Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola

Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen - Emile Zola


Скачать книгу

      Du wirst mein Weib; niemand soll es wagen, dich zu kränken.

      O, ich bitte dich, küsse mich nicht so! flehte sie. Es tut mir weh.

      Nach kurzem Stillschweigen fuhr sie fort:

      Du weißt wohl, daß ich nicht deine Frau werden kann. Wir sind zu jung. Ich müßte warten und würde vor Scham sterben. Du hast unrecht, böse zu werden: Du mußt mich irgendwo in einem Winkel stehen lassen.

      Jetzt begann auch Silvère zu weinen; die Kräfte hatten ihn verlassen. Das Schluchzen eines Mannes ist von ergreifender Härte. Erschrocken darüber, wie der arme Junge in ihren Armen vom Schluchzen geschüttelt wurde, küßte Miette ihn auf die Wangen, vergessend, daß dabei ihre Lippen schier verbrannten. Es sei ihr Fehler, sagte sie sich. Sie sei ein albernes Ding, daß sie den süßen Schmerz einer Liebkosung nicht ertragen könne. Sie wußte nicht, weshalb sie an traurige Dinge dachte gerade in dem Augenblicke, da ihr Geliebter sie in einer Weise küßte, wie er es noch niemals zuvor getan hatte. Und sie preßte ihn an ihre Brust, um ihn für den ihm zugefügten Kummer um Verzeihung zu bitten. Und diese weinenden, voll Angst sich umfangen haltenden Kinder erhöhten noch die Trostlosigkeit dieser finsteren Dezembernacht. Die Glocken in der Ferne ließen noch immer ihr trauriges Geläute vernehmen.

      Es wäre besser zu sterben, flüsterte Silvère mitten in seinem Schluchzen.

      Weine nicht, vergib mir, stammelte Miette. Ich werde stark sein und tun, was du verlangst.

      Der junge Mann trocknete seine Tränen und sagte:

      Du hast recht; wir können nicht nach Plassans zurückkehren. Aber wir haben jetzt keine Zeit, feige zu sein. Wenn wir als Sieger aus dem Kampfe hervorgehen, hole ich die Tante Dide ab und nehme sie mit uns, weit, weit. Wenn wir aber besiegt werden ...

      Er hielt inne.

      Wenn wir besiegt werden? ... wiederholte Miette.

      Dann sei uns der Himmel gnädig! fuhr Silvère leise fort. Ich werde dann nicht mehr sein, und du wirst die arme Greisin trösten. Das wird besser sein.

      Ja, du sagtest es soeben: es wäre besser zu sterben, flüsterte das Mädchen.

      Bei dieser Sehnsucht nach dem Tode umarmten sie sich noch inniger. Miette wollte mit Silvère sterben; dieser hatte nur von sich selbst gesprochen, aber sie fühlte wohl, daß er sie gerne mit ins Grab nehmen wollte. Dort würden sie sich freier lieben dürfen als am hellen Tage. Tante Dide würde ebenfalls sterben und zu ihnen hinabsteigen. Es war wie ein flüchtiges Ahnen, die Sehnsucht nach einer seltsamen Lust, welche der Himmel durch die Klagetöne der Sturmglocken bald zu erfüllen verhieß. Ster–ben! ster–ben! Die Glocken wiederholten dieses Wort mit zunehmender Gewalt und die Liebenden waren bereit, diesem Ruf nach dem Schattenreiche zu folgen. Sie hatten gleichsam einen Vorgeschmack der ewigen Ruhe in dieser schlummerartigen Betäubung, in welche die Wärme ihre Glieder und die Glut ihrer Lippen, die sich wiedergefunden hatten, sie von neuem versenkten.

      Miette wehrte sich nicht mehr. Jetzt war sie es, die ihren Mund auf den Silvères preßte, die mit stummer Gier jene Freude suchte, deren herben Brand sie anfänglich nicht hatte ertragen können. Der Traum von einem nahen Tode hatte ein Fieber in ihr entzündet; sie fühlte kein Erröten mehr; sie hängte sich an den Geliebten; sie schien, ehe sie ins Grab stieg, diese neuen Wonnen auskosten zu wollen, von denen sie kaum genippt hatte; es verdroß sie, daß nicht augenblicklich dieses unbekannte Etwas, das ihr ganzes Wesen aufrüttelte, sie durchdringen konnte. Außer dem Kusse ahnte sie noch etwas anderes, was sie erschreckte und zugleich anzog in dem Taumel ihrer nunmehr erwachten Sinne. Sie gab sich hin; in der schamlosen Einfalt der Jungfrauen hätte sie Silvère anflehen mögen, den letzten Schleier zu zerreißen. Er aber, schier die Besinnung verlierend infolge ihrer Liebkosung, von einem vollkommenen Glücke erfüllt, ohne Kraft, ohne andere Begierden, schien an größere Wonnen gar nicht zu glauben.

      Als Miette keinen Atem mehr hatte und die herbe Freude der ersten Umarmung schwinden fühlte, flüsterte sie:

      Ich will nicht sterben, ohne daß du mich liebest... ich will, daß du mich noch mehr liebest...

      Ihr fehlten die Worte; nicht als ob sie das Bewußtsein der Schande gehabt hätte, sondern weil sie nicht wußte, was sie wünschte. Sie war ganz einfach von einer dumpfen inneren Regung und von einem Bedürfnis nach Unendlichem in ihrer Freude erfüllt.

       In ihrer Unschuld hätte sie mit dem Fuße stampfen mögen wie ein Kind, dem man ein Spielzeug verweigert.

      Ich liebe dich! Ich liebe dich! wiederholte Silvère ermattend.

      Miette schüttelte den Kopf; sie schien zu sagen, es sei nicht wahr, und der junge Mensch verheimliche ihr etwas. Ihre kraftvolle und freie Natur hatte den geheimen Trieb der Fruchtbarkeit des Lebens. Darum wies sie den Tod von sich, wenn sie als Unwissende sterben sollte. Diesen Aufruhr ihres Blutes und ihrer Nerven gestand sie treuherzig durch ihre glühenden, umhertastenden Hände, durch ihr Stammeln, durch ihr Flehen.

      Dann ward sie ruhiger, lehnte das Haupt an die Schulter des jungen Mannes und schwieg. Silvère neigte sich zu ihr und küßte sie lange. Sie genoß seine Küsse langsam, nach ihrem Sinn, ihrer geheimen Lust forschend. Sie hörte sie gleichsam durch ihre Adern rieseln und fragte sie, ob sie die ganze Liebe, die ganze Leidenschaft seien. Eine Mattigkeit bemächtigte sich ihrer; sie entschlief sanft, hörte aber auch im Schlafe nicht auf, die Liebkosungen Silvères zu genießen. Dieser hatte sie in den großen, roten Mantel eingehüllt, von dem er einen Zipfel auch über sich selbst gebreitet hatte. Sie fühlten die Kälte nicht mehr. Als Silvère an dem regelmäßigen Atemholen Miettens merkte, daß sie eingeschlummert sei, war er froh über diesen Schlaf, nach dem sie gestärkt wieder ihren Weg würden fortsetzen können. Er nahm sich vor, sie eine Stunde schlafen zu lassen. Der Himmel war noch immer schwarz; kaum eine weißliche Linie im Osten kündigte das Nahen des Morgens an. Hinter dem Liebespaare mußte ein Fichtenwald sein, dessen vielstimmiges Erwachen bei dem ersten Wehen der Morgenluft der junge Mensch vernahm. In der schneidenden Luft tönte das Klagen der Glocken immer schärfer, und diese Töne wiegten Miette in den Schlummer, gleichwie sie vorhin ihr Liebesfieber begleitet hatten.

      Bis zu dieser Nacht voll Aufregungen und Verwirrungen hatten die beiden jungen Leute eine jener kindlichen Idyllen durchlebt, die in der Arbeiterklasse entstehen, unter den Enterbten, Geistesarmen, bei denen man noch zuweilen die einfache Liebe der altgriechischen Sagen antrifft.

      Miette war kaum neun Jahre alt, als ihr Vater auf die Galeeren geschickt wurde, weil er einen Gendarm erschossen hatte. Der Prozeß Chantegreil war in der ganzen Gegend berühmt geblieben. Der Wilderer hatte den Mord glattweg eingestanden; aber er schwor, daß der Gendarm sein Gewehr auf ihn angelegt hatte. Ich bin ihm nur zuvorgekommen, sagte er; ich habe mich nur verteidigt; es war ein Zweikampf und kein Mord. Und aus dieser Art sich zu verteidigen trat er nicht heraus. Es wollte dem Präsidenten nicht gelingen, ihm begreiflich zu machen, daß ein Gendarm wohl das Recht habe, auf einen Wilderer zu schießen, nicht aber umgekehrt. Dank seiner überzeugten Haltung und seinem unbescholtenen Vorleben entging Chantegreil dem Schafott, doch kam er auf die Galeeren. Dieser Mann weinte wie ein Kind, als man ihm seine Tochter brachte, ehe er nach Toulon abgeführt ward. Die Kleine, die noch in der Wiege gelegen hatte, als sie ihre Mutter verlor, wohnte bei ihrem Großvater in Chavanoz, einem Dorfe in den Tälern des Seillegebirges. Als der Wilderer nicht mehr da war, lebten der Alte und das Kind von Almosen. Die Einwohner von Chavanoz, sämtlich Jäger, unterstützen die armen Geschöpfe, die der Sträfling zurückgelassen hatte. Doch der Alte starb bald vor Kummer. Miette, die allein geblieben war, hätte auf den Straßen betteln müssen, wenn die Nachbarinnen sich nicht erinnert hätten, daß sie in Plassans eine Tante habe. Es fand sich eine mildtätige Seele, die Miette zu dieser Tante brachte, die das Kind ziemlich unwirsch empfing.

      Eulalie Chantegreil, an den Krautgärtner Rébufat verheiratet, war ein langes, eigensinniges Teufelsweib, das im Hause das Regiment führte. In der Vorstadt sagte man, daß sie ihren Mann nasführe. Die Wahrheit war, daß der geizige, überaus arbeitsame und gewinnsüchtige Rébufat eine Art Respekt empfand vor diesem derben Weib, das so rüstig bei der Arbeit, so nüchtern und so sparsam war, wie wenige ihresgleichen.

      Dank dem Weibe


Скачать книгу