Das armenische Tor. Wilfried Eggers
gerettet, als sie am Ende des Kriegs in Urfa gestrandet war, in einen Hauseingang haben sie sie gezerrt, ins Haus gebracht und versteckt, die schwangere Witwe, als der Mob hinter ihr her war, überlebt hat sie in Hinterhof und dunklen Zimmern. Und drei Monate später ist sie runter in den Libanon, zu den Franzosen, wo sie ihr Kind gebar, meine Großmutter, und das armenische Blut floss weiter. Es gäbe mich nicht ohne diese Türken in Urfa, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben. Es sind Türken, denen ich meine Existenz zu verdanken habe, verdammt.
Ein paar Kurden kamen auch. Eigentlich waren sie keine Kurden, sondern Zaza und die meisten von ihnen, die in Hemmstedt und Umgebung lebten, kamen aus der Gegend von Bingöl und Elazığ und drum herum, die Döner, Pide und Köfte in der Hemmstedter Fußgängerzone verkauften und sich nur deshalb ›Kurden‹ nannten, weil die Kurden sie ›Kurden‹ nannten und weil es zu kompliziert war, den Deutschen zu erklären, dass es in der Türkei fünf Millionen Zaza gab. Aber natürlich waren die meisten Hemmstedter Zaza sunnitisch, schaafitische Sunniten, strenge Vertreter ihres Glaubens also, damals wie heute die Kollaborateure, noch im kleinsten Dorf in den zentralanatolischen Bergen hatten sie ihre Spaten aus den steinernen Schobern geholt und ihren armenischen Nachbarn damit die Köpfe gespalten, denn sie, obwohl selbst von der türkischen Herrenrasse verachtet, wollten auch einmal Herr sein, auch einmal verachten, ausrauben und schänden dürfen.
Viele von ihnen waren in die Türkei zurückgekehrt, seit Erdoğan regierte. Er hatte den Kurden und Zaza erlaubt, ihre eigene Sprache zu sprechen, auf der Straße, im Radio und Fernsehen. Das Leben auf den Knien war beendet, der Bürgerkrieg abgeflaut, sie waren wieder Menschen geworden und hatten jetzt, seit es mit der Wirtschaft vorangegangen war, sogar Geld in der Tasche und eine Zukunft. Eine Hoffnung auf Glück. Dafür würden sie Erdoğan ewig dankbar sein.
Die meisten lebten im Ostpreußenviertel. So hieß das Quartier, in dem hundertsiebzig Sprachen gesprochen wurden, ein Haufen heruntergekommener Hochhäuser, die wechselnde Miethaie ausgepresst hatten, bis die Stadt ein Sanierungsprogramm auf Kosten der Steuerzahler hatte auflegen müssen.
Rundherum babylonisches Sprachengewirr, vor allem Türkisch, Zaza und Kurdisch in allen Dialekten, aber auch Italienisch, Spanisch, Arabisch. Und hier und da Deutsch. Außer den Türken wusste natürlich niemand, was anstand. Mittlerweile war es fast halb neun geworden und immer noch kamen Leute herein. Der Saal füllte sich.
Hat man je eine türkische Veranstaltung erlebt, die pünktlich angefangen hatte?
Auf dem Podium hatte sich ein grauhaariger Mensch hinter einem aufgeklappten Rechner verschanzt. Er trug ein braunes Jackett, hatte aschgraue Haut, machte einen wissenschaftlich-nüchternen Eindruck, den er durch seine ruhige Erscheinung und die übereinandergelegten Hände betonte, und hieß Söylemezoğlu. Neben ihm der Vorsitzende des Ausländerbeirats, der Afghane El Mokhtarzada, ein distinguierter Apotheker, der Hilfslieferungen in die Kriegsgebiete seiner alten Heimat organisierte. Vielleicht hatte er es für seine Pflicht gehalten, den Abend nicht platzen zu lassen. Schließlich gab es nichts einzuwenden gegen den Versuch der Verständigung.
Als El Mokhtarzada das Wort ergriff, lehnte sich Anahid zurück und atmete tief durch. Sie wollte ruhig bleiben, unter allen Umständen. Söylemezoğlu räusperte sich, reckte den Hals in diverse Richtungen wie ein Hahn, klopfte mit dem Kugelschreiber an sein Wasserglas, bis sich die Gesellschaft nach und nach beruhigte und der Letzte begriffen hatte, dass die Veranstaltung begann. Nachdem El Mokhtarzada die Abwesenheit des Bürgermeisters und des Pfarrers bedauernd erwähnt hatte, übergab er das Wort an Söylemezoğlu. Wie oft hatte Anahid das, was jetzt kam, schon gehört, so oft, dass sie fast nicht mehr in der Lage war zuzuhören, zumal sie das Buch dieses Leugners unter Qualen gelesen hatte – das stümperhafte Werk eines viertklassigen Autors, dem kein kritischer Geist Glauben schenken konnte.
Die berühmte Dolchstoßlegende, die seit bald hundert Jahren durch stete Wiederholung fast so wahr geworden war wie die Protokolle der Weisen von Zion. Es gab immer genug Ungebildete, Nachplapperer und Idioten, die das glaubten, und weil es unter den Türken von dieser Sorte reichlich gab, fand man unter ihnen die meisten. Die Armenier hätten im Ersten Weltkrieg gemeinsame Sache mit den Russen gemacht, sich mit ihnen verbündet, um den Türken den Osten des Landes zu entreißen, es habe geheime Waffenlager gegeben, nämlich in Van, zur Vorbereitung eines Umsturzes, und zahlreiche gewaltsame Angriffe auf die muslimischen Nachbarn. Bedrängt von den Entente-Mächten, sei der jungtürkischen Regierung nichts anderes übrig geblieben, als die Armenier in kontrollierbare Wohngebiete im Süden des Landes umzusiedeln, wobei durch inkompetente Durchführung und Übergriffe der Zivilbevölkerung, »was ich unter diesen Umständen nachvollziehen kann«, einige Tausend von ihnen umgekommen seien, was wirklich schrecklich und traumatisch und sehr zu bedauern sei, jedoch nicht mit dem Begriff des ›Genozids‹ belegt werden könne. Damit aber nicht genug. Nicht die Türken hätten systematisch Armenier getötet, sondern umgekehrt: Drei Millionen Muslime seien von Armeniern ermordet worden, die sich anschließend bei den Russen im Kaukasus verschanzt hätten.
Anahid kannte Söylemezoğlu und seinesgleichen. Er war Mitglied einer türkischen Apologetenarmee. Immer wenn irgendwo vom armenischen Genozid die Rede war, schwärmten sie aus, in die Zeitungen, Radiosendungen und Fernsehdiskussionen. Manche, meistens Journalisten von Beruf, machten sogar einen Lebensunterhalt daraus und einer davon war Söylemezoğlu.
Die Veranstaltung in Hemmstedt war nicht die erste dieser Art. Er warb mit schönen Sprüchen: »Hass ist keine Lösung« und »Aufruf zum Dialog und Frieden«. Er deckte »geschichtliche Hintergründe« auf. Eine riesige Kraftanstrengung fand statt in allen Ländern, in denen über dieses Thema diskutiert wurde, hauptsächlich in Frankreich, der Schweiz, in Kanada, den USA, dort, wohin viele der überlebenden Armenier geflüchtet waren. Diese Armee der Leugner war die Ergänzung, vielleicht auch Bestandteil der türkischen Außenpolitik. Jedem, der vom armenischen Genozid sprach, musste unter allen Umständen der Mund gestopft und die Schreibfeder genommen werden.
Der Mann redete fast eine Stunde lang. Er belegte seine Meinung mit vielerlei Zitaten von Quellen aus seinem Buch, bekam zwischendurch Beifall, hier und da erhob sich zustimmendes Gemurmel. Anahid spürte die fragenden Blicke der italienischen Frau, die neben ihr saß.
Du entkommst deinem Schicksal nicht, wenn du Armenierin bist. Wie diskutiert man mit Fundamentalisten? Wie macht man einem Dieb klar, dass er gestohlen hat, einem Alkoholiker, dass er trinkt, einem Schläger, dass er schlägt, einem Lügner, dass er lügt? Warum jemandem etwas beweisen, was der selbst am besten weiß?
Anahid war kalt ums Herz und ruhig im Blut geworden, denn es war nicht das erste Mal, dass sie in solche Schlachten zog.
Du hältst sie nur aus, wenn du kalt bleibst. Der Aufgeregte schießt schlecht.
Am Ende sagte Söylemezoğlu, nun sei es an der Zeit, das schwierige Verhältnis der Türken und Armenier auf der Grundlage von Ehrlichkeit und Wahrheit zu revidieren. Der Apotheker dankte Söylemezoğlu für seinen engagierten Vortrag und schlug eine Diskussion vor.
Anahid stand auf. »Ich möchte Sie etwas fragen.«
»Ja bitte.« Söylemezoğlu lächelte.
Er kannte sie nicht. Manchmal konnte man Armenier nicht von Türken unterscheiden. Beide hatten dunkle Haut, braune Augen und schwarzes Haar.
»Es gibt ein Dokument des deutschen Vizekonsuls in Mossul. Das war ein Mann namens Walter Holstein. Er hat berichtet, er habe auf manchen Stücken des Wegs von Mossul nach Aleppo so viele abgehackte Kinderhände liegen sehen, dass man damit den ganzen Weg hätte pflastern können. Kennen Sie diese Quelle, haben Sie sie verwertet?«
»Äh, ich habe …«
»Ich stelle fest, Sie kennen sie nicht und haben sie nicht verwertet. Walter Holstein hat auch berichtet, er habe beobachtet, dass Gendarmeriepatrouillen in Diyarbakır und Mardin die Bevölkerung aufgefordert hätten, die Armenier umzubringen. An der ganzen Strecke südlich Nusaybins habe er, wie er sich ausdrückt, alle Mohammedaner mit krummen Schwertern herumlaufen sehen. ›Ermeni‹, also Armenier, hätten sie immerzu gerufen, das sei ihr einziger Gedanke gewesen. Und kennen Sie die Autobiografie des amerikanischen Botschafters in Istanbul, Henry Morgenthau? Er war mehrfach bei Talaat Pascha, um auf ihn