Das armenische Tor. Wilfried Eggers

Das armenische Tor - Wilfried Eggers


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Wilfried Eggers

      Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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      Alle Rechte vorbehalten.

      Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Bongiozzo (Platz der Republik, Jerewan), Janson.art (Mann)

      Lektorat: Nadine Buranaseda

      E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

      ISBN 978-3-89425-760-6

      Wilfried Eggers studierte Rechtswissenschaften und skandinavische Sprachen in Kiel. Verheiratet, drei Kinder, überzeugter Moorbewohner. Er ist als selbstständiger Notar und Rechtsanwalt tätig und hat so Einblick in das gesamte Spektrum des prallen Lebens – vom platt gefahrenen Huhn bis zur Aktiengesellschaft.

      www.wilfried-eggers.de

      Tue keinem was zu Leide,

      Tu sonst, was du willst,

      Außer dieser gibt es keine

      Sünde im Gesetz.

      Mohammed Schemsed-din Hafis (1320–1389),

      Der Diwan

      Wer sich selbst und andere kennt,

      Wird auch hier erkennen:

      Orient und Okzident

      Sind nicht mehr zu trennen.

      Johann Wolfgang von Goethe,

      West-östlicher Divan (1819)

      1

      Anahid Bedrosian saß in der sechstletzten Reihe, gerade so weit hinten, dass sie den Überblick hatte, und nicht so weit vorn, dass man sie für einen neutralen Gast halten konnte. Sie war früh gekommen, an diesem Freitagabend im April, um zu sehen, welches Publikum in der Alten Turnhalle erscheinen würde.

      Der kalte Luftzug von der sich öffnenden Tür her kündigte die neuen Besucher an. Hauptsächlich Türken. Natürlich. Anahid strich sich die schwarzen Haare hinters Ohr, damit sie besser zur Seite sehen konnte, ohne neugierig zu wirken. Sie hatte keine Illusionen. Wenn man einem Volk angehörte, das man versucht hatte auszurotten, konnte man sich keinen Optimismus leisten. Optimismus war etwas für Leute, die vor dem Bösen ihre Augen verschlossen, weil sie gemütlich leben wollten. Gemütlich lebt nur, wer die Welt ignoriert.

      »Wird schon«, das war der Spruch, den sie am meisten hasste. Nichts wird. Vor allem nicht von allein. Konnte man als Armenierin in Deutschland leben, das die europäische Judenheit ausgerottet hatte?

      Was du den anderen tust, tust du auch mir.

      Wer als Armenier nach Deutschland kam, war wie ein Hamster, der mit dem Fuchs Freundschaft schloss, nachdem der ein Karnickel gefressen hatte. Trotzdem war sie hier, seit mehr als zehn Jahren, festgewachsen, obwohl es keine Heimat war. Sie war hier hängen geblieben, nachdem sie in Kiel studiert, in Hannover ihre Referendarzeit abgeleistet, einen Job in Hemmstedt gefunden und sich von Karl getrennt hatte. Karl hatte nur die Frau Anahid haben wollen, nicht die Armenierin Anahid. Er war des Themas überdrüssig geworden und sie hatten ihr Leben nicht mehr teilen können. Vielleicht hätte ich nach Frankreich gehen sollen, dachte Anahid, dort gibt es zwar eine Menge Maghrebiner, aber wenig Türken, dafür eine halbe Million Armenier, in Deutschland nur so viel wie Hemmstedt Einwohner hatte, ungefähr vierzigtausend. Alle verstreut, jeder für sich, einzeln. Einsam. Auch heute würde sie allein kämpfen müssen.

      Wir werden verschüttet, wenn wir nicht kämpfen. Dann kriegen sie recht, hundert Jahre danach.

      Hohe Fenster, gegenüber die Fachwerkwand mit alten Ziegeln, davor das flache Podium, Mikrofone, knarrender Parkettboden, eine Wendeltreppe mit eisernem Geländer zum Dachboden – ein denkwürdiger Raum. Früher war das eine Turnhalle gewesen, schon zur Nazizeit, als dein Körper der Nation gehört und du Gymnastik gemacht hast, damit die rhythmischen Urbewegungen funktionierten und die innere Heiterkeit zustande brachten, die du gebraucht hast, um künftige Soldaten zu gebären. Hatte ihr die Nachbarin Else erzählt, neulich am Samstag, beim Unkrautjäten, über den grünen Zaun des Reihenhausgartens hinweg, wo Anahid wohnte, allein, seit sie mit Karl Schluss gemacht hatte. Keine zehn Pferde würden sie da wieder hinbringen, hatte Else gesagt, ihr komme sonst der Konfirmationskaffee hoch.

      »Urbewegungen! Was sollte das wohl sein, hä?« Sie hatte den rechten Zeigefinger in den Kreis von Daumen und Zeigefinger der linken Hand gesteckt. So eine war Else. So alt, aber immer noch Sprüche zum Rotwerden.

      Jetzt nutzte man den Raum für After-Work-Partys, Musikveranstaltungen und Kleinkunst, überhaupt für alle Zusammenkünfte, die kein oder wenig Geld brachten und deshalb nicht im Kultureum stattfinden konnten, das jedes Jahr eine Million aus dem Hafersack der Stadt fraß, weswegen man dort die Wildecker Herzbuben sehen und hören konnte und haufenweise sogenannte Comedians, die neuen Wanderprediger ohne Bibel.

      Und heute hier der Vortrag dieses Ali Söylemezoğlu mit anschließender Diskussion unter dem Motto ›Türkei und Armenien – Das schwierige Verhältnis‹. Der Mann hatte ein Buch zu dem Thema verfasst und einen Verein gegründet, den er ausgerechnet Dialog für den Frieden nannte, wahrscheinlich gemeinnützig und steuerbegünstigt.

      Der Ausländerbeirat hatte eingeladen. Es solle ein Austausch stattfinden, der dem Konflikt zwischen den Türken und den Armeniern ein Ende machen, jedenfalls zu einer Annäherung führen sollte. Beide Seiten sollten sich aussprechen, ihre Herzen ausschütten, frei ihre Meinung sagen. So jedenfalls stand es in dem Veranstaltungshinweis auf der Kulturseite des Hemmstedter Tageblatts. Klang friedlich. Aber zwischen Armeniern und Türken war nichts friedlich, es herrschte kalter Krieg.

      Zum Glück waren die alevitischen Familien da, die es in Hemmstedt gab, eine davon sogar aus Tunceli. Die Aleviten aus Tunceli und die Armenier verstanden sich, haben sich schon immer verstanden, waren sie doch beide der Türken Feinde, sind sie doch beide fast ausgerottet worden und leben heute verstreut in aller Welt, die kleinen Geschwister der Juden. Anahid hatte die E-Mail bekommen, die unter den Türken herumgeschlichen war. Welch ein Glück, dass sie von ihrer Großmutter Türkisch gelernt hatte!

      Zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands – so hatte es da gestanden! – ist es gelungen, in einem staatlichen Rahmen eine Veranstaltung zu organisieren, in der wir die Behauptung vom armenischen Genozid als das entlarven können, was sie ist: eine Lüge und eine Beleidung des Türkentums. Wir müssen im ganzen Land Institutionen dazu bringen, solche Veranstaltungen abzuhalten. Für alle Türken ist es eine patriotische Pflicht, an diesem Abend dabei zu sein.

      Anahid hatte diese größenwahnsinnige Mail übersetzt und sie dem Bürgermeister und dem Pfarrer geschickt, der als Moderator fungieren sollte. Beide hatten, vielleicht nach einem Blick ins Netz, ihre Teilnahme hektisch abgesagt, worauf Anahid stolz war. Hätten sie das Buch gelesen, wären sie früher darauf gekommen. Diese harmlosen Deutschen. Dachten, sie wären die Einzigen, die einen anständigen Völkermord hinkriegen. Bosheit trauten sie nur sich selbst zu. Nichts sollte mit dem Holocaust vergleichbar sein. Niemand sollte Auschwitz relativieren. Richtig für die Deutschen, falsch für mich, dachte Anahid. Die Armenier, die Griechen, die Lasen, die Assyrer, die Aramäer und die Aleviten Dersims, alle massakriert vom Türkenstaat. Und alles geleugnet. Nichts war damit vergleichbar.

      Allmählich füllten sich die Reihen. Fast alles Türken mit grünen Mongolengesichtern, Nachkommen der Hunnen, Reiter, Herrenmenschen, Eroberer, Träger von Ehre und Gesicht, die ihr Leben lang lügen, um keines von beiden zu verlieren, Großmeister des Beleidigtseins, nicht wissend, dass gerade das,


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