Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
zu sein. Doch er beruhigte sie; er kenne einen Querweg, sagte er, der die Entfernung um die Hälfte abkürze. Sie könnten ein Stündchen ausruhen und würden dennoch mit den anderen zugleich Orchères erreichen.
Es war ungefähr sechs Uhr morgens. Ein leichter Nebel stieg von der Viorne auf. Die Nacht schien sich noch zu verdichten. Die beiden erklommen tastend den Abhang des Garriguesberges bis zu einem Felsen, auf dem sie sich niederließen. Rings um sie her war tiefste Finsternis. Sie waren wie verloren auf der Spitze eines Riffs, über der Leere schwebend. Als die Truppe der Aufständischen mit immer mehr ersterbendem Geräusche in der Ferne verschwand, hörten sie in dieser Leere nichts als zwei Glocken, die eine ganz hell, ohne Zweifel, weil sie zu ihren Füßen ertönte in irgendeinem Dorfe, das an der Heerstraße lag, die andere aus der Ferne, in gedämpftem Schall das klagende Gewimmer der ersten erwidernd. Es war, als wollten die beiden Glocken einander durch das Nichts der Nacht das traurige Ende einer Welt verkünden.
Vom schnellen Gehen erwärmt, fühlten die beiden anfangs keine Kälte. Sie schwiegen und lauschten mit unsagbarer Traurigkeit diesem Sturmläuten, das durch die stille Nacht zitterte. Sie sahen einander nicht. Miette hatte Furcht; sie suchte die Hand Silvères und behielt sie in der ihrigen. Nach dem fieberhaften Taumel, der sie stundenlang ihrer selbst vergessen ließ und ihnen keine Zeit gönnte, über ihre Lage nachzudenken, fand dieser plötzliche Aufenthalt, diese Einsamkeit, in der sie Seite an Seite saßen, die beiden Kinder gebrochen und erstaunt, wie aus einem unruhigen Traume plötzlich erwacht. Es war ihnen, als habe eine Flut sie hierher, an den Wegrand gespült und sich dann wieder verlaufen. Ein unüberwindlicher Rückschlag versetzte sie in einen Zustand unbewußter Erstarrung; sie vergaßen ihre Begeisterung; sie dachten nicht mehr an diese Truppe, zu der sie stoßen sollten; sie gaben sich ganz dem traurigen Reize hin, sich allein zu fühlen Hand in Hand inmitten dieser unheimlichen Finsternis.
Du grollst mir doch nicht? fragte das Mädchen nach einer Weile. Ich möchte mit dir die ganze Nacht marschieren, aber die Männer liefen zu schnell; mir war der Atem ausgeblieben.
Warum sollte ich dir grollen? entgegnete der junge Mensch.
Ich weiß nicht. Ich fürchte, daß du mich nicht mehr liebest. Ich hätte lange Schritte machen mögen wie du, immerfort gehen, ohne stillzustehen. Du wirst nun glauben, ich sei nur ein Kind.
Silvere lächelte und Miette ahnte dieses Lächeln, das sie nicht sehen konnte. Sie fuhr mit entschlossener Stimme fort:
Du sollst mich nicht immer wie eine Schwester behandeln; ich will dein Weib sein.
Und sie selber zog Silvère an ihre Brust.
Sie hielt ihn fest in ihre Arme geschlossen und flüsterte:
Es wird uns kalt werden; laß uns so erwärmen.
Ein Stillschweigen trat ein. Bis zu dieser trüben Stunde hatten die beiden sich mit geschwisterlicher Zärtlichkeit geliebt. In ihrer Unschuld galt ihnen noch immer nur für Freundschaft die Macht der Anziehung, die sie dazu trieb, sich unaufhörlich in den Armen zu halten länger und fester, als Brüder und Schwestern es tun. Allein am Grunde ihrer unschuldigen Liebe grollten mit jedem Tage lauter die Stürme des heißen Blutes dieser Kinder. Mit zunehmendem Alter, mit der wachsenden Erkenntnis mußte aus dieser Idylle eine heiße, südlich-stürmische Leidenschaft hervorgehen. Ein Mädchen, das sich an den Hals eines Burschen hängt, ist schon ein Weib, ein unbewußtes Weib, das die erste Liebkosung erwecken kann. Wenn Verliebte sich auf die Wangen küssen, sind sie auf der Suche nach den Lippen. Ein Kuß macht ein Liebespaar aus ihnen. In dieser schwarzen, kalten Winternacht, bei dem schrillen Klagen der Sturmglocken tauschten Miette und Silvère einen jener Küsse, die das Herzblut auf die Lippen heraufholen.
Stumm saßen sie da, eng ineinander verschlungen. Miette hatte gesagt: »So wollen wir uns erwärmen« und nun warteten sie unschuldig, bis sie warm werden würden. Alsbald drang eine Wärme durch ihre Kleider; sie fühlten, wie sie in der Umschlingung heiß wurden, und hörten in dem nämlichen Atemzuge ihre Brust schwellen. Eine Mattigkeit bemächtigte sich ihrer, die sie in einen fieberischen Schlummer versenkte. Jetzt war ihnen warm; Lichter tanzten vor ihren geschlossenen Augen, ein verworrenes Tosen drang zu ihrem Gehirn empor. Dieser Zustand einer schmerzlichen Lust, der einige Minuten währte, schien ihnen eine Ewigkeit. Wie im Traume fanden sich ihre Lippen. Es war ein langer und gieriger Kuß. Es war ihnen, als hätten sie noch niemals früher sich geküßt. Sie litten dadurch und ließen einander los. Als die Kälte der Nacht ihr Fieber gelöst hatte, verblieben sie in einiger Entfernung voneinander in unsagbarer Verwirrung.
Die beiden Glocken führten ihr trauriges Zwiegespräch fort in dem finsteren Abgrund, der rings um das junge Paar gähnte. Die zitternde und erschrockene Miette wagte nicht, sich Silvère zu nähern. Sie wußte gar nicht mehr, ob er noch da sei; sie hörte ihn keine Bewegung mehr machen. Beide waren des herben Gefühls voll, das ihr Kuß in ihnen erzeugt hatte. Ein Trieb der Mitteilsamkeit drängte Worte auf ihre Lippen; sie hätten sich gegenseitig danken, sich noch einmal küssen mögen, aber sie schämten sich dermaßen ihres sengenden Glückes, daß sie lieber darauf verzichtet hätten, es ein zweites Mal zu genießen, als daß sie davon laut gesprochen hätten. Hätte nicht der lange Marsch ihr Blut in Wallung gebracht, wäre nicht die stockfinstere Nacht ihre Mitschuldige geworden: sie hätten noch lange sich nur auf die Wangen geküßt wie gute Kameraden. Die Scham erfaßte Miette. Nach dem glühenden Kusse Silvères, in dem seligen Dunkel, in dem ihr Herz sich öffnete, erinnerte sie sich der Roheiten Justins. Wenige Stunden früher hatte sie ohne Erröten den Burschen gehört, der sie als Metze behandelte; er hatte sie gefragt, wann Kindtaufe sein werde; er hatte ihr zugerufen, sein Vater werde sie mittelst Fußtritte entbinden, wenn sie es jemals wagen solle, nach dem Jas-Meiffren zurückzukehren; und sie hatte geweint, ohne ihn zu verstehen; sie hatte geweint, weil sie erriet, daß all dies schimpflich sein müsse. Jetzt, da sie Weib wurde, sagte sie sich in der letzten Regung ihrer Unschuld, daß der Kuß, dessen Brennen sie noch in sich fühlte, vielleicht genügte, um sie mit jener Schmach zu bedecken, deren ihr Vetter sie beschuldigt hatte. Da ward sie von Schmerz ergriffen und schluchzte.
Was ist dir? Warum weinst du? fragte Silvère besorgt.
Nein, laß mich, stammelte sie. Ich weiß es nicht.
Und sie fügte, in Tränen aufgelöst, unwillkürlich hinzu:
Ach, ich bin eine Unglückliche! Als ich zehn Jahre zählte, warf man mich mit Steinen; heute behandelt man mich wie das geringste der Geschöpfe. Justin hatte recht, als er mich vor aller Welt mit seiner Verachtung überschüttete. Wir haben soeben Schlimmes getan, Silvère.
Der junge Mensch war betroffen; er schloß sie in seine Arme und suchte sie zu trösten.
Ich liebe dich, flüsterte er. Ich bin dein Bruder. Warum sagst du, daß wir Schlimmes getan haben? Wir haben uns umarmt, weil wir froren. Du weißt wohl, daß wir uns jeden Abend umarmten, wenn wir voneinander schieden.
O, nicht so wie jetzt, sprach sie sehr leise. Wir dürfen das nicht mehr tun, hörst du? Das muß verboten sein, denn ich fühle mich so ganz eigentümlich. Die Männer werden mich künftig verlachen, wenn sie mich vorbeikommen sehen. Und ich werde nicht mehr den Mut haben, mich zu verteidigen, denn sie haben recht.
Der junge Mann schwieg; er fand kein Wort, um den aufgescheuchten Sinn dieses dreizehnjährigen Kindes zu beschwichtigen, das nach seinem ersten Liebeskusse am ganzen Leibe vor Angst zitterte. Er drückte sie sanft an sich; er ahnte, daß er sie beruhigen werde, wenn er ihr das wärmende Wohlbehagen ihrer Umarmung wiedergeben könne. Allein sie wehrte ab und sagte:
Wenn du willst, laß uns fortgehen und diese Gegend verlassen. Ich kann nicht mehr nach Plassans zurückkehren; mein Oheim prügelt mich; alle Leute zeigen mit Fingern auf mich...
Dann rief sie, wie in plötzlicher Gereiztheit:
Nein, ich bin verdammt! Du darfst meinethalben Tante Dide nicht verlassen. Du mußt mich irgendwo, auf der Heerstraße stehen lassen...
Miette, Miette, sage das nicht! flehte Silvère.
Doch, ich will dich freimachen von mir. Sei vernünftig. Man hat mich davongejagt wie einen Tunichtgut. Wenn ich mit dir zurückkehrte, müßtest du dich jeden Tag mit