Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
aus der Ferne zu vernehmen geglaubt; es waren aber nur die Messingteller der Barbiere, die im Morgenwinde tanzten. Nach jedem Halt nahmen die Retter von Plassans ihren vorsichtigen Marsch durch die Finsternis wieder auf, immer ihre Haltung wilder Helden beibehaltend. So langten sie auf dem Rathausplatze an. Hier stellten sie sich um Rougon und hielten wieder einmal großen Kriegsrat. Ihnen gegenüber, an der schwarzen Stirnwand des Rathauses war ein einziges Fenster erhellt. Es war nahezu sieben Uhr; der Tag mußte bald anbrechen.
Nach einer Besprechung von zehn Minuten wurde beschlossen, bis zum Tore vorzudringen, um zu sehen, was dieses Dunkel, dieses beunruhigende Schweigen zu bedeuten habe. Das Tor war nur angelehnt. Einer der Verschworenen steckte den Kopf hindurch und zog ihn gleich wieder zurück, indem er meldete, daß unter der Torwölbung ein Mann sei, der mit der Flinte zwischen den Beinen an die Wand gelehnt sitze und schlafe. Als Rougon sah, daß es hier etwas zu erforschen gebe, trat er zuerst ein, bemächtigte sich des Mannes und hielt ihn fest, während Roudier ihn knebelte. Dieser erste Erfolg – in aller Stille errungen – ermutigte seltsam die kleine Truppe, die von einer mörderischen Schießerei geträumt hatte. Rougon mußte gebieterisch abwinken, damit die Freude seiner Soldaten sich nicht gar zu geräuschvoll offenbare.
Auf den Fußspitzen schleichend, drangen sie weiter vor. Sie sahen in der links gelegenen Polizeiwachtstube etwa fünfzehn Männer, die auf einem Feldbette lagen und bei dem verlöschenden Lichte einer an der Wand hängenden Laterne schnarchten. Rougon, der entschieden ein großer General wurde, ließ die Hälfte seiner Leute vor dem Polizeiposten zurück mit der Weisung, die Schläfer nicht zu wecken, aber in Schach zu halten und gefangen zu nehmen, wenn sie sich rühren sollten. Was ihn beunruhigte, war das erleuchtete Fenster, das sie vom Rathausplatze gesehen hatte; er witterte noch immer, daß Macquart mit bei der Geschichte sei, und da er begriff, daß man sich vor allem derer bemächtigen müsse, die oben wachten, zog er es vor, sie zu überrumpeln, ehe das Geräusch des Kampfes zu ihnen drang und sie sich verbarrikadierten. Er stieg sachte die Treppe hinan, gefolgt von den zwanzig Helden, über die er noch verfügte. Roudier befehligte die im Hofe zurückgebliebene Abteilung. In der Tat machte sich Macquart oben, im Arbeitszimmer des Bürgermeisters breit, in dessen Sessel sitzend, die Ellbogen auf dessen Schreibpult gestemmt. Nach dem Abzug der Aufständischen hatte er mit der Vertrauensseligkeit eines Einfaltspinsels, völlig in seiner fixen Idee und in seinem Liebestraum sich wiegend, sich gesagt, daß er der Herr von Plassans sei und daß er daselbst als Sieger auftreten wolle. In seinen Augen war diese Bande von dreitausend Mann, die soeben durch die Stadt gezogen war, eine unbesiegbare Armee, die genügen würde, diese Spießbürger untertänig und seinen Befehlen gefügig zu machen. Die Aufständischen hatten die Gendarmen in ihrer Kaserne eingesperrt; die Nationalgarde war in voller Auflösung, das adelige Viertel mußte vor Angst zittern, die Rentiers der Neustadt hatten gewiß in ihrem ganzen Leben kein Gewehr berührt. Es fehlte übrigens an Waffen, wie es an Soldaten fehlte. Er gebrauchte nicht einmal die Vorsicht, die Tore schließen zu lassen und während seine Leute das Zutrauen so weit trieben, daß sie sich schlafen legten, erwartete er selbst ruhig den Anbruch des Tages, der – wie er glaubte – alle Republikaner der Gegend sich um ihn scharen sehen sollte.
Schon dachte er an große, revolutionäre Maßregeln: es sollte eine Gemeindevertretung gewählt werden, deren Oberhaupt er sein würde; die schlechten Patrioten und besonders die Leute, die ihm mißfielen, sollten eingekerkert werden. Der Gedanke, das die Rougons besiegt seien, der gelbe Salon verödet sei, die ganze Gesellschaft Gnade von ihm erflehen werde, erfüllte ihn mit süßer Freude. Inzwischen wollte er einen Aufruf an die Bewohner von Plassans richten. Ihrer vier machten sich daran, das Schriftstück abzufassen. Als sie damit fertig waren, nahm Macquart in dem Sessel des Bürgermeisters eine würdige Haltung an und ließ sich das Plakat vorlesen, ehe er es in die Buchdruckerei des »Unabhängigen« schicke, auf deren Bürgersinn er rechnete. Einer der Verfasser des Plakats begann mit Begeisterung zu lesen: Bewohner von Plassans! die Stunde der Unabhängigkeit hat geschlagen. Die Herrschaft der Gerechtigkeit ist gekommen ...
Da ward draußen ein Geräusch vernehmbar und die Türe ging langsam auf.
Bist du es, Cassoute? fragte Macquart und unterbrach das Lesen.
Keine Antwort. Die Türe wurde noch weiter geöffnet.
So komm doch herein! rief Macquart Ist mein Bruder, der Räuber, zu Hause?
Da wurden plötzlich beide Flügel der Türe heftig aufgestoßen und eine Schar bewaffneter Männer, in ihrer Mitte Rougon, zornesrot mit aus den Höhlen tretenden Augen, drang in das Zimmer, und diese Männer schwangen ihre Flinten wie Stöcke. Ha, die Hundsfötter haben Waffen! heulte Macquart.
Er wollte ein paar Pistolen ergreifen, die auf dem Schreibpulte lagen; allein schon hatten fünf Männer ihn an der Gurgel gefaßt, daß er sich nicht rühren konnte. Die vier Verfasser des Aufrufes wehrten sich einen Augenblick. Es begann ein Drängen, Stoßen, Stampfen; einzelne fielen mit dumpfem Geräusch zu Boden. Die Kämpfenden waren seltsam behindert durch ihre Flinten, die ihnen zu nichts nütze waren und die sie dennoch nicht lassen wollten. Im Drange des Gefechtes ging die Flinte Rougons, die ein Aufständischer ihm entreißen wollte, von selbst los mit einem schrecklichen Knall, das Zimmer mit Rauch füllend. Die Kugel zerschmetterte einen Spiegel, der vom Kamin bis an die Decke reichte und für einen der schönsten Spiegel der Stadt galt. Dieser Schuß, den sich niemand erklären konnte, verblüffte alle und machte dem Kampfe ein Ende.
Während die Herren sich verschnauften, hörte man im Hofe drei Schüsse. Granoux eilte zu einem der Fenster des Zimmers. Die Gesichter wurden länger, und alle harrten ängstlich, was da kommen werde, wenig entzückt von der Aussicht, den Kampf mit den Polizeileuten aufnehmen zu müssen, die sie in ihrem Siegesrausche vergessen hatten. Doch Roudier rief ihnen hinauf, daß alles gut gehe. Tatsache war, daß der Schuß aus der Flinte Rougons die Schläfer geweckt hatte; sie hatten sich ergeben, da sie sahen, daß jeder Widerstand unmöglich sei. Nur hatten in der blinden Hast und weil sie die Sache los haben wollten, drei Leute Roudiers ihre Flinten in die Luft abgeschossen, gleichsam als Antwort auf den Schuß von oben, wenngleich sie nicht recht wußten, was sie taten. Es gibt eben Augenblicke, wo die Flinten in den Händen der Feiglinge von selbst losgehen.
Mittlerweile ließ Rougon mittels der Schnüre der grünen Vorhänge des Zimmers Macquart fesseln. Dieser hätte weinen mögen vor Wut, tat aber sehr keck und zuversichtlich.
Nur zu, schon recht! sagte er. Heute abend oder morgen, wenn die anderen wiederkommen, werden wir unsere Rechnung begleichen.
Bei dieser Anspielung auf die Bande der Aufständischen überlief die Sieger eine Gänsehaut. Im besonderen fühlte Rougon, daß sich ihm die Kehle zusammenschnürte. Sein Bruder, der wütend darüber war, wie ein Kind überrumpelt zu werden von diesen schreckensbleichen Spießbürgern, die er, der ehemalige Soldat, als verächtliche Hasenfüße behandelte – sein Bruder also betrachtete ihn mit von Trotz und Haß leuchtenden Augen.
Oh, ich weiß schöne Geschichten, fuhr er fort, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Schickt mich nur auf die Anklagebank; da will ich den Richtern lustige Dinge erzählen.
Rougon wurde bleich. Er hatte eine höllische Angst, daß Macquart reden und ihn um die Achtung der Herren bringen könne, die ihm soeben Plassans hatten retten helfen. Diese hatten sich übrigens, völlig verblüfft von der dramatischen Begegnung der beiden Brüder, in einen Winkel des Kabinetts zurückgezogen, als sie sahen, daß eine stürmische Auseinandersetzung stattfinden werde. Rougon faßte einen heldenmütigen Entschluß. Er näherte sich der Gruppe und sagte in einem ruhigen Tone:
Wir werden den Mann hier behalten. Wenn er über seine Lage nachgedacht hat, kann er uns nützliche Aufschlüsse geben.
Dann fügte er in einem noch würdigeren Tone hinzu:
Ich werde meine Pflicht erfüllen, meine Herren. Ich habe geschworen, die Stadt vor Mord und Brand zu retten, und ich werde sie retten, selbst wenn ich der Henker meines nächsten Anverwandten werden müßte.
Man glaubte einen alten Römer zu hören, der seine Familie auf dem Altar des Vaterlandes opfert. Granoux war sehr gerührt und drückte ihm die Hand mit einer trübseligen Miene, die besagen wollte: »Ich begreife Sie; Sie sind erhaben.« Er erwies ihm dann den Dienst, alle