Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola

Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen - Emile Zola


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schien der alte Kirchhof zu weinen. Diese Gräber, die in den heißen Nächten ihnen die Füße banden, daß sie nur wankend gehen konnten: es waren lange, schmale Finger, die aus dem Erdreich nach ihnen langten, um sie festzuhalten, um sie einander in die Arme zu werfen. Dieser scharfe, durchdringende Geruch, den die zertretenen und gebrochenen Stengel aushauchten: es war der befruchtende Geruch, der mächtige Saft des Lebens, den allmählich die Gräber ausschwitzen und in den Verliebten, die auf den einsamen Pfaden wandeln, betäubende Begierden wachrufen. Die Toten, die alten Toten, heischten die bräutliche Vereinigung von Miette und Silvère.

       Niemals wurden die Kinder von Furcht ergriffen. Es rührte sie die Zärtlichkeit, die sie in der Luft schweben fühlten; sie gewannen die unsichtbaren Wesen lieb, deren Berührung sie gleich einem leichten Flügelschlag oft zu fühlen glaubten. Sie wurden nur manchmal von einer milden Traurigkeit ergriffen und begriffen nicht, was die Toten von ihnen wollten. Sie fuhren fort, ihrer unschuldsvollen Liebe zu leben, inmitten dieses Überquellens der Säfte, in diesem Winkel eines aufgelassenen Kirchhofes, wo das von Leichen gesättigte Erdreich Leben ausschwitzte, und der gebieterisch ihre Verbindung heischte. Die summenden Stimmen, die in ihren Ohren klangen, die plötzlichen Anflüge von Hitze, die über ihr Antlitz huschten: sie kündeten ihnen nichts Bestimmtes. Es gab Tage, an denen der Schrei der Toten so laut wurde, daß Miette, die fiebernd, erschöpft auf dem Grabstein lehnte, mit ihren in Tränen schwimmenden Augen Silvère anblickte wie um ihn zu fragen: »Was wollen sie denn? Warum blasen sie Flammen in meine Adern?« Und Silvère, der selbst gebrochen, außer sich war, wagte nicht zu antworten, wagte nicht die flammenden Worte zu wiederholen, die er in der Luft zu vernehmen glaubte, die unsinnigen Ratschläge, die die hohen Gräser, die Flüsterstimmen des ganzen Weges, diese schlecht geschlossenen Gräber ihm gaben, die sich gleichsam als Lagerstätte anboten für die junge Liebe dieser Kinder.

      Oft befragten sie sich über die Gebeine, die sie entdeckten. Miette mit ihrem weiblichen Instinkte sprach gern von traurigen Gegenständen. Bei jedem neuen Funde gab es ein Raten ohne Ende. War es ein kleiner Knochen, dann sprach Miette von einem jungen Mädchen, das brustkrank gewesen, oder am Vorabende seiner Hochzeit von einem Fieber hinweggerafft worden; war es ein großer Knochen, dann träumte sie von einem hochgewachsenen Greise, einem Soldaten, einem Richter, irgendeinem furchtbaren Manne. Besonders der Grabstein beschäftigte sie lange. An einem schönen, mondhellen Abende entdeckte Miette auf einer der Flächen halb verwitterte Schriftzeichen. Silvere mußte mit seinem Messer das Moos wegkratzen. Und nun lasen sie die verstümmelte Inschrift: » Hier liegt ... Marie ... gestorben ...« Miette war ganz betroffen, als sie ihren Namen auf dem Grabsteine fand. Silvère schalt sie eine alberne Grete, aber sie vermochte ihre Tränen nicht zurückzuhalten. Sie sagte, sie habe es wie einen Stoß in die Brust empfunden, daß sie bald sterben werde und daß der Grabstein für sie sei. Jetzt fühlte der Bursche sein Blut erstarren; aber es gelang ihm dennoch, dem Kinde so weit Vernunft einzureden, daß es sich schämte. Was? Sie, die so mutig war, konnte solche Kindereien träumen? Und schließlich lachten sie. Dann redeten sie nicht mehr von diesem Gegenstande. Aber in den Stunden der Schwermut, wenn unter dem umwölkten Himmel der Weg traurig dalag, konnte Miette nicht umhin, diese Tote zu nennen, diese unbekannte Marie, deren Grab so lange ihre Zusammenkünfte begünstigt hatte. Vielleicht lagen noch die Gebeine des armen Mädchens da. Eines Abends hatte sie die seltsame Laune, zu verlangen, daß Silvère den Grabstein umwende, damit sie sehen können, was darunter sei. Er weigerte sich, als sei es eine Heiligtumsschändung, was sie verlange, und diese Weigerung nährte nur die Träume Miettens über dieses teure Gespenst, das ihren Namen trug. Sie behauptete durchaus, daß jene in ihrem Alter, mit dreizehn Jahren, mitten in ihrer Liebe, gestorben sei. Sie bedauerte selbst den Grabstein, diesen Stein, auf den sie so hurtig herabstieg, auf dem sie so oft gesessen, diesen Stein, den der Tod eiskalt gemacht, und den sie mit ihrer Liebe wieder erwärmt hatten. Sie fügte hinzu; Du wirst sehen, das wird uns Unglück bringen. Wenn du stürbest, möchte ich, daß ich hier stürbe und man diesen Stein über mich wälze.

      Silvère war beklommen bei solchen Reden und schalt sie aus, weil sie an so traurige Dinge dachte.

      So liebten sie sich fast zwei Jahre lang auf dem engen Wege und in der weiten Landschaft. Ihre Liebe überdauerte die eisig kalten Niederschläge des Dezember und die glühenden Aufregungen des Juli, ohne zur Schmach der gemeinen Liebschaften herabzusinken; sie bewahrte den köstlichen Reiz einer griechischen Schäferidylle, ihre flammende Reinheit, alle die kindlichen Wahnvorstellungen des Fleisches, das begehrt und unwissend ist. Selbst die alten Toten flüsterten ihnen vergeblich zu. So nahmen sie aus dem alten Friedhofe nichts mit als eine rührende Schwermut, das unbestimmte Vorgefühl eines kurzen Lebens; eine geheime Stimme sagte ihnen, daß sie von hinnen scheiden würden mit ihrer jungfräulichen Liebe vor ihrer bräutlichen Vereinigung an dem Tage, an dem sie sich einander würden geben wollen. Ohne Zweifel hatten sie hier, auf diesem Grabstein inmitten der Gebeine, die in den fetten Gräsern umherlagen, jene Liebe zum Tode eingesogen, jenes gierige Verlangen, zusammen in der Erde zu liegen, das sich auf ihre stammelnden Lippen drängte am Rande der Straße nach Orcheres, in dieser Dezembernacht, während die zwei Kirchturmglocken sich ihr klagendes Gewimmer zusandten.

      Miette schlief ruhig, das Haupt an die Brust Silvères gelehnt, während dieser der fernen Zusammenkünfte gedachte, der schönen Jahre beständigen Zaubers. Bei Tagesanbruch erwachte das Kind. Vor ihnen dehnte das helle Tal unter dem winterlichen Himmel sich dahin. Die Sonne war noch hinter den Bergen. Eine kristallreine Helle, durchsichtig und eisig wie Quellwasser, floß von dem bleichen Gesichtskreise hernieder. In der Ferne verlor sich die Viorne, einem Bande von weißem Satin gleichend, zwischen den roten und gelben Feldern. Es war eine schier grenzenlose Weite; graue Meere von Olivenpflanzungen, Weingärten, die breiten, gestreiften Stoffen glichen, eine ganze Landschaft, noch vergrößert durch die Klarheit der Luft und die winterliche Ruhe. Der Wind, der in kurzen Stößen dahinfegte, hatte die Gesichter der Kinder schier zu Eis erstarren lassen. Sie erhoben sich jetzt munter, des hellen Morgens sich freuend. Da mit der Nacht auch ihre Traurigkeit und ihr Schrecken geschwunden waren, betrachteten sie entzückten Auges den ungeheuren Kreis der Ebene und lauschten dem Gebimmel der beiden Glocken, das ihnen jetzt das fröhliche Frühläuten eines Festtages schien.

      Ach, wie gut habe ich geschlafen! rief Miette. Ich habe geträumt, daß du mich küßtest. Hast du mich geküßt, sprich?

      Es kann schon sein, erwiderte Silvère lachend. Mir war auch nicht warm; denn es ist eine wahre Hundekälte.

      Mir ist nur in den Füßen kalt.

      Nun denn, laß uns laufen... Wir haben reichlich zwei Meilen zu gehen. Dabei wird dir warm werden.

      Sie stiegen den Abhang hinab und erreichten laufend die Straße. Als sie unten waren, erhoben sie den Kopf, wie um dem Felsen Lebewohl zu sagen, wo sie unter Tränen glühende Küsse gewechselt hatten. Aber sie sprachen nicht von dieser flammenden Liebkosung, die in ihrer Liebe ein neues, unbestimmtes Bedürfnis entstehen ließ, von welchem sie sich keine Rechenschaft geben konnten. Sie faßten einander nicht mehr am Arme, unter dem Vorwande, daß sie so schneller gehen könnten. Sie marschierten munter fort, ein wenig verlegen, ohne zu wissen warum, wenn sie sich von Zeit zu Zeit anblickten. Inzwischen war der Tag immer heller rings um sie her. Der junge Bursche, der im Auftrage seines Meisters häufig den Weg nach Orchères zu machen hatte, kannte die besten und kürzesten Seitenpfade. So legten sie mehr als zwei Meilen zurück, auf Hohlwegen, vorbei an Hecken und endlosen Mauern. Miette beschuldigte Silvère, sie irregeführt zu haben. Oft sahen sie viertelstundenlang nichts von der Landschaft; sie bemerkten nur über die Mauern und Hecken hinausragende Mandelbaumreihen, deren dürren Äste sich von dem bleichen Morgenhimmel abhoben.

      Plötzlich standen sie vor Orchères. Lautes Freudengeschrei, das Getöse der Menge drang durch die klare Morgenluft zu ihnen. Die Bande der Aufrührer war eben in die Stadt eingezogen. Miette und Silvère betraten sie mit den letzten Nachzüglern. Niemals hatten sie eine solche Begeisterung gesehen. In den Straßen sah es aus wie an Prozessionstagen, wenn zu Ehren des unter dem Baldachin vorüberziehenden Allerheiligsten alle Fenster sich mit kostbaren Stoffen schmücken. Man feierte die Aufrührer als Befreier. Die Männer umarmten sie, die Frauen trugen Mundvorräte herbei. Auf den Türschwellen standen Greise, die vor Rührung weinten. Die südliche Lebhaftigkeit äußerte sich in geräuschvoller Weise, singend, tanzend, gestikulierend.


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