerstreuten, die Nachrichten verbreitend, vor jeder Türe die nämliche Geschichte erzählend.

      Es war wie ein Lauffeuer. Binnen wenigen Minuten hatte die Nachricht den Weg von einem Ende der Stadt bis zum andern zurückgelegt. Der Name Rougon flog von Mund zu Mund, mit Ausrufen der Überraschung in der Neustadt, mit Lobeserhebungen im alten Stadtviertel. Der Gedanke, daß sie ohne Unterpräfekten, ohne Bürgermeister, ohne Postdirektor, ohne Einnehmer, ohne jede Behörde seien, rief zuerst Bestürzung unter den Einwohnern der Stadt hervor. Sie waren betroffen, wie sie ohne jegliches Regiment ihren Schlaf beenden und wie gewöhnlich aufstehen konnten. Als die erste Bewunderung vorüber war, stürzten sie sich hingebungsvoll ihren Befreiern in die Arme. Die wenigen Republikaner zuckten mit den Achseln; doch die Krämer, die kleinen Rentenbesitzer, die konservativen Elemente jeder Gattung segneten diese bescheidenen Helden, deren Taten das Dunkel der Nacht bedeckt hatte. Als man erfuhr, daß Rougon seinen eigenen Bruder verhaftet habe, kannte die Bewunderung keine Grenzen mehr. Man sprach von Brutus; diese Schwatzhaftigkeit, die er gefürchtet hatte, wandte sich zu seinem Ruhme. In dieser Stunde des noch nicht völlig zerstreuten Schreckens war die Dankbarkeit eine einhellige. Man ließ sich Rougon als Retter gefallen, ohne ihm näher ins Gesicht zu leuchten.

      Bedenken Sie nur, sagten die Mattherzigen, sie waren ihrer im ganzen einundvierzig!

      Diese Ziffer 41 brachte die ganze Stadt in Aufregung. So entstand zu Plassans die Legende von den einundvierzig Bürgern, die dreitausend Aufständische ins Gras hatten beißen lassen. Nur einige Neidharte der Altstadt, Advokaten ohne Prozesse, ehemalige Soldaten, die sich schämten, diese Nacht geschlafen zu haben, erhoben leise Zweifel. Alles in allem waren die Aufständischen vielleicht von selbst abgezogen. Es gab keinerlei Beweise eines Kampfes, weder Leichen, noch Blutlachen. Die Herren hatten wahrhaftig eine leichte Aufgabe.

      Aber der Spiegel, der Spiegel! wiederholten die Fanatiker. Sie können doch nicht leugnen, daß der Spiegel des Herrn Bürgermeisters zertrümmert ist. Schauen Sie nur nach!

      Und in der Tat drängte bis zum Abend eine Menge Leute unter tausend Vorwänden in das Arbeitszimmer, dessen Türe Rougon übrigens weit offen gelassen hatte; sie stellten sich vor den Spiegel hin, in den die Kugel ein rundes Loch geschlagen, von dem breite Brüche ausliefen; dann murmelten alle dieselben Worte:

      Alle Wetter! Die Kugel war aber stark!

      Und sie gingen überzeugt ihrer Wege.

      Felicité stand an ihrem Fenster und sog mit Wonne diese Nachrichten, die Lobsprüche und Danksagungen ein, die in der Stadt emporstiegen. Ganz Plassans beschäftigte sich zu dieser Stunde mit ihrem Gatten; sie fühlte ordentlich, wie die Stadtteile zu ihren Füßen erbebten und alle Hoffnung auf einen nahen Sieg in ihn setzten. Ha, wie wird sie diese Stadt zertreten, die sie so spät sich unterwarf. Aller ihrer Kränkungen war sie jetzt eingedenk; ihre früheren Leiden schärften nur ihr Verlangen nach unmittelbaren Freuden und Genüssen.

      Sie verließ das Fenster und schritt langsam im Salon umher. Hier hatten vorhin alle Hände sich ihnen entgegen gestreckt. Sie hatten gesiegt, die Bürgerschaft lag zu ihren Füßen. Der gelbe Salon schien ihr geweiht. Die lahmen Möbel, der verschossene Samt, der vom Fliegenschmutz ganz schwarze Armleuchter, alle diese Trümmer waren jetzt in ihren Augen die ruhmvollen Bruchstücke, die auf einem Schlachtfelde ausgestreut liegen. Die Ebene von Austerlitz hätte ihr kaum eine so tiefe Ehrfurcht einflößen können.

      Als sie wieder an das Fenster trat, bemerkte sie Aristide, der, die Nase witternd in die Höhe richtend, auf dem Platze der Unterpräfektur herumschlenderte. Sie winkte ihm heraufzukommen. Er schien nur auf diesen Ruf gewartet zu haben.

      Komm doch herein, sagte ihm seine Mutter, als sie ihn auf dem Flur stehen sah. Dein Vater ist nicht zu Hause.

      Aristide machte eine verlegene Miene wie ein verlorener Sohn. Seit bald vier Jahren hatte er den gelben Salon nicht mehr betreten. Er trug den Arm noch in der Binde.

      Schmerzt dich deine Hand noch immer? fragte seine Mutter spöttisch.

      Er errötete und antwortete verlegen:

      Nein, es geht besser; sie


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