Das armenische Tor. Wilfried Eggers
Das liegt im Iran.«
»Ich weiß, wo das ist«, antwortete Anahid Bedrosian. »Natürlich gibt es dort Armenier. Seit Jahrhunderten.« Das Gebiet sei seit Urzeiten, ebenso wie ganz Anatolien, Siedlungsgebiet der Armenier gewesen, nicht nur der Kaukasus. Immerhin habe es einmal ein großarmenisches Reich gegeben, vom Schwarzen bis zum Mittelmeer. Viele Bauwerke würden im Iran von alter armenischer Kultur und Baukunst zeugen. »Haben Sie einmal etwas von der Thaddäus-Klosterkirche gehört? Man nennt sie die ›Schwarze Kirche‹.«
Schlüter schüttelte den Kopf. Wie sollte er?
»Das liegt im nordwestlichen Zipfel vom Iran.« Sie stand auf und deutete auf einen Fleck unterhalb von Nachitschewan. »Da ungefähr ist es. Das ist die älteste Kirche der Christenheit, die allererste in der Welt. Ich war mal dort«, sagte sie stolz und lächelte das erste Mal. So große schöne Augen. Diese Kirche, berichtete sie, die allererste, auf deren Ruinen die heutige stehe, sei schon im Jahr 68 errichtet worden, zu Ehren des Apostels Thaddäus, der dort als Märtyrer gestorben sei, ermordet wegen seines Glaubens, wie so viele nach ihm. Diese Kirche sei ein Wallfahrtsort nicht nur für die Armenier im Iran, sondern auch für die aus der Türkei, aus Armenien und der ganzen Welt, manche kämen sogar von Kalifornien her, wie die Tochter des verstorbenen Herrn Hakobyan. Die habe sie da kennengelernt, seither stünden sie in Verbindung, von ihr sei sie um Hilfe gebeten worden. Jedes Jahr finde in den Bergen des nordwestlichen Iran und nur einige Fahrstunden von Täbris entfernt ein Festival statt, drei Tage lang. Essen, trinken, feiern, Gottesdienst, man tanze und lache zusammen, Buden und Zelte rings um das Kloster, wie auf einem lustigen Jahrmarkt. Viele ließen sich taufen, denn es heiße, wer in der Schwarzen Kirche des Thaddäus getauft sei, werde besonders festen Glaubens. Das sei sehr bewegend, besonders, wenn sich ein Erwachsener taufen lasse. »Und wenn ich einmal Kinder habe, werde ich versuchen, sie dort taufen zu lassen.«
Taufen im Iran?, wunderte sich Schlüter. Wie sei das denn möglich?
»Die Armenier haben es im Iran jedenfalls besser als in der Türkei. Sie haben ihre Kirchen. Sie haben ein Kreuz obendrauf und die Glocken läuten zum Gottesdienst. Sie können ihren Glauben leben, wenn sie wollen.«
»Ich dachte, die Mullahs würden …«
»Das weiß keiner. In welcher Kirche sind Sie?«
»In keiner«, erwiderte Schlüter. Irgendwie kam er sich klein vor bei dieser Antwort. Es klang wie ein Persönlichkeitsmakel.
»Das können Sie sich leisten? Und weshalb haben Sie mich nach Täbris gefragt? Kennen Sie dort jemanden?«
»Äh, nein«, gab er zurück.
»Mich hat noch nie jemand auf Täbris angesprochen. Weshalb fragen Sie?«
Schlüter zögerte. Jetzt kehrte Martens mit drei Tassen zurück und schob die Tür mit dem Fuß hinter sich zu. Tee für Schlüter und zwei Tassen Kaffee. Er setzte sich auf einen der Besucherstühle.
»Wir reden über … über den Iran«, klärte Schlüter seinen Kompagnon auf. »Wo wir nun gerade Geografiestunde machen.«
Dann fragte er die Mandantin, ob sie Zeitung gelesen habe. Hatte sie nicht. Sie lese keine deutschen Zeitungen. Nur türkische, arabische und armenische, mitunter englische, für deutsche habe sie keine Zeit. Und da sie, »seit ich vergewaltigt worden bin«, krankgeschrieben sei, habe sie auch keine Lust dazu. Schlüter berichtete von dem Mord an dem Unbekannten, den man einen Tag später in der Nähe des Burggrabens gefunden habe. Ja, davon habe sie gehört, eine Kollegin habe ihr davon am Telefon erzählt und sie habe gemerkt, dass dieser Mord an jenem Abend geschehen sein müsse.
»Der Mann hatte eine Quittung in der Tasche, von einem Café in Täbris. Und man hat einen Zettel im Gebüsch gefunden, den man ihm zuordnet.«
Die Augen der Frau waren noch größer geworden. Schlüter zog die Schublade seines Schreibtischs auf und legte die Kopie des Zettels darauf, auf dem die armenischen Namen standen.
»Aber das ist ja …!«
»… armenische Schrift.«
Sie las und murmelte die Namen wie ein Gebet.
»Er konnte nicht richtig Armenisch«, sagte sie. »Es sind Fehler drin. Er hat Buchstaben verwechselt.«
»Oder er war ein Legastheniker.«
»Nein. Es sieht so aus, als sei er nur ungeübt gewesen.«
Schlüter fragte sie, ob man in der armenischen Szene über den Mann gesprochen habe, ob er dort vielleicht bekannt sei. Anahid Bedrosian schüttelte den Kopf. Sie kenne alle Armenier in Hemmstedt. Das seien nicht viele. Genau genommen nur zwei, nämlich sie selbst und eine weitere Frau, die mit einem Kurden verheiratet sei und seit Langem in Hemmstedt lebe. Dann eher Hamburg, sie werde sich dort umhören. Der Ehemann ihrer Freundin könne nicht das Opfer sein, dann hätte die Witwe sie sofort informiert.
»Der Mann wollte zu mir.«
»Und was wollte er von Ihnen?«
»Das ist es ja! Wir wissen es nicht. Er wollte mir vielleicht diesen Zettel mit den Namen geben. Aber was bedeuten die Namen? Welchen Auftrag wollte er mir geben? Damit könnte man dem Täter auf die Spur kommen.«
»Ich rieche, das sind Menschen, die leben nicht mehr«, flüsterte Anahid Bedrosian. »Schon lange nicht mehr. Es gibt nur noch wenige Armenier in der Türkei! Und die meisten leben in Istanbul, in der Anonymität der Großstadt. Das sind Namen von Menschen, die 1915 ermordet wurden. Und dann«, fügte sie nachdenklich hinzu, »dieses letzte Wort. Wenn es ›Leben‹ bedeutet, was sagt es uns?«
»Wenn wir das wüssten«, sinnierte Martens, der genau zugehört hatte, »dann wären wir ein Stück weiter.«
»Was macht übrigens die Tochter in Kalifornien?«, erkundigte sich Schlüter.
»Rechtsanwältin. Sie hat es geschafft«, antwortete Anahid Bedrosian.
»Kollegin«, bemerkte Martens. Er nahm seine Tasse. »Entschuldigen Sie, ich muss noch zwei Klagen abdiktieren, die sollten heute raus, das habe ich den Mandanten versprochen.« Er war produktiv und nutzte seine Zeit.
»Feine Schuhe haben Sie.« Anahid Bedrosian lächelte.
»Siehste«, triumphierte Martens. »Sag ich doch.«
Als sie wieder allein waren, fragte Schlüter: »Können Sie eigentlich vorübergehend woanders wohnen, wenn ich die Strafanzeige abgeschickt habe?« Er dachte an den letzten Satz, den der unbekannte Diskutant der Mandantin über das Netz geschrieben hatte. Wenn der …
»Ich war schon die ganze Zeit bei einer Freundin. Ich will nicht auf der Flucht sein!«
»Aber es könnte …«
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