Gesammelte Werke von Cicero. Марк Туллий Цицерон
Sorge fliehen, so müssen wir auch die Tugend fliehen. Denn diese muß nothwendiger Weise ihre Gegensätze mit einiger Sorge von sich weisen und hassen, wie die Gutmüthigkeit die Tücke, die Mäßigkeit die Wollust, die Tapferkeit die Feigheit. Demzufolge sieht man, daß Gerechte über Ungerechtes, Tapfere über Feigheit und Enthaltsame über Ausschweifungen den tiefsten Schmerz empfinden. Folglich gehört es wesentlich zu einem wohlgeordneten Gemüthe sich über Gutes zu freuen, wie über Entgegengesetztes sich zu betrüben.
48. Trifft demnach Seelenschmerz den Weisen – und er trifft ihn wirklich, wenn wir nicht glauben sollen, daß das menschliche Gefühl aus seinem Gemüthe ausgerottet sei, – was haben wir für einen Grund die Freundschaft gänzlich aus dem Leben hinwegzurücken, um sich ihretwegen keinen Beschwerlichkeiten zu unterziehen? Denn was ist nach Wegnahme aller Gemüthsbewegung für ein Unterschied, ich will nicht sagen, zwischen einem Thiere und einem Menschen, sondern zwischen einem Menschen und einem Klotze oder einem Steine oder jedem beliebigen Dinge dieser Art? Denn auf die Philosophen 118 darf man nicht hören, die behaupten, die Tugend sei etwas Hartes und, so zu sagen, Eisernes, sie ist vielmehr, wie in vielen anderen Beziehungen, so auch in der Freundschaft zart und schmiegsam, so daß man beim Glücke des Freundes sein Gemüth erweitert, wie beim Unglücke beengt fühlt. Darum hat die Angst, die man oft für einen Freund fühlen muß, nicht solches Gewicht, daß sie die Freundschaft aus dem Leben verbannen sollte, ebenso wenig, als man die Tugenden von sich weist, weil sie einige Sorgen und Beschwerden verursachen.
XIV. Da ferner, wie ich oben 119 bemerkte, Freundschaften geknüpft werden, wenn ein Merkzeichen der Tugend hervorleuchtet, an die sich das gleichartige Gemüth anschmiegen und anschließen kann; so muß in diesem Falle nothwendig Liebe entstehen. 49. Denn was ist so ungereimt als an vielen eitelen Dingen sich zu freuen, wie zum Beispiel an Ehre, an Ruhm. an einem Gebäude, an Kleidung und Schmuck des Körpers; an einem tugendhaften Gemüthe hingegen, an einem solchen, welches zu lieben und wiederzulieben fähig ist, keine sonderliche Freude zu haben? Nichts ist so erfreulich als Erwiderung des Wohlwollens, als Gegenseitigkeit der Neigungen und der Gefälligkeiten.
50. Wie? wenn wir noch das hinzufügen, was mit Recht hinzugefügt werden kann, daß es Nichts gibt, was so an sich lockt und anzieht, als die Aehnlichkeit des Charakters zu der Freundschaft; so wird man in der That das als Wahrheit zugeben, daß Gute Gute lieben und sich mit diesen, als wären sie durch natürliche Verwandtschaft mit ihnen verknüpft, verbinden. Nichts strebt ja eifriger nach dem ihm Gleichartigen, Nichts reißt dieß gewaltsamer an sich als die Natur. Darum, Fannius und Scävola, dürfte meines Erachtens das fest stehen, daß zwischen Guten gleichsam ein nothwendiges Wohlwollen obwalte, und das ist die Quelle der Freundschaft, die in der Natur begründet ist. Aber 120 dieses Gute erstreckt sich zugleich auch auf die Menge. Denn die Tugend ist nicht menschenfeindlich, nicht undienstfertig. nicht übermüthig, da sie ja ganze Völker zu schirmen und bestens für sie zu sorgen pflegt, was sie gewiß nicht thäte, wenn sie der allgemeinen Menschenliebe abhold wäre.
51. Auch scheinen mir die, welche sich um des Vortheiles willen Freundschaften denken, das liebenswürdigste Band der Freundschaft zu verachten. Denn nicht sowol der durch den Freund gewonnene Vortheil erfreut, als vielmehr die Liebe des Freundes selbst, und erst dann wird das, was vom Freunde ausgeht, erfreulich, wenn es in Verbindung mit persönlicher Neigung von ihm ausgeht. Und weit entfernt, daß die Freundschaften um der Hülfsbedürftigkeit willen unterhalten werden, sind vielmehr gerade die Menschen, welche vermöge ihrer Macht, ihrer Mittel und besonders vermöge ihrer Tugend, in der der meiste Schutz liegt, am Wenigsten eines Anderen bedürfen, die Freigebigsten und Wohlthätigsten. Und vielleicht wäre es nicht einmal gut, wenn den Freunden durchaus nie Etwas fehlte. Denn wo hätte sich meine persönliche Zuneigung in ihrer vollen Kraft zeigen können, wenn Scipio nie meines Rathes, nie meiner Hülfe, weder zu Hause noch im Felde, bedurft hätte? Die Freundschaft war also nicht Folge des Nutzens, sondern der Nutzen Folge der Freundschaft.
XV. 52. Nicht also darf man auf Menschen hören, die in lauter Vergnügungen zerfließen, wenn sie einmal über Freundschaft, die sie weder aus Erfahrung noch durch Nachdenken kennen gelernt haben, sprechen. Denn, bei der Treue der Götter und Menschen! wer möchte unter der Bedingung, daß er weder Jemanden liebe, noch selbst von Jemandem geliebt werde, von allen Gütern umströmt sein und im Ueberflusse aller Dinge leben? Das ist ja das Leben eines Gewaltherrschers, in dem keine Treue, keine Liebe, kein Vertrauen auf beständiges Wohlwollen stattfinden kann, wo immer Alles mißtrauisch und besorgt ist, und keine Stelle sich für die Freundschaft findet. 53. Denn wer sollte den lieben, den er fürchtet, oder den, von dem er sich gefürchtet glaubt? Geehrt werden sie wol, doch nur aus Verstellung auf einige Zeit 121 . Werden sie aber, wie es gemeiniglich der Fall ist, gestürzt; dann erkennt man, wie arm sie an Freunden waren. So soll zum Beispiel Tarquinius gesagt haben, erst in seiner Verbannung habe er eingesehen, an welchen er treue, an welchen er 54. Indeß nimmt es mich Wunder, wenn er bei solchem Uebermuthe und Ungestüme überhaupt irgend einen Freund haben konnte. Sowie die Denkungsart des genannten Mannes ihm keine wahren Freunde erwerben konnte, ebenso schließt das Vermögen vieler Uebermächtigen treue Freundschaften aus. Denn nicht allein ist das Glück selbst blind, sondern es macht auch gemeiniglich die blind, die es in seine Arme schließt. Daher lassen sich diese gemeiniglich von Hochmuth und Anmaßung hinreißen, und es kann nichts Unerträglicheres geben als ein unverständiges Glückskind.
Ferner kann man die Erfahrung machen, daß Menschen, welche früher ein gefälliges Benehmen zeigten, durch Befehlshaberstellen, Ehrenämter und glückliche Ereignisse umgewandelt werden, alte Freundschaften verschmähen und sich neuen hingeben.
55. Was 122 ist aber thörichter, als wenn man, durch Reichthum, Ueberfluß und Macht viel vermögend, sich zwar Alles anschafft, was man sich für Geld anschaffen kann: Pferde, Diener, herrliche Gewänder, kostbare Gefäße, Freunde hingegen, den besten und schönsten Hausrath des Lebens, wenn ich mich so ausdrücken darf, sich nicht erwirbt? Wenn man sich andere Güter anschafft, so weiß man nicht, für wen man sie anschafft, noch um wessen willen man sich abmüht. Denn jedes dieser Güter kann Jedem zu Theil werden, der durch seine Kräfte überlegen ist; der Besitz der Freundschaft aber bleibt Jedem dauerhaft und gesichert, und wenn auch jene Güter, die gleichsam Geschenke des Glückes sind, blieben, so könnte doch unser Leben, wenn es nicht durch Freunde verschönert, sondern von ihnen verlassen wäre, nicht erfreulich sein. Doch hiervon so viel.
XVI. 56. Wir müssen nun bestimmen, welches die Gränzen und, so zu sagen, die Marken der Liebe in der Freundschaft sind. Ueber diese sind, wie ich sehe, drei Ansichten aufgestellt, von denen ich keine billige.
Die eine lautet: Wir sollen gegen den Freund ebenso gesinnt sein, wie gegen uns selbst; die zweite: Unser Wohlwollen gegen die Freunde soll ihrem Wohlwollen gegen uns in gleichem Maße und in gleicher Weise entsprechen; die dritte: Wie hoch Jeder sich selbst schätzt, so hoch soll er von seinen Freunden geschätzt werden. – Keiner dieser Ansichten stimme ich völlig bei.
57. Die erste: » Jeder soll gegen seinen Freund wie gegen sich selbst gesinnt sein« ist unwahr. Denn wie Vieles, was wir unsertwegen nie thun würden, thun wir um der Freunde willen! einen Unwürdigen demüthig bitten, dann mit verletzenden Worten über Einen herfahren und ihm heftig zusetzen. Dergleichen in unseren eigenen Angelegenheiten zu thun ist nicht eben sehr ehrenhaft, in denen unserer Freunde hingegen vollkommen ehrenhaft. Und so gibt es viele Dinge, bei denen sich rechtschaffene Männer von ihren eigenen Vortheilen Vieles entziehen und entziehen lassen, damit es lieber ihre Freunde als sie selbst genießen.
58. Die zweite Ansicht ist die, welche die Freundschaft nach gleichen Dienstleistungen und Gesinnungen bestimmt. Das heißt doch wahrlich die Freundschaft gar zu dürftig und kümmerlich berechnen, wenn man das Verhältniß zwischen Einnahmen und Ausgaben gleich machen will. Reicher und ergiebiger ist