Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
Weil der junge Mann nicht nachgab, sagte sie plötzlich ohne Zweifel, um ihn zu strafen:
Ich springe hinab, sollst du sehen.
Damit sprang sie von dem Maulbeerbaum zum großen Schrecken Silvères. Er hörte das dumpfe Geräusch ihres Falles; dann lief sie mit lautem Lachen davon, ohne sein letztes Lebewohl zu erwidern. Er blieb noch einige Augenblicke da, bis er ihren Schatten im nächtigen Dunkel verschwinden sah; dann stieg auch er langsam hinab und trat den Rückweg nach dem Saint-Mittre-Gäßchen an.
Zwei Jahre hindurch kamen sie jeden Tag hierher. Zur Zeit ihrer ersten Begegnungen erfreuten sie sich daselbst noch einiger schönen, lauen Nächte. Die Verliebten konnten sich im Mai wähnen, im Monate des fröstelnden Sprießens, wo der kräftige Geruch der Erde und des jungen Laubes die milde Luft erfüllt. Dieser Spätlenz war für sie gleichsam eine Gnade des Himmels, der ihnen so gestattete, auf dem Wege frei herumzulaufen und ihre Freundschaft enger zu knüpfen.
Dann kamen die Regentage und dann die Fröste und Schneefälle. Doch die Unbilden des Winters hielten sie nicht zurück. Miette kam nicht ohne ihren großen braunen Mantel, und die beiden kümmerten sich nicht um die Ungunst des Wetters. War die Nacht trocken und hell, daß ein leiser Wind unter ihren Schritten einen weißen Reif auftrieb und ihre Gesichter wie mit feinen Gerten peitschte, dann hüteten sie sich wohl, sich niederzusetzen. Sie gingen dann mit rascheren Schritten hin und her, eingehüllt in den Mantel, mit blauen Backen und Tränen in den Augen, die die Kälte ihnen erpreßte; und sie lachten und schüttelten sich vor Lust während des schnellen Gehens in eisigkalter Nacht. An einem Abende, da es schneite, vergnügten sie sich damit, eine riesig große Schneekugel zu machen, die sie in eine Ecke wälzten. Hier stand die Kugel einen vollen Monat, worüber sie bei jeder neuen Begegnung erstaunten. Auch der Regen schreckte sie nicht. Sie kamen bei schrecklichen Niederschlägen zusammen, die sie bis auf die Knochen durchnäßten. Silvère eilte zum Stelldichein und sagte sich, Miette werde doch nicht so töricht sein, ebenfalls zu kommen; und wenn sie dennoch kam, fand er kein Scheltwort für sie. Im Grunde erwartete er sie ja doch. Schließlich suchte er ein schützendes Dach gegen die Unbilden des Wetters, weil er begriff, daß sie ausgehen würden, trotzdem sie sich gegenseitig das Versprechen gegeben hatten, keinen Fuß aus dem Hause zu setzen, wenn es regnen würde. Um ein schützendes Dach zu gewinnen, brauchte er bloß in einem Stoß Bretter eine Höhlung zu machen. Er zog einige Holzstücke heraus und tat sie wieder zurück, daß sie beweglich wurden und ohne Mühe entfernt und wieder an ihre Stelle gebracht werden konnten. Seither hatten die Verliebten eine Art niedrigen, geraden Schilderhauses zu ihrer Verfügung, eine viereckige Höhlung, wo sie nur eng zusammengedrängt Platz fanden, auf dem Ende eines Brettes sitzend, das sie im Hintergrunde des Loches gelassen hatten. Wenn es regnete, flüchtete der zuerst Ankommende hierher; und wenn sie dann vereinigt waren, horchten sie mit unsagbarem Vergnügen, wie das Wasser auf dem Bretterhaufen klatschte, und das klang wie ein dumpfer Trommelwirbel. Vor ihnen ringsumher, in der stockfinstern Nacht rauschte ein Wasserstrom, den sie nicht sahen und dessen unablässiges Geräusch dem lauten Getöse einer großen Menge glich. Und sie waren doch ganz allein, so gut wie am Ende der Welt, umgeben von Wassern. Niemals fühlten sie sich glücklicher, so sehr abgesondert von allen anderen, als inmitten dieser Sintflut, in diesem Bretterhaufen, jeden Augenblick in Gefahr, von den Fluten des Himmels weggeschwemmt zu werden. Ihre eingezogenen Knie erreichten fast die Öffnung, und sie zogen sich so viel wie möglich zurück, was nicht hinderte, daß ein feiner Regenstaub ihnen Hände und Gesicht benetzte. Zu ihren Füßen klatschten in gleichmäßigen Zeitabständen schwere Tropfen von den Brettern hernieder. Und es war ihnen recht warm in dem braunen Mantel; sie hockten so eng beisammen, daß Miette zur Hälfte auf den Knien Silvères saß. Sie plauderten; dann wieder schwiegen sie, von einem Gefühl der Ermattung ergriffen, einschlummernd in der Wärme ihrer Umschlingung und dem eintönigen Rauschen des Regens. So blieben sie stundenlang da mit jener Vorliebe für den Regen, die bewirkt, daß kleine Mädchen bei Regenwetter mit dem offenen Schirm in der Hand ernst und langsam dahinschreiten. Schließlich waren ihnen die Regenabende lieber; nur ihre Trennung war dann schwieriger. Miette mußte unter dem niederprasselnden Regen über ihre Mauer klettern und im Jas-Meiffren bei völliger Dunkelheit durch die Pfützen waten. Sobald sie aus seinen Armen sich losgemacht hatte, verlor Silvère sie aus den Augen im nächtlichen Dunkel und im Getöse des Regens. Er horchte dann aufmerksam, geblendet und betäubt. Doch die Angst, in der die plötzliche Trennung beide zurückließ, war ein Reiz mehr; sie fragten sich dann bis zum Morgen, ob ihnen nichts zugestoßen sei bei diesem bösen Wetter, in das man keinen Hund hinausgejagt haben würde; sie waren vielleicht ausgeglitten oder hatten sich verirrt. Es waren dies Besorgnisse, die beide unwiderstehlich beherrschten und ihr nächstes Zusammentreffen nur um so zärtlicher gestalteten.
Endlich kamen die schönen Tage wieder. Im April gab es milde Nächte; auf dem Wege sprießte das Gras üppig hervor. In diesem Lebensstrom, der vom Himmel niederfloß und aus dem Erdreiche aufstieg, inmitten des Rausches des jungen Jahres bedauerten die Liebenden manchmal ihre winterliche Einsamkeit, die Regenabende, die kalten Nächte, während der sie so verloren, so fern waren von allem Geräusch der Menschen. Jetzt ward es nicht schnell genug Abend; sie grollten der langen Dämmerung und wenn die Nacht dunkel genug geworden war, um Miette ohne die Gefahr, gesehen zu werden, das Klettern über die Mauer zu gestatten, wenn es ihnen endlich gelungen war, den teuren, einsamen Pfad zu erreichen, fanden sie daselbst nicht mehr jene Einsamkeit, die in ihrer Scheu verliebter Kinder ihnen so wohltat. Das Saint-Mittre-Feld bevölkerte sich; die Jungen der Vorstadt blieben bis elf Uhr abends da und trieben sich unter munteren Spielen auf den Balken umher; es kam auch vor, daß der eine oder andere sich hinter den Bretterstößen verbarg und dann Silvère und Miette mit der Frechheit eines zehnjährigen Taugenichts zulachte. Die Angst, überrascht zu werden, und das Erwachen des Lebens, das mit fortschreitendem Sommer immer reger und lauter wurde, verleideten ihnen ihre Begegnungen.
Überdies ward ihnen der Weg zu enge. Niemals war er in so heißen Strömungen erbebt; niemals hatte dieser Boden, wo die letzten Gebeine des alten Kirchhofes schlummerten, so sinnverwirrende Ausdünstungen entsandt. Und sie waren noch zu sehr Kinder, um den wollüstigen Reiz dieses im Fieber des Frühlings bebenden, stillen Winkels zu genießen. Das Gras reichte ihnen bis zu den Knien; sie bewegten sich nur mehr schwierig an diesem Orte, und wenn sie junge Triebe zertraten, hauchten gewisse Pflanzen scharfe Düfte aus, die sie betäubten. Von einer seltsamen Ermüdung ergriffen, verwirrt und schwankend, die Beine gleichsam durch die Gräser gebunden, lehnten sie sich dann an die Mauer, die Augen halb geschlossen, keinen Schritt wagend. Es war ihnen, als werde das ganze Schmachten des Himmels in sie eindringen.
Da ihr kindliches Ungestüm schlecht zu diesen plötzlichen Anwandlungen von Schwäche paßte, beschuldigten sie schließlich ihren Schlupfwinkel, daß es ihm an frischer Luft fehle und entschlossen sich, mit ihrer jungen Liebe ins Freie hinauszuwandern. So begannen denn neuerlich jeden Abend ihre Ausflüge. Miette kam mit ihrem Mantel; beide hüllten sich in das weite Kleidungsstück, huschten längs der Mauern fort, erreichten die Heerstraße, die weiten, freien Felder, wo die Luft mächtig dahinströmte gleich den Wogen der hohen See. Hier empfanden sie keine Beklemmung mehr; hier fanden sie ihre Kindheit wieder, fühlten sie den Taumel schwinden, die Betäubung, die das üppige Gras des Saint-Mittre-Feldes ihnen verursacht hatte.
Zwei Jahre hindurch besuchten sie diesen Winkel der Gegend. Jeder Felsenvorsprung, jede Rasenbank kannte sie bald; da war kein Gesträuch, keine Hecke, kein Dickicht, das ihnen nicht befreundet wurde. Hier machten sie ihre Träume zur Wirklichkeit; hier gab es ein tolles Rennen über die Sainte-Claire-Wiesen, Miette konnte tüchtig laufen und Silvère mußte ordentlich ausgreifen, wenn er sie einholen wollte. Sie suchten auch Elsternester; Miette, die durchaus zeigen wollte, wie sie in Chavonoz auf die Bäume geklettert war, band sich die Röcke mit einem Endchen Bindschnur und erklomm die hohen Pappeln. Silvère stand bebend am Fuße des Baumes, mit ausgebreiteten Armen, wie um sie aufzufangen, wenn sie herabgleiten sollte. Diese Spiele beschwichtigten ihre Sinne in dem Maße, daß sie eines Abends sich schier prügelten wie zwei Gassenjungen beim Verlassen der Schule. Doch fanden sich in der weiten Landschaft noch Plätze, die sie nicht kannten. Solange sie wanderten, gab es ein geräuschvolles Lachen, ein Treiben und Drängen und Stoßen; sie gingen meilenweit, manchmal bis zur Garrigues-Hügelkette, schlugen die engsten Pfade ein und schritten wohl auch querfeldein. Ihnen gehörte die ganze Gegend; sie lebten da wie