Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola

Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen - Emile Zola


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Todesgedanken waren jetzt weit von ihm. Er wollte sich schlagen, wenigstens sein Leben teuer verkaufen. Von neuem betäubte ihn der Gedanke an den Kampf. Er träumte vom Siege, von einem glücklichen Leben mit Miette im großen Frieden der allgemeinen Republik.

      Dieser brüderliche Empfang seitens der Bewohner von Orcheres war die letzte Freude der Aufständischen. Sie verbrachten den Tag in strahlender Zuversicht und in grenzenloser Hoffnung. Die Gefangenen, der Major Sicardot, die Herren Garçonnet, Peirotte und die anderen, die man in einem Zimmer des Rathauses eingesperrt hatte, dessen Fenster auf den Hauptplatz gingen, sahen mit Überraschung und Schrecken diese ausgelassenen Tänze und diese Stürme von Begeisterung, die an ihnen vorüberzogen.

      Welch ein Lumpenpack! brummte der Major, der sich an das Gesims eines Fensters lehnte, wie an die samtbekleidete Brüstung einer Theaterloge. Hätte ich doch nur zwei Batterien zu befehligen; wie wollte ich dieses ganze Gesindel hinwegfegen!

      Als er Miette bemerkte, fügte er, zu Herrn Garçonnet gewendet, hinzu:

      Schauen Sie nur jenes große, rote Mädchen, Herr Bürgermeister! Es ist fürwahr eine Schmach, daß sie sogar ihre Dirnen mitführen. Wenn das noch lange währt, werden wir schöne Dinge zu sehen bekommen.

      Herr Garçonnet nickte mit dem Kopfe und sprach von den »entfesselten Leidenschaften« und von den »schlimmsten Tagen unserer Geschichte«. Herr Peirotte war bleich wie sein Hemd und schwieg. Nur einmal tat er den Mund auf, um zu Herrn Sicardot, der wieder mit lauter Stimme schimpfte, zu sagen:

      Leiser, leiser, mein Herr! Sie werden es so arg treiben, daß wir alle niedergemetzelt werden.

      In Wahrheit behandelten die Aufständischen ihre Gefangenen mit größter Milde. Sie ließen ihnen sogar am Abend eine vortreffliche Mahlzeit vorsetzen. Aber für Feiglinge vom Schlage des Herrn Einnehmers waren solche Aufmerksamkeiten nur um so schrecklicher; die Aufständischen – so behauptete er – behandelten ihre Gefangenen nur deshalb so gut, damit sie desto fetter und zarter seien an dem Tage, wo sie diese fressen würden.

      Als der Abend dämmerte, sah sich Silvère seinem Vetter, dem Doktor Pascal gegenüber. Der Gelehrte war der Bande zu Fuße gefolgt, mit den Arbeitern plaudernd, die ihn verehrten. Anfänglich hatte er sich bemüht, sie von dem Kampfe abzubringen; dann, gleichsam durch ihre Reden gewonnen, hatte er ihnen mit einem gleichmütig wohlwollenden Lächeln gesagt:

      Ihr habt vielleicht recht; schlaget euch nur; ich bin ja da, um euch die Arme und Beine wieder zusammenzuflicken.

      Er hatte am Morgen ganz ruhig begonnen, längs des Weges Steine und Pflanzen zu sammeln. Er war trostlos, weil er seinen Geologenhammer und seine Botanisierbüchse nicht mitgenommen hatte. Um diese Zeit waren seine Taschen zum Reißen voll von Steinen und aus seiner Ledermappe, die er unter dem Arme trug, hingen ganze Büschel langer Gräser heraus.

      Schau, bist du's, mein Junge? rief er, als er Silvère gewahrte. Ich glaubte hier der einzige von der Familie zu sein.

      Er sprach die letzteren Worte mit leisem Spott über das Benehmen seines Vaters und des Onkels Antoine. Silvère war glücklich, seinen Vetter zu treffen. Der Doktor war der einzige Rougon, der ihm die Hand drückte, wenn er ihn auf der Straße traf, und ihm eine aufrichtige Freundschaft bewies. Als Silvère ihn noch mit dem Straßenstaube bedeckt sah, bekundete er eine lebhafte Freude, weil er ihn für die republikanische Sache gewonnen glaubte. Er sprach zu ihm von den Rechten des Volkes, von dessen heiliger Sache, von dem sicheren Sieg mit jugendlicher Begeisterung. Pascal hörte ihn lächelnd an; neugierig beobachtete er seine Gebärden, das lebendige Spiel seiner Züge, als habe er diese Begeisterung zerlegen können, um zu sehen, was auf dem Grunde dieses edelmütigen Eifers sei.

      Wie du sprudelst, wie du dich ereiferst! Man sieht, du bist der Enkel deiner Großmutter!

       Mit leiser Stimme setzte er hinzu im Tone eines Chemikers, der sich Notizen macht:

      Hysterie oder Begeisterung; schmähliche Narrheit oder erhabene Narrheit. Immer diese teuflischen Nerven.

      Dann schloß er gleichsam seinen Gedankengang und sagte laut:

      Die Familie ist vollständig: sie wird auch ihren Helden haben.

      Silvère hatte nichts gehört. Er fuhr fort, von seiner teuren Republik zu sprechen. Einige Schritte weiter war Miette stehen geblieben; sie trug noch immer ihren roten Mantel und verließ Silvère nicht mehr. Arm in Arm hatten sie den ganzen Tag die Stadt durchstreift. Dieses große, rote Mädchen zog schließlich das Interesse Pascals auf sich; er unterbrach plötzlich den Redefluß seines Vetters und fragte:

      Wer ist dieses Kind, das bei dir ist?

      Das ist mein Weib, erwiderte Silvère ernst.

      Der Doktor machte große Augen. Er verstand nicht, was jener gesagt hatte. Da er den Frauen gegenüber sehr schüchtern war, zog er vor Miette tief den Hut und ging.

      Die Nacht gestaltete sich unruhig. Ein Unglückswind jagte über die Aufständischen hinweg. Die Begeisterung und die Zuversicht von gestern schienen mit dem Dunkel der Nacht zerstoben. Am Morgen sah man düstere Mienen, traurige Blicke wurden ausgetauscht, lange Pausen der Mutlosigkeit traten ein. Schreckliche Gerüchte waren in Umlauf. Die schlimmen Nachrichten, welche die Anführer seit gestern geheimzuhalten vermochten, hatten sich verbreitet, ohne daß jemand gesprochen hätte, zugeflüstert durch jenen unsichtbaren Mund, der mit einem Atemzug den Schrecken unter die Menge wirft. Es wurden Stimmen laut, die behaupteten, Paris sei bezwungen, die Provinz habe sich auf Gnade und Ungnade unterworfen; diese Stimmen fügten hinzu, daß zahlreiche Truppen, die unter den Befehlen der Obersten Masson und Blériot von Marseille aufgebrochen waren, heranrückten, um die Aufständischen zu vernichten. Das war ein Zusammenbruch, ein Erwachen voll Zorn und Verzweiflung. Diese Männer, gestern noch in einem patriotischem Fieber glühend, erbebten jetzt in der großen Kälte, welche die schmachvolle Unterwerfung des Lanües verbreitete. So besaßen denn sie allein den Heldenmut der Pflicht. Sie waren jetzt verloren inmitten des Entsetzens aller, in der Totenstille ringsumher; sie wurden zu Aufrührern und sollten gleich wilden Tieren mit Kolbenstößen verjagt werden. Sie hatten von einem großen Kriege geträumt, von der Erhebung eines ganzen Volkes, von einem siegreichen Eroberungszuge des Rechtes. Jetzt, inmitten einer solchen Verlassenheit, einer solchen Auflösung beweinte dieses Häuflein Menschen seinen erstorbenen Glauben, seinen zerflatterten Traum von Gerechtigkeit. Es waren Leute in der Truppe, die unter Verwünschungen gegen das feige Frankreich ihre Waffen wegwarfen und am Rande der Straße sich hinsetzten mit der Erklärung, daß sie da die Kugeln des Feindes abwarten wollten, um zu zeigen, wie Republikaner sterben.

      Obgleich diese Männer nur zwischen Verbannung und Tod die Wahl hatten, fanden sich nur wenige Fahnenflüchtige unter ihnen. Eine bewunderungswürdige Eintracht verband diese Horden. Der Ingrimm kehrte sich gegen die Anführer. Diese waren in der Tat unfähig. Unverbesserliche Fehler waren begangen worden; und die verlassenen, disziplinlosen Aufständischen, kaum durch einige Schildwachen geschützt, unter den Befehlen einiger unentschlossener Männer stehend, sahen sich jetzt den erstbesten Truppen, die sich zeigen würden, ausgeliefert.

      Sie verweilten noch zwei Tage in Orchères, am Dienstag und Mittwoch, verloren so zwei Tage und erschwerten noch ihre Lage. Der General, der Mann mit dem Säbel, den Silvère seiner Freundin Miette auf der Straße nach Plassans gezeigt hatte, zögerte, gebeugt unter der Wucht der auf ihm lastenden furchtbaren Verantwortung. Am Donnerstag fand er, daß die Stellung in Orchères gefahrvoll sei. Gegen ein Uhr gab er den Befehl zum Aufbruch und führte seine kleine Schar auf die Höhen von Sainte-Roure. Es war dies übrigens eine uneinnehmbare Stellung für jemanden, der sie zu verteidigen wußte. Die Häuser von Sainte-Roure sind am Abhang eines Hügels erbaut; hinter der Stadt ist der Gesichtskreis von ungeheuren Felsblöcken abgeschlossen. Diese Art Hochburg ist nur von der Ebene von Nores aus zu ersteigen, die sich am Fuße des Plateaus ausbreitet. Ein Vorplatz, wo man einen mit herrlichen Ulmen bepflanzten Spazierweg angelegt hatte, beherrscht die Ebene. Auf diesem Vorplatz lagerten die Aufständischen. Die Geiseln sperrte man in dem Gasthofe »Zum weißen Maultier« ein, der mitten auf dem Vorplatz lag. Die Nacht war finster und beklemmend. Man sprach von Verrat. Der Mann mit dem Säbel, der die einfachsten Vorsichtsmaßnahmen verabsäumt hatte, hielt am frühen Morgen eine


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