Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
in Verbindung zu bringen. Er glaubte so die Art und Weise zu lernen, wie er gut und liebevoll zu ihr sein müsse, wenn sie einmal Mann und Weib wären. So mengte er sie in seine Träumereien. Durch diese reine Liebe gefeit gegen die unflätigen Darstellungen gewisser Geschichten aus dem vorigen Jahrhundert, die ihm in die Hände kamen, gefiel er sich hauptsächlich darin, sich mit ihr in jene menschenfreundlichen Träume zu versenken, die manche große Geister unserer Tage, für den Wahn des allgemeinen Glückes schwärmend, geträumt haben. In seinen Vorstellungen war Miette notwendig zur Abschaffung der allgemeinen Verarmung und zum endgültigen Siege der Revolution. Die Nächte vergingen mit fieberhaftem Lesen, während dessen sein angespannter Geist sich von dem Bande nicht losmachen konnte, den er zwanzigmal weglegte und wieder an sich nahm; es waren Nächte voll wollüstiger Aufregung, die er bis zum dämmernden Morgen genoß wie einen verbotenen Rausch, körperlich eingeschlossen zwischen den Mauern dieses engen Kämmerchens, der Blick getrübt durch die gelbe, schwache Flamme der Lampe, sich freudig dem Unbehagen der Schlaflosigkeit aussetzend, Entwürfe einer neuen Gesellschaftsordnung schmiedend, die unsinnig waren in ihrer Großmut – Entwürfe, in denen das Weib immer mit den Zügen Miettens von allen Nationen auf den Knien angebetet wurde. Durch gewisse ererbte Einflüsse war er vorzugsweise veranlagt zu solchen Schwärmereien, die nervösen Störungen seiner Großmutter wurden bei ihm zu steter Begeisterung für alles Großartige und Unmögliche. Seine einsame Kindheit, seine Halbbildung hatten die Neigungen seiner Natur seltsam entwickelt. Aber er war noch nicht in dem Alter, wo die fixe Idee ihren Nagel in das Gehirn eines Menschen treibt. Wenn er am Morgen seinen Kopf mit einem Kübel Wasser abgekühlt hatte, erinnerte er sich nur mehr verworren der Gespenster seiner schlaflosen Nacht und bewahrte von diesen Träumen nur eine gewisse Scheu voll einfachen Glaubens und unaussprechlicher Liebe. Er ward wieder zum Kinde und lief zum Brunnen mit dem einzigen Verlangen, das Lächeln seines Schatzes wiederzufinden, die Freuden des strahlenden Morgens wieder zu genießen. Und wenn im Laufe des Tages Gedanken an die Zukunft ihn träumerisch machten oder plötzliche Regungen ihm dazu drängten, küßte er die Tante Dide auf beide Wangen, die ihm dann in die Augen blickte mit einer gewissen Unruhe darüber, daß sie diese so hell und so tief sah in einer Freude, die sie zu erkennen glaubte.
Indes begannen Silvère und Miette es müde zu werden, sich bloß in ihrem Schatten zu sehen. Ihr Spielzeug war abgenützt; sie träumten von lebendigeren Freuden, als der Brunnen ihnen zu bieten vermochte. In diesem Bedürfnis nach Wirklichkeit, das sie ergriff, hätten sie einander von Angesicht zu Angesicht sehen, in den Feldern herumlaufen, von da atemlos heimkehren mögen, einander fest umschlingend, damit sie ihre Freundschaft besser fühlten. Silvère sprach eines Morgens davon, daß er ganz einfach über die Mauer steigen und mit Miette im Jas-Meiffren lustwandeln werde. Allein das Kind bat ihn, diese Torheit nicht zu begehen, die sie dem Hasse Justins ausliefern werde. Er versprach ihr, ein anderes Mittel zu ersinnen.
Die Mauer, in die der Brunnen eingefügt war, machte einige Schritte vom Brunnen entfernt eine plötzliche Biegung; dadurch entstand eine Art Vertiefung, wo die Liebenden vor allen Blicken geschützt gewesen wären, wenn sie sich dahin hätten flüchten können. Es handelte sich nur darum, bis zu dieser Vertiefung zu gelangen. Silvère durfte nicht mehr daran denken, über die Mauer zu steigen, da diese Absicht Miette so sehr erschreckt hatte. Er nährte im stillen einen andern Plan. Das Pförtchen, das Macquart und Adelaide einst zur Nachtzeit durchgebrochen hatten, war in diesem entlegenen Winkel des großen Nachbargrundes vergessen geblieben. Man hatte gar nicht daran gedacht, es zu vermauern; schwarz von der Nässe, grün vom Moose, Schloß und Angeln vom Roste zerfressen, bildete das Türchen gleichsam einen Teil der alten Mauer. Der Schlüssel war ohne Zweifel verloren gegangen. Das Gras und Unkraut, das vor den Brettern des Pförtchens üppig wucherte, bewies, daß seit langen Jahren kein Mensch seinen Fuß hierher gesetzt hatte. Diesen in Verlust geratenen Schlüssel hoffte Silvère wiederzufinden. Er wußte, mit welcher Gleichgültigkeit Tante Dide die Überreste der Vergangenheit an ihrem Platze verwittern ließ. Indes durchsuchte er das Haus acht Tage lang ohne Erfolg. Jede Nacht schlich er auf den Fußzehen hinaus, um zu sehen, ob er endlich den richtigen Schlüssel erwischt habe. So versuchte er an die dreißig, die ohne Zweifel von dem früheren Krautgarten der Familie Foucque herstammten, und die er überall zusammengesucht hatte: an den Wänden, auf den Brettern, in den Schubfächern. Schon begann er zu verzweifeln, als er endlich den glückseligen Schlüssel entdeckte. Er war einfach mittelst einer Schnur an den Haustorschlüssel geknüpft, der immer im Schlosse steckte. Hier hing der Schlüssel seit nahezu vierzig Jahren. Jeden Tag hatte Tante Dide ihn mit der Hand berühren müssen, ohne sich jemals zu entschließen, ihn verschwinden zu lassen, obgleich er ihr zu nichts mehr nütze war und nur die schmerzliche Erinnerung an längst erstorbene Freuden in ihr wachrief. Als Silvère sich versichert hatte, daß dieser Schlüssel das Pförtchen öffnete, harrte er des kommenden Tages, indem er an die Freuden der Überraschung dachte, die er Mietten zu bereiten gedachte. Er hatte nämlich seine Nachforschungen vor ihr geheim gehalten.
Als er am folgenden Tage das Mädchen seinen Krug niederstellen hörte, öffnete er sachte das Pförtchen, dessen Schwellen er von Unkraut und Erde gereinigt hatte. Als er den Kopf hindurch steckte, sah er Miette, wie sie über den Brunnenkranz geneigt in den Brunnen schaute, ganz in Erwartung versunken. In zwei Schritten erreichte er die Vertiefung, die die Mauer da bildete und rief: Miette! Miette! mit einer leisen Stimme, die das Mädchen erbeben machte. Sie blickte in die Höhe, weil sie glaubte, er sitze auf der Mauer. Als sie ihn im Jas-Meiffren sah, wenige Schritte von ihr entfernt, schrie sie erstaunt auf und eilte zu ihm. Sie faßten sich bei den Händen und betrachteten einander, entzückt darüber, daß sie so nahe beisammen waren, und fanden sich im warmen Sonnenlichte noch schöner. Es war am 15. August zu Maria Himmelfahrt; in der Ferne läuteten die Glocken durch jene klare Luft der großen Festtage, durch die ein Zug goldener Heiterkeit zu wehen scheint.
Guten Tag, Silvre!
Guten Tag, Miette!
Die Stimme, mit der sie ihren Morgengruß austauschten, setzte sie in Erstaunen. Sie kannten den Klang ihrer Stimmen nur verschleiert durch das Echo des Brunnens. Sie schien ihnen hell wie der Sang der Lerche. Wie lieblich war es in diesem warmen Versteck, in dieser festtäglichen Luft! Sie hielten sich noch immer bei den Händen, Silvère mit dem Rücken an die Mauer gelehnt, Miette ein wenig zurückgeneigt. Ihr Lächeln rief gleichsam Helle und eine heitere Stimmung zwischen ihnen hervor. Sie waren im Begriff, sich all die guten Dinge zu sagen, die sie dem dumpfen Widerhall des Brunnens nicht hatten anvertrauen wollen, als Silvère, auf ein leises Geräusch den Kopf wendend erbleichte und die Hände Miettens losließ. Er hatte Tante Dide bemerkt, die hoch aufgerichtet auf der Schwelle des Pförtchens stand.
Die Großmutter war zufällig zum Brunnen gekommen. Als sie in der alten, schwarzen Mauer die weiße Öffnung der Türe erblickte, die Silvere weit offen gelassen hatte, fühlte sie sich im innersten Herzen getroffen. Diese weiße Öffnung schien ihr ein Abgrund von Licht, mit roher Hand in ihrer Vergangenheit aufgetan. Sie sah sich wieder in der Morgenhelle, wie sie herbeilief und über diese Schwelle schritt mit dem ganzen Ungestüm ihrer nervösen Liebesleidenschaft. Und Macquart war zur Stelle und erwartete sie. Sie hängte sich an seinen Hals, blieb an seiner Brust, während die aufgehende Sonne, die mit ihr zugleich bei dem Pförtchen eingedrungen war, das sie zu schließen vergessen hatte, beide in das Licht ihrer schrägen Strahlen tauchte. Es war ein plötzliches Gesicht, das sie grausam aus dem Schlafe ihres Alters aufstörte wie ein letztes Strafgericht, indem es in ihr den brennenden Stachel der Erinnerung weckte. Niemals war ihr der Gedanke gekommen, daß diese Türe sich noch öffnen könne. Macquarts Tod hatte für sie diese Türe für immer vermauert. Wäre der Brunnen samt der ganzen Mauer in die Erde versunken, ihr Erstaunen hätte nicht größer sein können. In ihre Verwunderung mengte sich plötzlich eine gewisse Empörung gegen die heiligtumschänderische Hand, die, nachdem sie diese Schwelle entehrt, diese helle Öffnung wie ein offenes Grab hinter sich gelassen hatte. Wie durch einen Zauber angezogen, kam sie näher. Unbeweglich stand sie im Rahmen der kleinen Pforte.
Hier blickte sie mit schmerzlicher Überraschung um sich. Wohl hatte man ihr gesagt, daß der Garten der Fouque mit dem Jas-Meiffren vereinigt worden sei; aber niemals hätte sie geglaubt, daß ihre Jugend bis zu diesem Grade erstorben sei. Ihr war, als habe ein Sturmwind alles hinweggefegt, was ihrer Erinnerung teuer geblieben war. Das alte Haus, der große Gemüsegarten mit seinen grünen