Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola

Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen - Emile Zola


Скачать книгу
Kreischen weithin hörbar war. Doch obwohl sie an gewissen Tagen sich mehrmals riefen, um sich Kleinigkeiten zu sagen, die in ihren Augen eine ungeheure Wichtigkeit hatten, genossen sie ihre wahren Freuden erst am Abend, auf dem verschwiegenen Wege. Miette war von seltener Pünktlichkeit. Glücklicherweise schlief sie oberhalb der Küche in einer Kammer, in der man, ehe sie ins Haus gekommen, die Wintervorräte aufbewahrte, und zu der eine besondere kleine Stiege hinanführte. So konnte sie zu jeder Stunde das Haus verlassen, ohne von Rébufat oder Justin gesehen zu werden. Für den Fall übrigens, daß letzterer sie einmal bei der Rückkehr überraschen sollte, gedachte sie ihm irgendeine Geschichte aufzubinden und ihn dabei mit jener Härte anzuschauen, die ihn jedesmal zum Verstummen brachte.

      Ach, welche glücklichen und milden Abende! Man war damals in den ersten Tagen des September, eines in der Provence sonnenhellen Monates. Die Verliebten konnten erst gegen neun Uhr zusammenkommen. Miette kam über ihre Mauer gestiegen. Sie erlangte bald eine solche Geschicklichkeit in der Überwindung dieses Hindernisses, daß sie fast immer schon auf dem alten Grabsteine stand, noch ehe Silvère ihr die Hand gereicht hatte. Dann lachte sie ihrerseits hell auf, blieb einen Augenblick da stehen, atemlos, mit wirrem Haar, ihren Rock mit der flachen Hand glättend, daß er wieder hübsch in Ordnung komme. Ihr Freund nannte sie dann lachend einen »schlimmen Gassenjungen«. Im Grunde liebte er die kecke Munterkeit des Kindes. Er beobachtete ihren Sprung von der Mauer mit dem Wohlgefallen eines älteren Bruders, der den Übungen eines seiner jüngeren Brüder beiwohnt. Es lag so viel Kindlichkeit in ihrer erwachenden Liebe! Wiederholt faßten sie den Vorsatz, eines Tages am Ufer der Viorne Vogelnester auszuheben.

       Du sollst sehen, wie ich auf die Bäume klettere! sagte Miette stolz. Als ich noch in Chavanoz war, erstieg ich die höchsten Nußbäume des Vaters André. Hast du jemals Elstern ausgehoben? Das ist aber schwer!

      Dann folgten Auseinandersetzungen über die Art und Weise, wie Pappeln erklommen werden wollen. Miette sagte ihre Ansicht knapp und klar wie ein Junge.

      Mittlerweile hatte Silvère sie auf die Erde gesetzt, wobei sein Knie ihr als Schemel diente. Und nun wandelten sie, einander um den Leib fassend, dahin. Und während sie darüber stritten, wie man die Füße setzen und wie man die Hände an den Hüftenansatz legen müsse, schlossen sie sich enger aneinander und fühlten in ihren Umschlingungen ein unbekanntes Glühen, das sie mit einer fremdartigen Wonne erfüllte. Niemals hatte der Brunnen ihnen ein ähnliches Vergnügen verschafft. Sie blieben Kinder, behielten die Spiele und das Geplauder von Gassenjungen und genossen dabei die Freuden von Verliebten, ohne auch nur von Liebe sprechen zu können, bloß dadurch, daß sie sich bei den Fingerspitzen hielten. Von einem instinktiven Bedürfnis ergriffen, suchten sie die Wärme ihrer Hände, ohne zu wissen, wohin ihre Sinne und ihr Herz sie führten. In solcher Stunde glücklicher Kindlichkeit verheimlichten sie einander sogar die seltsame Erregung, die sie bei der geringsten Berührung sich gegenseitig verursachten. Lächelnd, zuweilen erstaunt über das wonnige Gefühl, das sie durchströmte, sobald sie sich berührten, überließen sie sich der Wonne dieser ihnen neuen Empfindungen, während sie fortfuhren, wie zwei Schuljungen von den Elsternestern zu plaudern, die so schwer zu erreichen sind.

      So wandelten sie auf dem einsamen Pfade dahin, zwischen den Bretterhaufen und der Mauer des Jas-Meiffren. Niemals überschritten sie das Ende dieses schmalen Sackgäßchens, machten vielmehr jedesmal kehrt, um denselben Weg zurückzugehen. Sie waren hier daheim. Glücklich darüber, sich so wohl verborgen zu wissen, blieb Miette oft stehen und beglückwünschte sich zu ihrer Entdeckung:

      Hatte ich nicht eine glückliche Hand! rief sie strahlend. Wir könnten eine Meile weit gehen, ohne ein so gutes Versteck zu finden.

      Im dichten Grase erstarb das Geräusch ihrer Schritte. Sie waren in eine Flut von Dunkelheit getaucht, gleichsam zwischen zwei dunkeln Ufern gewiegt und sahen über ihren Köpfen nichts als einen Streifen tiefblauen, mit Sternen übersäten Himmels. In diesen Wogen des Bodens, auf dem sie wandelten, bei dieser Ähnlichkeit des Pfades mit einem Schattenfluß, der unter einem dunkeln und goldschimmernden Himmel sich ergießt, empfanden sie eine unerklärliche Aufregung und senkten die Stimme, obgleich niemand sie hören konnte. Den stillen Fluten der Nacht sich überlassend, mit Körper und Geist dahinschwebend, erzählten sie einander an solchen Abenden die tausend Nichtigkeiten ihres Tages, von Zeit zu Zeit in einem Liebesfrösteln erbebend.

      Andere Male wieder an hellen Abenden, wenn der Mond die Linien der Mauer und der Bretterstöße scharf abzeichnete, bewahrten Miette und Silvère ihre kindliche Sorglosigkeit. Von weißen Streifen erhellt, dehnte der Weg sich hin, völlig klar, ohne alles Unheimliche oder Unbekannte. Die beiden Spielgenossen jagten einander, lachten wie Schuljungen in den Ferien und trieben den Übermut manchmal so weit, daß sie die Bretterstöße erklommen. Silvère mußte Miette schrecken, indem er ihr sagte, Justin sei jenseits der Mauer und spähe ihr nach. Dann schritten sie, noch atemlos, ruhig nebeneinander her und faßten den Vorsatz, eines Tages auf den Sainte-Claire-Wiesen herumlaufen, um zu sehen, wer den andern schneller abfangen könne.

      Ihre erwachende Liebe wußte sich so den dunkeln Nächten und den hellen Nächten anzubequemen. Ihr Herz war allezeit rege, und ein wenig Schatten genügte, damit ihre Umarmung süßer, ihr Lachen wollüstig-weicher sei. Das liebe Versteck, so heiter im Mondenschein, so seltsam bewegt in dunkeln Nächten, schien ihnen unerschöpflich an Ausbrüchen der Heiterkeit und bebendem Schweigen. So blieben sie da bis Mitternacht, während die Stadt entschlummerte und in der Vorstadt ein Licht nach dem andern erlosch.

      Niemals wurden sie in ihrer Einsamkeit gestört. Zu dieser späten Stunde spielten die Straßenjungen nicht mehr Versteckens hinter den Bretterstößen. Wenn zuweilen die jungen Leute ein Geräusch hörten, sei es, daß Arbeiter singend vorüberzogen, oder daß von dem benachbarten Fußsteige Stimmen hereindrangen, wagten sie es, einen Blick auf das Saint-Mittre-Feld zu werfen. Leer, nur von wenigen Schatten bevölkert, dehnte der mit Balken bedeckte Grund sich aus. An warmen Abenden sahen sie die unbestimmten Schatten von Liebespaaren, Greise, die am Wegrande auf Brettern sitzend ausruhten. Wenn die Abende kühler wurden, sahen sie auf dem öden, einsamen Grunde nichts als das Feuer, das wandernde Zigeuner angezündet hatten und vor dem große, dunkle Schatten hin und her schwebten. In der Stille der Nacht drangen verschwommene Töne und Worte an ihr Ohr, der »Gutenachtwunsch« eines Bürgers, der seine Haustüre schloß, das Geräusch eines zuschlagenden Fensterladens, der tiefe Schlag der Uhren, alle die ersterbenden Geräusche einer Provinzstadt, die zur Ruhe geht. Und wenn Plassans eingeschlafen war, vernahmen sie noch das Gezanke der Zigeuner, das Prasseln ihres Lagerfeuers, dazwischen die plötzlich erklingenden Kehllaute der jungen Mädchen, die in einer unbekannten Sprache voll harter Akzente Lieder sangen.

      Doch die Liebenden blickten nicht lange hinaus nach dem Saint-Mittre-Feld; sie beeilten sich, in ihr Heim zurückzukehren, und nahmen ihren Spaziergang auf dem stillen, einsamen Wege wieder auf. Sie kümmerten sich wenig um die anderen, um die ganze Stadt. Die wenigen Bretter, die sie von den bösen Leuten trennten, schienen ihnen nachgerade ein unübersteiglicher Wall. Sie waren so einsam und so frei in diesem mitten im Vororte gelegenen Winkel kaum fünfzig Schritte vom römischen Tor, daß sie sich manchmal einbildeten, weit fort zu sein, im Freien, in irgendeiner Senkung des Viornetales. Von allen Geräuschen, die zu ihren Ohren drangen, vernahmen sie eines mit sorgenvoller Empfindung: das der Turmuhren, die in der nächtlichen Stille die Stunden kündeten. Wenn die Stunde schlug, taten sie manchmal als hörten sie nichts; manchmal wieder unterbrachen sie sich plötzlich, wie um zu protestieren. Wenn sie sich auch noch eine Gnadenfrist von zehn Minuten gestatteten, es mußte schließlich doch geschieden sein. Sie hätten bis zum Morgen spielen und plaudern mögen immer mit verschlungenen Armen, um jene seltsame Beklemmung zu fühlen, deren Wonne sie im geheimen mit immer wieder sich erneuernder Überraschung genossen. Endlich entschloß sich dann Miette, ihre Mauer zu erklettern. Damit war es aber noch nicht aus; der Abschied währte wohl noch eine Viertelstunde. Wenn das Kind ein Bein über die Mauer gesetzt hatte, blieb es da, mit den Ellenbogen auf die Kante gestützt, von Ästen des Maulbeerbaumes festgehalten, der ihr als Leiter gedient hatte. Auf dem Grabsteine stehend konnte Silvère sie noch bei den Händen fassen und halblaut mit ihr weiter plaudern. Mehr als zehnmal sagten sie sich: »Auf Wiedersehen bis morgen!« – und hatten sich immer wieder etwas zu sagen. Manchmal sprach Silvère scheltend:

      Geh, es ist Mitternacht vorbei.


Скачать книгу