Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
noch zu sehen glaubte, wenn sie die Augen schloß, dehnte sich jetzt ein Stück kahlen Bodens aus, ein trostloses Stoppelfeld, das einer Wüste glich. Wenn sie jetzt mit geschlossenen Augen die Dinge der Vergangenheit sich in die Erinnerung rufen wollte, würde immer wieder dieses Stoppelfeld ihr erscheinen gleich einem Laken von grober, gelblicher Leinwand, das man über die Erde geworfen, wo ihre Jugend begraben war. Angesichts dieses alltäglichen, gleichgültigen Anblickes glaubte sie, daß ihr Herz ein zweites Mal sterbe. Jetzt war alles aus; man nahm ihr selbst die Träume ihrer Erinnerungen. Sie bereute, dem Zauberbanne dieser hellen Öffnung nachgegeben zu haben, dieser Türe, die sich auf die für immer entschwundenen Tage öffnete.
Eben war sie im Begriff, sich zurückzuziehen, die verdammte Türe zu schließen, ohne nach der Hand zu forschen, die sie gewaltsam geöffnet hatte, als sie Miette und Silvère erblickte. Der Anblick der beiden verliebten Kinder, die verwirrt, mit niedergeschlagenen Augen ihres Blickes harrten, hielt sie auf der Schwelle fest, die Beute eines noch lebhafteren Schmerzes. Sie begriff jetzt. Sie sollte sich vollends wiederfinden, sich und Macquart, Arm in Arm in der Helle des jungen Tages. Zum zweiten Male ward das Pförtchen zum Mitschuldigen. Wo die Liebe hindurch geschritten, da schritt sie abermals hindurch. Es war der ewige Wiederbeginn mit seinen gegenwärtigen Freuden und seinen künftigen Tränen. Tante Dide sah nur die Tränen und hatte gleichsam ein plötzliches Vorgefühl, das ihr die beiden Kinder blutend, ins Herz getroffen zeigte. Erschüttert durch die Erinnerung an die Leiden ihres Lebens, die dieser Ort in ihr wachgerufen hatte, beweinte sie ihren teuren Silvère. Sie allein war strafbar; hätte sie einst nicht die Mauer durchbrochen, so wäre Silvère nicht in diesem verlorenen Winkel, vor einem Mädchen kniend und sich an einem Glücke berauschend, das den Tod reizt und neidisch macht.
Nachdem die Alte eine Weile stillschweigend dagestanden, trat sie näher und faßte, ohne ein Wort zu sprechen, den jungen Mann bei der Hand. Vielleicht hätte sie die Kinder hier am Fuße der Mauer plaudern lassen, wenn sie sich nicht mitschuldig an diesen tödlichen Freuden gefühlt hätte. Als sie mit Silvère den Rückweg ins Haus antrat, wandte sie sich um, weil sie den leichten Schritt Miettens hörte, die sich beeilt hatte, ihren Krug zu nehmen und quer über das Stoppelfeld zu fliehen. Sie rannte wie toll, glücklich darüber, so leichten Kaufes davon zu kommen. Tante Dide lächelte unwillkürlich, als sie das Mädchen wie eine flüchtige Ziege über das Feld laufen sah.
Sie ist noch jung, flüsterte sie; sie hat noch Zeit.
Sie wollte ohne Zweifel sagen, daß Miette noch Zeit habe zu leiden und zu weinen. Indem sie wieder auf Silvère blickte, der mit Entzücken dem Laufe des Kindes im hellen Sonnenlichte folgte, fuhr sie einfach fort:
Nimm dich in acht, mein Junge; man stirbt daran.
Dies waren die einzigen Worte, die sie bei diesem Vorfall sprach, der alle in ihrem Innersten schlummernden Leiden aufwühlte. Das Stillschweigen war ihr zum Gesetz geworden. Als Silvère wieder ins Haus getreten war, verschloß sie das Pförtchen doppelt und warf den Schlüssel in den Brunnen. So war sie dessen sicher, daß die kleine Türe sie nicht wieder zur Mitschuldigen machen werde. Sie kehrte einen Augenblick zu dem Pförtchen zurück und war glücklich, es wieder in seiner früheren Düsterheit und Unbeweglichkeit zu sehen. Das Grab war wieder geschlossen; die helle Öffnung war für immer verstopft durch diese wenigen Bretter, die schwarz waren von der Feuchtigkeit, grün vom Moose, und auf die die Schnecken ihre silbernen Tränen ausgestreut hatten.
Am Abend bekam Tante Dide einen jener Nervenanfälle, die sie noch von Zeit zu Zeit heimsuchten. Während dieser Anfälle sprach sie oft mit lauter Stimme, ohne Zusammenhang, wie unter dem Alpdrücken. Silvère, der von tiefem Mitleid ergriffen für diesen armen, in Krämpfen sich windenden Körper, die Alte auf ihrem Lager festhielt, hörte sie diesen Abend von Zollwächtern, von Schüssen, von Mord reden. Und sie wand und krümmte sich, flehte um Gnade und sprach von Rache. Als die Krise ihrem Ende nahte, hatte sie – wie immer – einen seltsamen Schrecken, ein Frösteln des Entsetzens, daß ihre Zähne klapperten. Sie richtete sich halb auf, blickte mit einer wirren Verwunderung nach allen Winkeln der Stube, dann sank sie unter schweren Seufzern wieder auf ihre Kissen zurück. Ohne Zweifel war sie die Beute von Wahnvorstellungen. Sie zog Silvère an ihre Brust; es schien, als beginne sie ihn zu erkennen, obgleich sie ihn von Zeit zu Zeit mit einer anderen Person verwechselte.
Da sind sie! stammelte sie. Sie werden dich fassen... sie werden dich auch noch töten... Ich will nicht... Schicke sie weg... sage ihnen, daß ich nicht will... daß sie mir wehe tun, wenn sie mich so anstarren ...
Und sie wandte sich zur Mauer, um die Leute nicht zu sehen, von denen sie sprach. Nach einer Weile fragte sie ihn:
Bist du da, mein Kind? Du darfst mich nicht verlassen ... Ich glaubte vorhin, ich würde sterben... Wir taten unrecht, als wir die kleine Tür durchbrachen. Seit jenem Tage habe ich gelitten. Ich wußte wohl, daß jene Tür uns noch Unglück bringen werde. Ach, die teueren, unschuldigen Kinder! Man wird auch sie töten... man wird sie niederschießen wie Hunde.
Sie verfiel wieder in ihren Zustand der Bewußtlosigkeit; sie wußte nicht mehr, daß Silvère noch bei ihr sei.
Plötzlich richtete sie sich auf und starrte nach dem Fußende ihres Bettes mit einem schrecklichen Ausdrucke der Furcht.
Warum hast du sie nicht weggeschickt? schrie sie, ihr weißes Haupt an der Brust des jungen Mannes verbergend. Sie sind noch immer da. Der mit der Flinte macht mir ein Zeichen, daß er schießen werde ...
Bald darauf verfiel sie in einen tiefen Schlaf, wie er nach diesen Krisen sich immer einstellte. Am folgenden Tage schien sie alles vergessen zu haben. Nie wieder sprach sie mit Silvère von dem Morgen, als sie ihn mit seinem Schatz hinter der Mauer gefunden hatte.
Zwei Tage lang sahen die jungen Leute einander nicht. Als Miette zu dem Brunnen zurückzukehren wagte, faßten sie den Vorsatz, den Streich von vorgestern nicht zu wiederholen. Doch hatte ihre so plötzlich unterbrochene Begegnung in ihnen das lebhafte Verlangen erweckt, sich von neuem in einem glücklichen Versteck allein zu treffen. Der Freuden müde, die der Brunnen ihnen bot, und weil er die Tante Dide nicht dadurch betrüben wollte, daß er Miette jenseits der Mauer wiedersah, bat Silvère das Kind, ihm anderwärts ein Stelldichein zu geben. Sie ließ sich nicht lange bitten; sie nahm diesen Vorschlag mit dem zufriedenen Lachen eines Kindes an, das an nichts Schlimmes denkt; sie lachte über den Gedanken, daß sie den Spion Justin zum besten halten werde. Als die Verliebten einig waren, berieten sie lange über die Wahl eines Zusammenkunftsortes. Silvère schlug unmögliche Verstecke vor; er gedachte ordentliche Reisen zu machen, oder das Mädchen zur Mitternachtsstunde in den Scheunen des Jas-Meiffren zu treffen. Miette, die praktischer war, zuckte mit den Achseln und erklärte, sie werde ihrerseits einen Ort suchen. Am folgenden Morgen blieb sie nur eine Minute am Brunnen, so lange wie sie brauchte, um Silvère ein Lächeln zu senden und ihm zu sagen, er möge um zehn Uhr abends sich im Hintergrunde des Saint-Mittre-Feldes einfinden. Man kann sich wohl denken, daß der junge Mensch pünktlich war. Die Wahl Miettens hatte den ganzen Tag seine Gedanken beschäftigt. Seine Neugierde steigerte sich noch, als er auf dem schmalen Pfade dahinschritt, den die Bretterhaufen im Hintergrunde des Saint-Mittre-Feldes freiließen. Von dieser Seite wird sie kommen, sagte er sich, nach der gen Nizza führenden Straße blickend. Dann hörte er hinter der Mauer ein lautes Geräusch von knisternden Zweigen, und er sah über der Mauerkrone ein lachendes, struppiges Haupt erscheinen, das ihm fröhlich zurief:
Ich bin's!
Es war in der Tat Miette, die wie ein Knabe einen der Maulbeerbäume erklettert hatte, die heute noch längs der Mauern des Jas stehen. In zwei Sprüngen erreichten sie den Grabstein, der zur Hälfte in den Winkel der Mauer, am Ende des Weges, eingesenkt war. Mit staunendem Entzücken sah Silvère sie herabsteigen und dachte nicht daran, ihr dabei behilflich zu sein. Er faßte sie an beiden Händen und sagte ihr:
Wie flink du bist! Du kletterst besser als ich.
So trafen sie sich zum ersten Male in diesem verlorenen Winkel, wo sie so liebliche Stunden verbringen sollten. Seit jenem Abend trafen sie sich hier fast jede Nacht. Der Brunnen diente ihnen nur mehr dazu, sich gegenseitig von den unvorhergesehenen Hindernissen zu verständigen, die sich ihren Begegnungen entgegenstellten, von Veränderungen in der Stunde, von all den kleinen, in ihren Augen