Gesammelte Werke von Cicero. Марк Туллий Цицерон
Cato ist, wie mich dünkt, nicht richtig. Denn entweder war Niemand ein Weiser, – und dieß möchte ich eher glauben, – oder wenn irgend Einer, so war es dieser. Wie, um Anderes zu übergehen, ertrug er den Tod seines Sohnes 34! Ich erinnerte mich an Paullus 35, ich hatte den Gallus 36 gesehen; aber diese bei dem Tode von Kindern, den Cato bei dem Tode eines ausgebildeten und bewährten Mannes. 10. Darum ziehe dem Cato ja Niemanden vor, selbst nicht einmal den, welchen Apollo, wie du sagst, für den Weisesten erklärte. Denn an jenem rühmt man Thaten, an diesem nur Reden.
Was aber mich betrifft, damit ich nun zu euch beiden rede, so vernehmt Folgendes:
III. Wollte ich behaupten, die Sehnsucht nach Scipio rühre mich nicht; so mögen die Weisen 37 entscheiden, inwieweit ich daran recht thäte; jedenfalls würde ich eine Unwahrheit sagen. Ja, ich werde gerührt, indem ich mich eines Freundes beraubt sehe, wie es nach meiner Ueberzeugung nie mehr einen geben wird, und wie es – ich darf es behaupten – gewiß keinen gegeben hat. Aber ich bedarf keines Heilmittels, ich tröste mich selbst, und zwar hauptsächlich durch den Trost, daß ich von dem Irrthume frei bin, der sehr Viele beim Hinscheiden ihrer Freunde zu beängstigen pflegt. Schlimmes ist dem Scipio, glaub' ich, nicht widerfahren; mir widerfuhr es, wenn es Einem widerfuhr. Wegen eigener Unfälle aber sich sehr ängstigen zeugt nicht von Freundesliebe, sondern von Selbstliebe.
11. Wer möchte aber leugnen, daß es um ihn herrlich stehe? Denn wenn er sich nicht, was auf keine Weise seine Meinung war, ein unvergängliches Erdenleben wünschen wollte; hat er nicht Alles erlangt, was dem Menschen zu wünschen vergönnt ist? er, der die höchsten Erwartungen seiner Mitbürger, die sie von ihm schon in seinem Knabenalter hegten, sofort in seinem Jünglingsalter durch außerordentliche Tüchtigkeit übertraf 38; er, der, ohne sich jemals um das Consulat zu bewerben, zweimal Consul ward, das erste Mal vor der gesetzlichen Zeit 39, das zweite Mal für seine Person zu rechter Zeit 40, für den Staat beinahe zu spät 41; er, der durch Zerstörung zweier unserem Reiche so feindseligen Städte 42 nicht nur die gegenwärtigen, sondern auch die zukünftigen Kriege vernichtete. Was soll ich von seinem liebreichen Wesen sagen, von der zärtlichen Liebe gegen seine Mutter 43, von der Freigebigkeit gegen seine Schwestern 44, von der Herzensgüte gegen die Seinigen 45, von der Gerechtigkeit gegen Alle? Diese Eigenschaften sind euch bekannt. Wie theuer er aber seinen Mitbürgern war, das zeigte sich in der tiefen Betrübniß bei seinem Leichenbegängnisse. Was hätte ihm also der Zuwachs weniger Jahre 46 nützen können? Denn so wenig drückend auch das Greisenalter sein mag, – dieß entwickelte, wie ich mich erinnere, Cato im Jahr vor seinem Tode in meiner und Scipio's Gegenwart, – so raubt es uns doch die Jugendfrische, in der sich Scipio noch befand.
12. Was also sein Leben betrifft, so war es an Glück sowol als an Ruhm so reich, daß Nichts hinzu kommen konnte; das Gefühl des Sterbens aber benahm ihm die Schnelligkeit seines Todes. Ueber die Art seines Todes ist es schwer eine bestimmte Behauptung aufzustellen; was die Leute darüber erwähnen 47, wißt ihr. So viel läßt sich jedoch in Wahrheit behaupten, daß für den Publius Scipio unter den vielen gefeierten und freudigen Tagen, die er erlebte, der 48 Tag der glänzendste war, wo er nach Entlassung des Senates gegen Abend von den versammelten Vätern, von dem Römischen Volke 49, von den Bundesgenossen und den Latinern 50 nach Hause zurückbegleitet wurde, – es war der Tag vor seinem Hinscheiden aus diesem Leben, – so daß er von der so hohen Stufe der Würde zu den oberen Göttern vielmehr als in die Unterwelt gelangt zu sein scheint.
IV. 13. Ich stimme nämlich den Philosophen 51 nicht bei, die unlängst die Ansicht zu entwickeln anfingen, mit dem Körper gebe zugleich die Seele unter, und Alles werde durch den Tod vernichtet. Eine größere Geltung hat bei mir der Glaube der Alten, theils unserer Vorfahren, die den Verstorbenen so heilige Rechte ertheilten, was sie in der That nicht gethan hätten, wenn sie der Meinung gewesen wären, daß es keinen Einfluß auf sie habe 52; theils der Philosophen 53, die in unserem Lande lebten und Großgriechenland, das jetzt freilich vernichtet ist, damals aber in Blüte stand, theils des Mannes, der durch Apollo's Ausspruch 54 für den Weisesten erklärt wurde, der in diesem Punkte nicht, wie er sonst zu thun pflegte, heute dieses, morgen jenes 55, sondern immer dasselbe behauptete: »die Seelen der Menschen seien göttlichen Ursprunges, und ihnen stehe, wenn sie aus dem Körper herausgegangen seien, die Rückkehr in den Himmel offen, und diese sei für die Besten und Gerechtesten auch immer am Ungehindertsten« 56.
14. Ganz dieselbe Ansicht hierüber hatte auch Scipio 57, der ja, als ob er eine Ahnung gehabt hätte, nur sehr wenige Tage vor seinem Tode in Gegenwart des Philus 58 und Manilius 59 und noch mehrerer Anderer – und auch du, Scävola, warst mit mir hingekommen – drei Tage lang seine Ansichten über den Staat entwickelte, und der Schluß seiner Untersuchung bestand fast ausschließlich in dem, was er von der Unsterblichkeit der Seele während der Nachtruhe in einem Traumgesichte aus dem Munde des Africanus gehört zu haben versicherte.
Ist dem so, daß der Geist der Edelsten sich beim Tode aus dem Gewahrsam und den Banden des Körpers am Leichtesten emporschwingt, wem, meinen wir, könnte dieser Aufschwung zu den Göttern leichter gewesen sein als dem Scipio? Wollte man sich also über dieses sein Ende härmen, so dürfte dieß eher Neid als Freundschaft verrathen. Ist hingegen die andere Ansicht richtiger, daß die Vernichtung der Seele und des Körpers zugleich erfolge, und kein Bewußtsein übrig bleibe; so liegt zwar nichts Gutes in dem Tode, aber jedenfalls auch kein Uebel. Denn nach dem Verluste des Bewußtseins ist es ebenso gut, als ob Scipio gar nicht geboren worden wäre; doch daß er geboren ward, darüber freuen nicht nur wir uns, sondern auch unser Staat wird, so lange er besteht, deßhalb frohlocken.
15. Darum steht es um ihn, wie ich oben 60 sagte, herrlich, minder vortheilhaft um mich. Denn sowie ich später in's Leben eintrat, so hätte ich billiger Weise auch eher aus demselben scheiden müssen. Indeß gewährt mir das Andenken an unsere Freundschaft hohen Genuß, indem ich mein Leben glücklich schätze, weil ich mit Scipio lebte, mit dem ich die Sorge um öffentliche und häusliche Angelegenheiten theilte, mit dem ich ein gemeinsames