Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
Man glaubte selbst an seinen Spiegel nicht mehr. Bald geht man so weit zu behaupten, daß er keine Kugel an seinem Ohre hat vorübersausen hören! Die Legende der Rougon wird verblassen, nichts wird von ihrem Ruhme übrig bleiben. Allein er war noch nicht am Ende seiner Leiden. Die Volksgruppen waren jetzt ebenso glühend in ihrer Verbitterung wie gestern in ihrer Begeisterung. Ein ehemaliger Hutmacher, ein Greis von siebenzig Jahren, dessen Fabrik einst in der Vorstadt gewesen, forschte in der Vergangenheit der Rougon. Er sprach ganz unbestimmt, mit den Vorbehalten eines schwindenden Gedächtnisses, von dem Krautgarten der Fouque, von Adelaide, von ihren Liebschaften mit einem Schmuggler. Er sagte genug, um dem Geschwätz neue Nahrung zu bieten. Die Sprecher näherten sich jetzt und die Worte: Hundsfötter, Diebe, schamlose Ränkeschmiede drangen deutlich bis zu den Fenstervorhängen empor, hinter denen Peter und Felicité standen und vor Furcht und Zorn schwitzten. Man ging so weit, Macquart zu beklagen. Das war der letzte Schlag. Gestern war Rougon ein Brutus, eine Heldenseele, die ihre Gefühle dem Vaterlande opferte; heute war Rougon nur mehr ein von niedrigem Ehrgeiz erfüllter Mensch, der seinen armen Bruder mit Füßen trat und sich seiner als Staffel bediente, um zum Glück emporzusteigen.
Hörst du? Hörst du? sagte Peter mit erstickter Stimme. Die Bösewichte töten uns! Niemals werden wir uns davon erholen!
Felicité trommelte mit gekrümmten Fingern wütend auf den Fensterläden herum und erwiderte:
Laß sie reden! Sind wir erst die Stärkeren, dann sollen sie sehen, aus welchem Holze ich geschnitzt bin. Ich weiß, woher der Wind weht. Die Neustadt ist uns übel gesinnt.
Sie vermutete richtig. Die plötzliche Unbeliebtheit der Rougon war das Werk einer Gruppe von Advokaten, die sehr ärgerlich waren über die Bedeutung, die ein ehemaliger, ganz ungebildeter Ölhändler, der nahe am Bankerott gewesen, erlangt hatte. Das Sankt Markusviertel war seit zwei Tagen wie ausgestorben. Das alte Viertel und die Neustadt blieben allein da. Die letztere hatte die allgemeine Panik dazu benutzt, um den gelben Salon in den Augen der Kaufleute und Handwerker zugrunde zu richten. Roudier und Granoux waren ausgezeichnete Männer, ehrenhafte Bürger, die von diesen Rougon, diesen Ränkeschmieden, getäuscht wurden. Aber man wird ihnen die Augen öffnen. An Stelle dieses dickwanstigen Bettlers, der keinen Heller besaß, hätte Isidor Granoux den Sitz des Bürgermeisters einnehmen müssen. Dies nahmen die Neider zum Ausgangspunkte, um Rougon alle Handlungen seiner Verwaltung vorzuwerfen, die ja erst seit gestern datierte. Er habe den früheren Gemeinderat nicht behalten wollen; er habe einen schweren Fehler begangen, als er die Tore schließen ließ; seine Schuld sei es, daß fünf Stadträte sich auf der Terrasse des Hotel Valqueyras einen bösen Schnupfen geholt hätten. Es wollte kein Ende nehmen. Auch die Republikaner erhoben die Häupter. Man sprach von der Möglichkeit eines Handstreiches der Vorstadtarbeiter gegen das Bürgermeisteramt. Die Reaktion lag in den letzten Zügen.
Als Peter so seine Hoffnungen schwinden sah, dachte er an die wenigen Stützen, auf die er bei Gelegenheit noch zählen zu können glaubte.
Sollte nicht Aristide heute abend kommen, um seinen Frieden mit uns zu machen? fragte er.
Ja, erwiderte Felicité. Er hatte mir einen schönen Artikel versprochen. Der »Unabhängige« ist nicht erschienen...
Doch ihr Gatte unterbrach sie mit den Worten:
Ei, kommt er nicht gerade dort aus der Unterpräfektur heraus?
Die alte Frau warf nur einen Blick auf die Straße.
Er hat seine Binde wiedergenommen! rief sie.
In der Tat verbarg Aristide seine Hand wieder in seinem Seidentuche. Mit dem Kaiserreiche ging es schief, ohne daß die Republik triumphierte; und er hatte es für gut erachtet, seine Rolle als Verstümmelter wieder aufzunehmen. Er huschte über den Platz, ohne aufzublicken. Als er ohne Zweifel die gefährlichen und kompromittierenden Worte hörte, die in den Gruppen gesprochen wurden, beeilte er sich, an der Ecke der Banne-Straße zu verschwinden.
Laß, er wird nicht heraufkommen, sagte Felicité bitter... Wir sind zugrunde gerichtet... Selbst unsere Kinder verlassen uns.
Und sie schloß hastig das Fenster, um nichts mehr zu sehen und zu hören. Dann zündete sie die Lampen an, und sie aßen, aber entmutigt und ohne Hunger; es wollte nicht recht schmecken, und sie ließen die Hälfte auf dem Teller stehen. Es blieben ihnen nur wenige Stunden übrig, um einen Entschluß zu fassen. Es galt, am nächsten Morgen Plassans zu ihren Füßen und um Verzeihung flehend zu sehen, wenn sie nicht auf ihren Glückstraum verzichten wollten. Der vollständige Mangel an bestimmten Nachrichten war die einzige Ursache ihrer Angst und Unentschlossenheit. Felicité mit ihrem Scharfsinn sah dies bald ein. Hätten sie das Ergebnis des Staatsstreiches wissen können, sie hätten ihren Mut eingesetzt und trotz alledem ihre Retterrolle weitergespielt; oder sie hätten sich beeilt, nach Möglichkeit ihren unglücklichen Feldzug in Vergessenheit zu bringen. Aber sie wußten nichts Genaues: sie verloren den Kopf und der Angstschweiß trat ihnen auf die Stirne, wenn sie daran dachten, daß bei ihrer völligen Unkenntnis der Ereignisse ihr Glück auf dem Spiele stehe.
Und dieser vertrackte Eugen schreibt mir auch nicht! rief Rougon in einer verzweifelten Aufwallung, ohne zu bedenken, daß er das Geheimnis seines Briefwechsels preisgab.
Doch Felicité tat, als habe sie nichts gehört. Der Ausruf ihres Gatten hatte sie im Innersten getroffen. In der Tat: warum schrieb Eugen seinem Vater nicht? Nachdem er ihn über die Erfolge der bonapartistischen Sache so getreulich auf dem laufenden gehalten, hätte er sich jetzt beeilen müssen, ihn von dem Triumph oder der Niederlage des Prinzen Louis zu benachrichtigen. Die einfachste Vorsicht mußte ihm raten, dem Vater diese Nachricht mitzuteilen. Wenn er schwieg, so bedeutete dies, daß die siegreiche Republik ihn zu dem Thronprätendenten in die Gefängnisse von Vincennes sandte. Felicité fühlte ihr Blut erstarren; das Stillschweigen ihres Sohnes tötete ihre letzte Hoffnungen.
In diesem Augenblicke brachte man die Zeitung; das Blatt war noch ganz feucht.
Wie? rief Peter sehr überrascht; Vuillet hat sein Blatt erscheinen lassen?
Er zerriß die Adreßschleife, las den Leitartikel und beendete ihn, bleich wie sein Hemd und kraftlos in seinem Sessel zurücksinkend.
Da, lies, hauchte er, das Blatte Felicité überreichend.
Es war ein prächtiger Artikel von unerhörter Heftigkeit gegen die Aufständischen; niemals war so viel Galle, so viel Lüge, so viel heuchlerischer Unflat aus einer Feder geflossen. Vuillet begann mit einer Schilderung des Eindringens der Bande in die Stadt Plassans. Die Schilderung war meisterhaft. Man sah darin, wie »diese Banditen, diese Galgengesichter, dieser Abschaum der Galeeren die Stadt überschwemmten, berauscht von Schnaps, Ausschweifungen und Plünderung«; dann zeigte er sie, wie sie »ihre Gemeinheit in den Straßen zur Schau trugen, die Bevölkerung durch ihr wildes Geheul in Schrecken versetzten, nur auf Mord und Notzucht ausgingen«. Dann folgte das schauerliche Drama der Szene im Rathause und der Verhaftung der Behörden. »Sie packten die ehrwürdigsten Männer an der Gurgel und der Bürgermeister, der tapfere Kommandant der Nationalgarde, der Postdirektor, dieser so wohlwollende Beamte: sie wurden wie der Heiland von diesen Elenden mit Dornen gekrönt angespien.« Der Absatz, der Miette und ihren roten Mantel behandelte, war in eine ganz lyrische Stimmung getaucht. Vuillet hatte zehn, zwanzig blutrünstige Dirnen gesehen. »Wer hat nicht unter diesen Ungeheuern infame, rot gekleidete Geschöpfe bemerkt, die sich sicherlich im Blute der Märtyrer gewälzt haben, die von den Räubern und Mördern unterwegs hingeschlachtet worden sind? Sie schwangen Fahnen, sie überließen sich auf offener Straße den scheußlichen Liebkosungen der ganzen Horde.« Und Vuillet fügte mit religiösem Eifer hinzu: »Die Republik findet stets nur bei Mord und Prostitution ihr Gedeihen.« Das war nur der erste Teil des Artikels. Am Schlusse dieser Schilderung fragte der Buchhändler in einem heftigen Aufrufe, ob das Land noch länger »die Schmach dieser wilden Tiere, die weder Leben noch Eigentum schonten«, dulden wolle. Er wandte sich an alle guten Bürger und meinte, eine fernere Duldsamkeit wäre gleichbedeutend mit einer Ermutigung, und die Aufständischen würden dann »die Tochter aus den Armen der Mutter, die Gattin aus den Armen des Gatten reißen«. Zum Schlusse, nach einer frommen Redensart, in der er erklärte, daß Gott die Ausrottung der Bösen wolle, stieß er in die Posaune: »Man sagt, daß diese Elenden