Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
trat sie schon beiseite, um sich zu entkleiden; sie verbarg sich. Einmal im Wasser verhielt sie sich schweigsam; sie wollte nicht mehr dulden, daß Silvère sie berühre; sie schlüpfte sachte an seine Seite und schwamm mit dem leisen Geräusch eines Vogels, der durch ein Dickicht fliegt; oder auch sie umkreiste ihn, von einer unbestimmten Furcht ergriffen, die sie sich nicht erklären konnte. Er selbst entfernte sich, wenn er an eines ihrer Glieder streifte. In dem Flusse fanden sie jetzt nur mehr einen ermattenden Taumel, ein wollüstiges Einlullen, das sie in eine seltsame Verwirrung versetzte. Besonders wenn sie aus dem Bade stiegen, hatten sie ein Gefühl der Schläfrigkeit, der Blendung. Sie waren gleichsam erschöpft. Miette brauchte eine volle Stunde, um sich anzukleiden. Zuerst warf sie nur ihr Hemd über und einen Rock; dann blieb sie da, im Grase ausgestreckt, über Müdigkeit klagend und Silvère rufend, der einige Schritte weiterhin stand, mit leerem Schädel und mit einer seltsamen, aufregenden Mattigkeit in den Gliedern. Auf dem Heimwege war dann ihre Umarmung feuriger, sie fühlten durch ihre Gewandung deutlicher ihren infolge des Bades geschmeidiger gewordenen Körper; sie blieben stehen von Zeit zu Zeit und stießen schwere Seufzer aus. Der riesige Haarknäuel Miettens, ihr Nacken, ihre Schultern hatten einen Geruch der Frische, einen Duft der Reinheit, der den jungen Mann vollends betäubte. Zum Glück erklärte das Mädchen eines Abends, daß es keine Bäder mehr nehmen werde, daß das kalte Wasser ihr das Blut zu Kopfe treibe. Ohne Zweifel gab sie diesen Grund in aller Wahrheit und Unschuld an.
Sie nahmen ihre langen Gespräche wieder auf. Von der Gefahr, die ihrer unschuldigen Liebe gedroht, war im Geiste Silvères nichts als eine große Bewunderung für die körperliche Kraft Miettens zurückgeblieben. In zwei Wochen hatte sie schwimmen gelernt und oft, wenn sie um die Wette schwammen, hatte er sie den Fluß mit ebenso kräftigen Armen teilen sehen, wie er selbst. Er, der die Kraft und die körperlichen Übungen liebte, war gerührt, wenn er sie so stark und so geschickt sah. In seinem Herzen erstand eine seltsame Achtung für ihre starken Arme. Eines Abends, nach einem der ersten Bäder, bei denen sie noch so lustig waren, hatten sie sich um den Leib gefaßt und auf einem schmalen Sandstreifen minutenlang gerungen, ohne daß es Silvère gelungen wäre, Miette zu Boden zu werfen; schließlich verlor er selbst das Gleichgewicht, fiel um und das Mädchen blieb aufrecht. Ihr Freund behandelte sie fortab wie einen Jungen und eben die langen Märsche, das tolle Jagen durch die Wiesen, das Nesterausheben auf den hohen Bäumen, ihre Kämpfe, ihre ungestümen Spiele beschützten sie so lange und hinderten sie, ihre junge Liebe zu beflecken. Nebst der Bewunderung für die Kraft und Behendigkeit seiner Freundin mischte in die Liebe des jungen Burschen sich auch noch sein Erbarmen für die Unglücklichen. Er, der keinen Verlassenen, keinen Armen, kein barfüßiges Kind im Straßenstaub sehen konnte, ohne daß das Erbarmen ihm den Atem raubte, er liebte Miette, weil niemand sie liebte, weil sie das harte Dasein eines Paria führte. Wenn ei sie lachen hörte, war er tief bewegt von dieser Freude, die er ihr verschaffte. Und dann war das Mädchen eine Wilde wie er selbst ein Wilder; sie fanden sich auch in dem gemeinsamen Hasse gegen die Klatschbasen der Vorstadt. Der Traum, den er tagsüber träumte, während er bei seinem Meister mit kräftigen Hammerschlägen die Räder bereifte – dieser Traum war voll edelmütiger Torheiten. Er dachte an Miette als Erlöser. Alles, was er gelesen hatte, stieg ihm dann zu Kopfe; er wollte eines Tages seine Freundin zu seiner Frau machen, um sie in den Augen der Welt zu erheben; er legte sich den heiligen Beruf bei, die Tochter des Sträflings zu retten, der Welt und dem Heil wiederzugeben. Er hatte den Kopf dermaßen voll mit gewissen Reden, daß er sich nicht damit begnügte, sich diese Dinge einfach vorzunehmen; er verlor sich in einem gewissen sozialen Mystizismus; er ersann eine wahre Verherrlichung, mit der das Kind der Welt wiedergegeben werden sollte; er sah im Geiste Miette auf einem am Ende der Promenade Sauvaire errichteten Throne sitzen; und die ganze Stadt verneigte sich vor ihr, bat sie um Verzeihung und sang Loblieder auf sie. Glücklicherweise vergaß er alle diese schönen Dinge wieder, sobald Miette von ihrer Mauer herabsprang und ihm auf der Heerstraße sagte:
Laß uns laufen, willst du? Ich wette, daß du mich nicht fängst.
Doch wenn der Jüngling am hellen Tage von der Verherrlichung seiner Freundin träumte, so hatte er anderseits ein so tiefes Bedürfnis nach Gerechtigkeit, daß er dem Kinde oft Tränen erpreßte, wenn er ihr von ihrem Vater sprach. Trotz der tiefen Zärtlichkeit, die die Freundschaft Silvères in ihr Herz gepflanzt, erwachten in ihr doch von Zeit zu Zeit plötzlich die alten bösen Triebe; ihre ganze heftige Natur lehnte sich auf, sie kniff die Lippen zusammen, und es erschien der harte Blick in ihren Augen wieder. Sie behauptete dann, ihr Vater habe recht getan, den Gendarm zu töten; die Erde gehöre aller Welt und man habe das Recht zu schießen, wo und wann man wolle. Silvère erklärte ihr mit ernster Stimme das Gesetz, so wie er es verstand, und mit Auslegungen, die in ihrer Seltsamkeit bei allen Richtern von Plassans ein sehr bedenkliches Kopfschütteln hervorgebracht hätten. Diese Gespräche fanden zumeist in irgendeinem verlornen Winkel der Sainte-Claire-Wiese statt. Der dunkelgrüne Rasen dehnte sich dahin, soweit das Auge reichte und kein einziger Baum war da, der einen Fleck auf dieser endlosen Fläche gebildet hätte; und der Himmel schien unermeßlich, mit seinen Sternen die nackte Rundung des Gesichtskreises füllend. Die Kinder wurden gleichsam gewiegt in diesem Meer von Grün. Miette kämpfte lange gegen Silvères Ansichten; sie fragte diesen, ob es besser gewesen wäre, wenn ihr Vater sich hätte von dem Gendarmen umbringen lassen und Silvère schwieg einen Augenblick; dann erklärte er, daß es in einem solchen Falle besser sei, das Opfer zu sein als der Mörder, und daß es immer ein großes Unglück sei, wenn man seinen Nebenmenschen töte und sei es auch im Stande berechtigter Notwehr. Ihm war das Gesetz eine heilige Sache; die Richter hatten recht, als sie Chantegreil auf die Galeeren schickten. Darob ergrimmte das Mädchen; sie hätte ihren Freund prügeln mögen und rief ihm zu, er habe ein ebenso böses Herz wie die anderen. Als er fortfuhr, seine Gedanken über die Gerechtigkeit standhaft zu verteidigen, brach sie schließlich in Tränen aus und stammelte, daß er ohne Zweifel sieh ihrer schäme, da er sie immer wieder an das Verbrechen ihres Vaters erinnere. So endigten diese Erörterungen in einem Strom von Tränen, in gemeinsamer Aufregung. Doch wenn das Kind auch weinte, wenn sie auch anerkannte, daß sie vielleicht unrecht habe, bewahrte sie im Innern doch ihre Wildheit, ihre leichte Erregbarkeit. Einmal erzählte sie laut lachend, wie ein Gendarm in ihrer Gegenwart vom Pferde gefallen sei und ein Bein gebrochen habe. Übrigens lebte Miette nur mehr für Silvère. Wenn dieser sie über ihren Oheim und ihren Vetter befragte, antwortete sie, »daß sie nichts wisse«; und wenn er in sie drang aus Besorgnis, daß man sie im Jas-Meiffren vielleicht zu sehr quäle, sagte sie, daß sie viel arbeite und sich nichts geändert habe. Doch glaubte sie, daß Justin schließlich dennoch erfahren habe, weshalb sie jeden Morgen so lustig sei und was den Ausdruck ihrer Augen so sehr gemildert habe. Doch sie fügte hinzu:
Was tut's? Wenn er uns jemals stören wollte, werden wir ihm einen Empfang bereiten, daß ihm die Lust vergehen soll, sich wieder in unsere Angelegenheiten einzumengen.
Indes wurden sie durch die langen Märsche im Freien oft ermüdet. Sie kehrten dann immer wieder nach dem Saint-Mittre-Felde zurück, in dem engen Weg, aus dem sie durch die geräuschvollen Sommerabende, durch die allzu starken Gerüche der Gräser, durch die heißen, sinnverwirrenden Ausströmungen verjagt worden waren. Aber an manchen Abenden war der Aufenthalt auf dem Wege lieblicher; es strich ein erfrischender Wind hindurch; sie konnten da bleiben, ohne einen Taumel zu empfinden. Sie genossen dann eine köstliche Erholung. Auf dem Grabstein sitzend, die Ohren geschlossen für das Getümmel der Kinder und der Zigeuner, fühlten sie sich da wieder heimisch. Silvère hatte wiederholt Knochenreste, Bruchstücke von Schädeln gesammelt, und sie gefielen sich jetzt darin, von dem alten Kirchhofe zu sprechen. Mit ihrer regen Einbildungskraft sagten sie sich im stillen, daß ihre Liebe wie eine kräftige, fette Pflanze in diesem vom Tode befruchteten Boden gediehen sei. Sie war aufgeschossen wie diese wilden Gräser; sie war aufgeblüht wie die Klatschrosen, die der leiseste Wind auf ihren Stengeln bewegt und die offenen, blutenden Herzen glichen. Und sie erklärten sich die lauen Ausströmungen, die über ihre Stirnen hinwegzogen, das Geflüster, das sie im Schatten hörten, das anhaltende Frösteln, in welchem der Weg erbebte. Es waren die Toten, die ihnen ihre zerstobenen Leidenschaften ins Gesicht hauchten, ihnen ihre Brautnacht erzählten und sich im Grabe umwandten, gepackt von einer wilden Begierde zu lieben, die Liebe von neuem zu beginnen. Diese Gebeine – das fühlten sie wohl – waren voll Zärtlichkeit für sie; die geborstenen Schädel erhitzten sich von neuem an den