Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
Tatsache, daß man von den Höhen von Plassans in der Ebene den Tanz von Kannibalen, die ihre Gefangenen verzehrten, gesehen habe und den Reigen von Hexen, die ihre Kessel umkreisten, in denen Säuglinge sotten, endlose Reihen von Banditen, deren Waffen im Mondlichte glänzten. Und man sprach von den Glocken, die von selbst in die trübe Luft hinaus Sturm läuteten und man behauptete, die Aufständischen hätten die Wälder ringsumher in Brand gesetzt und die ganze Landschaft stehe in Flammen.
Es war just Dienstag, der Markttag zu Plassans. Roudier hatte geglaubt, die Stadttore weit öffnen lassen zu sollen, um die wenigen Bäuerinnen einzulassen, welche Gemüse, Butter und Eier brachten. Die Gemeindevertretung, die nunmehr bloß fünf Mitglieder zählte – den Präsidenten mit inbegriffen – erklärte dies für eine unverzeihliche Unvorsichtigkeit. Obgleich die auf der Terrasse des Hotel Valqueyras zurückgelassene Schildwache nichts gesehen, solle die Stadt dennoch geschlossen bleiben. Da beschloß Rougon, der öffentliche Ausrufer solle, von einem Trommler begleitet, in den Straßen verkünden, daß die Stadt im Belagerungszustande sei; wer sie verlasse, könne nicht zurückkehren. Die Tore wurden am hellen Mittag von Amts wegen geschlossen. Diese zur Beruhigung der Bevölkerung getroffene Maßregel steigerte den Schreck bis zum Gipfelpunkte. Man konnte sich nichts Seltsameres denken, als diese Stadt, die mitten im neunzehnten Jahrhundert sich am hellen Mittag verrammelte.
Als Plassans den abgenutzten Gürtel seiner Wälle geschlossen und sich verriegelt hatte wie eine belagerte Festung bei der Annäherung eines Sturmes, strich eine tödliche Angst über die düsteren Häuser hinweg. Vom Mittelpunkte der Stadt glaubte man jede Stunde Gewehrgeknatter in den Vorstädten losbrechen zu hören. Man wußte nichts mehr; man war wie in einem Keller, wie in einem vermauerten Loche, in der beklommenen Erwartung, durch eine gnädige Fügung erlöst zu werden. Aufständische Scharen, die das Land durchzogen, hatten seit zwei Tagen jeden Verkehr unterbrochen. In der Sackgasse eingepfercht, wo sie erbaut worden, war die Stadt Plassans von dem übrigen Frankreich getrennt. Sie hatte das Gefühl, sich mitten in einem aufrührerischen Lande zu befinden; rings um sie her tönten die Sturmglocken, grollte die Marseillaise mit dem Tosen eines Stromes, der seine Ufer überschwemmt hat. Die verlassene und zitternde Stadt war wie eine den Siegern preisgegebene Beute und die Spaziergänger von der Promenade gingen vom Schrecken zur Hoffnung über, je nachdem sie vor dem großen Tore die Blusen von Aufständischen oder die Uniformen von Soldaten zu bemerken glaubten. Noch nie hatte eine Unterpräfektursstadt inmitten des Gepolters ihrer sinkenden Mauern eine schmerzlichere Todesangst zu überstehen gehabt.
Gegen zwei Uhr verbreitete sich das Gerücht, daß der Staatsstreich mißglückt sei. Der Prinzpräsident sitze im Turm von Vincennes gefangen, Paris befinde sich in der Gewalt der fortgeschrittensten Demagogie, Marseille, Toulon, Draguignan, der ganze Süden gehöre der siegreichen Aufstandsarmee. Die Aufständischen sollten abends eintreffen und ganz Plassans über die Klinge springen lassen.
Da begab sich eine Abordnung der Bürger nach dem Rathause, um der Stadtvertretung wegen der Schließung der Tore Vorstellungen zu machen; diese Maßregel, hieß es, könne nur dazu führen, die Aufständischen noch mehr gegen die Stadt zu erbittern. Rougon, der den Kopf verlor, verteidigte seine Weisung mit der äußersten Energie; diese sorgfältige Abschließung der Stadt schien ihm einer der scharfsinnigsten Akte seiner Verwaltung zu sein; er fand zu ihrer Rechtfertigung Worte der innigsten Überzeugung. Allein man brachte ihn in Verwirrung mit der Frage, wo die Soldaten seien, das Regiment, das er versprochen. Da log er; er habe nichts versprochen, sagte er rundheraus. Das Ausbleiben dieses fabelhaften Regiments, das die Einwohner dermaßen herbeisehnten, daß sie von seiner Annäherung träumten, war die große Ursache der Angst. Die gut unterrichteten Leute nannten genau den Ort, wo die Soldaten niedergemetzelt worden.
Um vier Uhr begab sich Rougon, gefolgt von Granoux, nach dem Hotel Valqueyras. Kleine Banden, die in Orchères zu den Aufständischen stießen, durchzogen in der Ferne noch immer das Viornetal. Den ganzen Tag waren Straßenjungen auf den Mauern herumgeklettert und Spießbürger herbeigekommen, um bei den Schießscharten hinauszuspähen. Diese freiwilligen Schildwachen nährten das Entsetzen der Stadt, indem sie ganz laut die Banden zählten, welche für ebenso viele starke Bataillone gehalten wurden. Dieses feige Volk glaubte von der Höhe der Stadtmauern den Vorbereitungen zu irgendeinem allgemeinen Gemetzel beizuwohnen. Des Abends strich, wie am vorhergehenden Tage, die Furcht noch kälter über die Stadt hin.
Nach dem Bürgermeisteramte zurückkehrend begriffen Rougon und der von ihm unzertrennliche Granoux, daß die Lage unhaltbar war. Während ihrer Abwesenheit war abermals ein Mitglied der Vertretung verschwunden. Sie waren nur mehr ihrer vier. Sie fanden sich lächerlich, wie sie so mit bleichen Gesichtern sich stundenlang gegenseitig betrachteten, ohne ein Wort zu sagen. Dann kam eine grause Furcht über sie, daß sie noch eine zweite Nacht auf der Terrasse des Hotel Valqueyras zubringen müßten.
Rougon erklärte ernst, daß, nachdem die Lage unverändert, kein Grund vorhanden sei, dauernd auf dem Posten zu bleiben. Wenn ein großes Ereignis eintreten solle, werde man sie benachrichtigen. Durch einen Beschluß, der gebührendermaßen von der Kommission gefaßt wurde, übertrug er die Sorgen der Verwaltung auf Roudier. Der arme Roudier, der sich erinnerte, unter Louis Philipp Nationalgardist zu Paris gewesen zu sein, hielt mit Überzeugung am großen Tore die Nachtwache.
Peter kehrte kleinlaut heim, im Schatten der Häuser dahinschleichend. Er fühlte um sich her die Stadt ihm feindselig werden. Er hörte seinen Namen durch die Gruppen gehen, begleitet von Worten des Grolls und der Verachtung. Wankend und mit dem Angstschweiß auf der Stirne stieg er die Treppe seiner Wohnung empor. Felicité empfing ihn still, mit verstörter Miene. Auch ihr begann der Mut zu sinken. Ihr ganzer Traum zerflatterte. Sie saßen im gelben Salon einander gegenüber. Der Tag ging zur Neige, ein trüber Wintertag, der graue Farben auf das orangegelbe Papier der mit großen Zweigen gezierten Wandtapeten warf; nie war ihnen dieses Gemach verfallender, scheußlicher, beschämender vorgekommen. Sie waren jetzt allein und hatten nicht wie gestern eine Schar von Höflingen um sich, die sie beglückwünschten. Ein Tag hatte genügt, um sie zu besiegen, in dem Augenblicke, da sie schon Triumph schrien. Wenn am folgenden Tage die Lage sich nicht änderte, war das Spiel verloren. Felicité, die gestern beim Anblicke der Trümmer des gelben Salons an die Ebenen von Austerlitz dachte, erinnerte sich jetzt, als sie ihn so trübselig und verlassen sah, der verdammten Gefilde von Waterloo.
Als ihr Gatte gar nichts sagte, begab sie sich ans Fenster, an jenes Fenster, wo sie mit Wonne den Weihrauch einer ganzen Unterpräfektur eingeatmet hatte. Sie bemerkte zahlreiche Gruppen unten auf dem Marktplatze. Sie schloß die Vorhänge, als sie sah, daß Köpfe sich nach ihrem Hause wandten, weil sie fürchtete, daß sie verhöhnt werden könne. Sie ahnte, daß man von ihnen spreche.
Stimmen stiegen in der Dämmerung empor. Ein Advokat schrie im Tone eines triumphierenden Anklägers:
Ich hatte es ja gesagt; die Aufständischen sind allein fort und wenn sie wiederkommen wollen, holen sie nicht erst die Erlaubnis der Einundvierzig ein. Die Einundvierzig, Narrenspossen! Ich glaube, es waren ihrer wenigstens zweihundert.
Nein, nein, sagte ein dicker Kaufmann, der mit Öl und hoher Politik Handel trieb, es waren ihrer vielleicht nicht zehn. Denn schließlich haben sie sich doch nicht geschlagen; man würde am Morgen doch Blut gesehen haben. Ich, der ich hier zu euch spreche, bin auf das Rathaus gegangen, um nachzusehen; der Hof war rein wie meine Hand.
Ein Arbeiter, der sich schüchtern in die Gruppe geschlichen hatte, fügte hinzu:
Es gehörte nicht viel dazu, vom Rathause Besitz zu ergreifen; das Tor war nicht einmal geschlossen.
Diese Worte wurden mit einem Gelächter aufgenommen, und als der Arbeiter sich ermutigt sah, fuhr er fort:
Man kennt ja die Rougon; es sind Taugenichtse!
Dieser Schimpf traf Felicité im Herzen. Der Undank dieses Volkes kränkte sie, denn schließlich hatte sie selbst an die Sendung der Rougon zu glauben begonnen. Sie rief ihren Gatten herbei, denn sie wollte, daß er die Unbeständigkeit der Menge kennenlerne.
Es war gerade so wie mit ihrem Spiegel, fuhr der Advokat fort. Was haben sie nicht für einen Lärm mit dem unglückseligen, zerbrochenen Spiegel geschlagen! Ihr müßt wissen: dieser Rougon ist sehr wohl fähig, einen