Gesammelte Werke von Cicero. Марк Туллий Цицерон
die Gewohnheit des Umganges, der hinzukommt, befestigt, und wenn sich diese Umstände zu jener ersten Regung des Gemüths und der Liebe gesellen, so erglüht das Wohlwollen zu einer bewunderungswürdigen Stärke. Wenn aber Einige der Ansicht sind, dieß gehe von dem Gefühle der Schwäche aus, um in dem Freunde ein Mittel zur Befriedigung seiner Bedürfnisse zu erhalten; so lassen sie der Freundschaft wahrlich einen niedrigen und, ich möchte sagen, durchaus nicht adligen 91 Ursprung, indem sie dieselbe aus dem Mangel und der Hülfsbedürftigkeit erzeugt wissen wollen. Wäre dem so, so würde Jeder, je weniger Kraft er in sich selbst zu finden meint, um so empfänglicher für die Freundschaft sein. Das verhält sich aber ganz anders. 30. Denn je mehr Einer Selbstvertrauen besitzt, und je mehr er mit Tugend und Weisheit gewaffnet ist und deßhalb keines Anderen bedarf, sondern alles Seinige in sich selbst zu haben glaubt, desto mehr zeichnet er sich durch das Verlangen nach Freundschaft und durch Erfüllung ihrer Pflichten aus 92. Denn was meint ihr? War Africanus meiner bedürftig? Wahrlich nicht! und auch ich seiner nicht; aber ich gewann ihn wegen einer gewissen Bewunderung seiner Tugend lieb; er mich hinwiederum vielleicht wegen einer nicht ganz ungünstigen Meinung, die er von meinem Charakter hegte, und das Wohlwollen erhöhte der Umgang. Allein obwol viele und große Vortheile die unmittelbare Folge davon waren, so gingen doch die Beweggründe unserer Liebe nicht von der Aussicht auf dieselben aus. 31. Wie wir nämlich wohlthätig und freigebig sind, nicht um Dank dafür einzufordern, – wir treiben ja mit unseren Wohlthaten keinen Wucher, – sondern weil wir von Natur zur Freigebigkeit geneigt sind; ebenso halten wir auch die Freundschaft nicht in der Aussicht auf Belohnung für wünschenswerth, sondern weil ihr ganzer Genuß in der Liebe selbst liegt.
32. Aber diejenigen, welche nach Art der Thiere Alles auf die Sinnenlust beziehen 93, sind ganz anderer Ansicht, und es ist kein Wunder. Denn zu nichts Hohem, zu nichts Großartigem und Göttlichem können die ihren Blick erheben, die alle ihre Gedanken auf einen so niedrigen und so verächtlichen Gegenstand werfen. Darum wollen wir diese von unsrem Gespräche ausschließen; wir selbst aber wollen es uns zum Bewußtsein bringen, daß die Natur das Gefühl der Liebe und das innige Wohlwollen hervorbringe, sobald sich ein Zeichen von Rechtschaffenheit kund gibt. Denn wer auf diese sein Verlangen richtet, schmiegt sich an sie und drängt sich näher an sie an, um von dem Umgange dessen, den er lieb gewonnen hat, und von dessen persönlichem Wesen Genuß zu haben. Und sie sind in der Liebe gleich stark und besitzen die nämlichen Eigenschaften und sind geneigter Wohlthaten zu erweisen als zurückzufordern, und dieß wird zwischen ihnen Gegenstand eines edlen Wettstreites 94.
So wird man einerseits die größten Vortheile aus der Freundschaft gewinnen, andererseits wird ihr Ursprung aus der Natur würdiger und wahrer sein, als der aus dem Gefühle der Schwäche. Denn wenn der Vortheil das Band der Freundschaft knüpfte, so würde eine Veränderung in ihm dasselbe auch wieder auflösen 95 . Weil nun aber die Natur unwandelbar ist, darum sind auch wahre Freundschaften ewig.
Den Ursprung der Freundschaft seht ihr nun; es müßte denn sein, daß ihr etwas dagegen einwenden wolltet.
Fannius.
O nein. Fahre nur fort, mein Lälius; denn für diesen, der jünger ist, antworte ich nach dem mir zukommenden Rechte.
Scävola.
Du hast recht. So laßt uns denn weiter hören.
Lälius.
X. 33. So hört denn, meine edlen Freunde, was so oft zwischen mir und Scipio über die Freundschaft gesprochen wurde.
»Allerdings behauptete er, Nichts sei schwieriger, als daß die Freundschaft bis zum letzten Tage des Lebens fortbestehe. Denn oft trete der Fall ein, daß entweder Beide in einer Sache nicht zugleich ihren Vortheil fänden, oder daß sie hinsichtlich des Staates nicht gleiche Ansichten hätten; auch, sagte er, ändere sich oft der Charakter der Menschen, bald durch widrige Ereignisse, bald in Folge des vorrückenden Alters 96. Den Beweis dafür nahm er von dem ähnlichen Falle, der sich beim Beginne der Jugend zeige, daß nämlich oft die innigste Liebe der Knaben zugleich mit dem Kinderkleide 97 abgelegt werde. 34. Hätten sie aber dieselbe bis zum Jünglingsalter fortgesetzt, so werde sie doch bisweilen durch Streit, bald wegen eines Heirathsantrages, bald überhaupt wegen irgend eines Vortheiles, den Beide nicht zugleich erlangen könnten, getrennt. Wenn aber auch Manche ihre Freundschaft noch länger fortgesetzt hätten, so werde sie doch oft erschüttert, wenn sie wegen eines Ehrenamtes in Wettstreit geriethen. Denn es gebe kein größeres Verderben für die Freundschaft, als bei der Mehrzahl die Geldgier, bei den Edelsten aber der Streit um Ehre und Ruhm. Und dieß sei oft unter den besten Freunden die Quelle der bittersten Feindschaften.«
[35] »Auch erzeugten sich große und meistentheils gerechte Zerwürfnisse, wenn man Freunden Etwas zumuthe, was nicht recht sei, zum Beispiel daß sie entweder Diener der Sinnlichkeit oder Gehülfen einer Ungerechtigkeit sein sollen. Denn die, welche dieß verweigerten, so edel sie auch hierin handelten, würden doch von denen, welchen sie nicht willfahren wollten, beschuldigt das Recht der Freundschaft zu verletzen, während die, welche alle möglichen Zumuthungen dem Freunde zu machen sich erdreisteten, schon durch ihre Zumuthung zu erkennen gäben, daß sie um des Freundes willen Alles thun würden. Solche Beschwerden seien gewöhnlich der Grund, daß nicht nur fest gewurzelte Freundschaften erlöschen, sondern auch der Same zu ewigem Hasse gestreut werde.«
»Diese so viele Gefahren schwebten wie Verhängnisse über den Freundschaften. Um daher allen diesen zu entgehen, dazu scheine ihm nicht nur Weisheit, sondern auch Glück erforderlich zu sein.«
XI. 36. Darum laßt uns, wenn's beliebt, zunächst sehen, wie weit die Liebe in der Freundschaft gehen darf. Wenn Coriolanus 98 Freunde hatte, durften diese mit Coriolanus die Waffen gegen das Vaterland tragen? Durften den Viscellinus, als er nach dem Königthume strebte, oder den Spurius Mälius 99 seine Freunde unterstützen? 37. Von Tiberius Gracchus 100 wenigstens sehen wir, wie ihn, als er den Staat beunruhigte, Quintus Tubero 101 und seine gleichalterigen Freunde gänzlich verließen. Aber als Gajus Blossius 102 aus Cumä, der Gastfreund eueres Hauses, Scävola, zu mir in's Haus kam, weil ich gewöhnlich mit den Consuln Länas und Rupilius zu Rathe saß, um sich zu entschuldigen; so führte er als Grund ihm zu verzeihen an, er habe gegen Tiberius Gracchus eine so hohe Achtung gehabt, daß er es für seine Pflicht gehalten habe jeden Wunsch desselben zu. erfüllen. Da entgegnete ich: »Auch, wenn er verlangt hätte, du solltest das Capitolium in Brand stecken?« »Nie,« erwiderte er, »würde er so Etwas gewünscht haben; allein hätte er es gewünscht, so würde ich gehorcht haben«. Ihr seht, welch ein verruchtes Wort dieß war. Und wahrlich, er that auch so, ja noch mehr, als er sagte. Denn er gehorchte nicht nur dem verwegenen Sinne des Tiberius Gracchus, nein, er leitete ihn und bot sich nicht zum Genossen seines tollen Wesens, sondern zum Führer an. In diesem Wahnsinne floh er daher, durch eine neue Untersuchung geschreckt, nach Asien, begab sich zu den Feinden und büßte für sein Vergehen am Staate mit schwerer, aber gerechter Strafe.
Richtig ist also die Entschuldigung eines Vergehens, wenn man sich dem Freunde zu Gefallen vergangen hat. Denn da die Voraussetzung der Tugend Stifterin der Freundschaft ist, so kann schwerlich die Freundschaft fortbestehen, wenn man der Tugend abtrünnig