Das armenische Tor. Wilfried Eggers
soll ich das wissen?«
Armenische Namen. Leben. Täbris. Ein unbekannter Toter am Burggraben von Hemmstedt. Was hatte er, Schlüter, damit zu tun?
»Sarkis Vartanian, Al Tevle«, sagte er. »Wieso ist das unterstrichen?«
Als Staschinsky gegangen war, holte Schlüter die Kopie der armenischen Schrift, legte sie auf seinen Schreibtisch, setzte sich dahinter auf seinen Stuhl und starrte das Papier an, als wollte er es zwingen, sein Geheimnis preiszugeben.
8
»Ich habe mich entschlossen, Strafanzeige zu erstatten«, sagte Anahid Bedrosian.
Es war, als sitze eine andere Frau vor Schlüter als neulich im April, vor fast einem Monat, bei ihrem ersten Besuch in seinem Büro. Zwar hatte sie noch dunkle Ringe unter den Augen, aber keinen Teig mehr im Gesicht, ihre Haare waren straff nach hinten gespannt und fielen ihr in einem Pferdeschwanz lang auf den Rücken. Und sie hockte nicht, sondern saß aufrecht auf dem Besucherstuhl. Vielleicht stimmte der Spruch, dass der Mai alles neu macht.
»Sie sind eine mutige Frau«, erwiderte Schlüter. »Und ich bin ein schlaues Kerlchen, weil ich Sie zu Püschel gefahren habe.«
Sie lachte. »Ich habe erkannt, dass ich wahrscheinlich mehr darunter leide, nichts zu tun, als eine Strafanzeige zu erstatten.«
»Tja«, machte Schlüter. »Aber es kann hart werden.«
Schlüter vertiefte seinen Vortrag über den Strafprozess, den er auf der gemeinsamen Fahrt nach Hamburg gehalten hatte. Falls man einen Täter finden würde, komme es darauf an, welchen Verteidiger sich der nehme. Zum Beispiel diesen Hümmelsee, der in karierten Hosen umherlaufe und sich im größten Auto von Hemmstedt vorzeige, auch wenn er mitunter die Inspektionskosten nicht bezahlen könne. Dass sich der Mann von manchen Mandantinnen die Kosten in Naturalien zahlen ließ, verschwieg Schlüter, davon hatte ihm eine Mandantin berichtet und darüber machten ein paar männliche Kollegen schmierige Witze. Oder der Kompagnon dieses Mannes, der mit hohen Absätzen und hochgegelten Haaren seiner Mickrigkeit aufzuhelfen suche. Diese beiden Justizhuren hätten eine perfide Art, die Opfer zu quälen, es könne sein, dass sie, Anahid Bedrosian, in Weißglut oder Verzweiflung gerate, jedenfalls aus der Fassung, und es sei schwer, normale Zeugin in eigener Sache zu bleiben. Der Verteidiger dürfe für den Angeklagten sprechen, während sie, die Zeugin, selbst aussagen müsse. Andererseits, bei diesem Verteidiger wisse das Gericht schon vor der Hauptverhandlung, dass die Anklage zutreffe. Und man dürfe hoffen, dass der Täter einen Verteidigerzuschlag bekäme.
»Richter sind auch nur Menschen«, schloss Schlüter seinen Vortrag und erlaubte sich ein mokantes Hüsteln.
»Und – diese Verteidiger: Haben die gar kein Gewissen?«, wollte Anahid Bedrosian wissen.
»Haben Juristen normalerweise nicht. Wo bei anderen das Gewissen sitzt, ist bei denen das Gesetzbuch. Sie vollziehen ja nur Gesetze. Da brauchen sie sich nicht mit einem Gewissen zu belasten. Hat Tradition. War bei den Nazis nicht anders. Massenhaft Juristen in Gestapo und SS. Ein Verteidiger redet sich damit raus, dass er dem Täter ja nur die Option auf Freispruch zu erhalten habe.«
»Den Tätern«, sagte Anahid Bedrosian.
»Wie bitte?«
»Es waren drei.« Die junge Frau blickte Schlüter gerade ins Gesicht.
»Mein Gott!«
»Wo der zu dem Zeitpunkt gewesen ist, frage ich mich auch. Nicht das erste Mal übrigens. Das fragen sich viele auf der Welt. Aber es gibt keine Antwort, ich weiß.«
»Scheiße.«
Mehr war dazu nicht zu sagen. Es blieb dabei, dass sich der Große Chef nicht um die Belange seiner Schöpflinge kümmerte. Da konnten sie noch so viel beten und jammern und glauben, sie würden geprüft oder bestraft, was auch immer, sie würden es nie herausbekommen. Es ergab keinen Sinn, warum Gott sein Ebenbild, seine Kinderchen, die er doch selbst in seiner Allmacht und Allfähigkeit und Unfehlbarkeit so fehlbar geschaffen hatte, ständig prüfen und strafen musste. Nein – die Wahrheit war: Er überließ sie dem blinden Schicksal, den Launen der Natur und dem Bösen, das in einem jeden von ihnen steckte. Er ließ es zu, dass Unschuldige starben, in Gaskammern, auf Folterbänken und Scheiterhaufen, vor Maschinengewehren und in Wüsten. Ihre Mörder dagegen, nachdem sie ihre Opfer vergast, erwürgt, verbrannt, ertränkt, vergewaltigt, verhungern lassen oder erschossen hatten, kamen ungeschoren davon, führten ein Leben in Saus und Braus und starben einen sanften Tod, hoch geachtet, mit gutem Gewissen und im Kreis einer trauernden Familie. Vielleicht war diese Unbegreiflichkeit der Grund dafür, dass der Mensch die Hölle erfunden hatte, damit er sich einbilden konnte, der Schuldige werde, wenn nicht auf Erden, wenigstens dort seine gerechte Strafe erhalten.
Nachdem sie zu Ende geschwiegen hatten, sagte Schlüter: »Ich brauche Ihre Aussage, am besten …«
Anahid Bedrosian beugte sich zu ihrer Handtasche und zog eine Klarsichtfolie hervor, befreite daraus drei Blatt Papier und schob sie Schlüter über den Tisch.
»Ihre Aussage?«
Überflüssige Frage.
Die Frau nickte. »Dafür habe ich drei Tage gebraucht. Drei scheißige Tage. Schicken Sie es ab. Die Kerle haben sich einen Teil von mir genommen, ich will den wiederhaben.«
»Sie sind eine mutige Frau.«
»Sagten Sie schon. Ich weiß nicht. Ich habe kaum geschlafen, viel geduscht und ein paarmal gekotzt.«
»Ich werde es jetzt durchlesen müssen. Und prüfen, ob alles drinsteht, was notwendig ist.«
Schlüter vermied es, den Text zu überfliegen, bevor er richtig las. Er begann vorn. Wort für Wort, Zeile für Zeile. Anahid Bedrosian schilderte, wie sie an jenem Freitagabend im April zu der Veranstaltung gegangen war, die dieser Söylemezoğlu organisiert hatte, um die Ausrottung des armenischen Volkes von Anatolien zu leugnen, sie schilderte den Verlauf der Veranstaltung, ihre Wortbeiträge, teilweise waren sie in wörtlicher Rede wiedergegeben. Und sie schilderte, was danach geschehen war.
Dann verließ ich die Veranstaltung, erstens, weil ich die Gegenwart dieses Mannes auf dem Podium und seiner Kumpane im Publikum nicht mehr ertragen konnte, zweitens, weil ich meine Aufgabe, die ich mir für diesen Abend gestellt hatte, als erfüllt ansah, und drittens, weil mir übel war und ich dringend an die frische Luft musste. Ich wollte nach Hause. Ich gehe immer durch die Stadt und die Auewiesen. Ich lege eine Skizze bei. Meinen Weg habe ich eingezeichnet. Es sind knapp zwei Kilometer und er dauert ungefähr zwanzig Minuten. In Höhe des Kultureum, ungefähr dort, wo die Aue in den Burggraben mündet, also zwischen Brücke und Bundesstraße, hörte ich ein Knirschen hinter mir. Ich sah mich um, bemerkte aber niemanden und vergaß es wieder.
An der Bundesstraße bog ich ab Richtung Auewiesen. Der Weg führt ein Stück an der Aue entlang. Es war dunkel. Als ich von der Aue abbiegen wollte, zu meiner Straße, in der ich wohne, hörte ich ein Knacken und im nächsten Augenblick lag ich auf dem Boden. Ich wurde von mehreren Fäusten gepackt und vom Weg fortgezogen hinter die Reihe von Büschen und Bäumen, die den Weg säumen. Und dann fingen sie an. Es waren drei Männer, das habe ich gesehen, weil es wegen des Mondlichts nicht stockdunkel war. Sie müssen mir aufgelauert haben, denn sie waren vor mir da. Sie müssen gewusst haben, wohin ich gehe. Dann konnte ich nichts mehr sehen, weil sie mir die Bluse hochzogen und mir übers Gesicht spannten, so fest, dass ich nicht atmen konnte und Panik hatte, dass ich ersticke. Deswegen konnte ich nicht schreien. Ich strampelte wie verrückt, aber ich wurde von ihren Fäusten niedergehalten. Einer sagte: »Das, was unsere Großväter begonnen haben, das werden wir vollenden!« Das sagte er auf Türkisch. Sie rissen mir die Schuhe ab und die Hose herunter. Sie hielten mich an den Haaren. Und dann …
Schlüter ließ sein Herz und das Papier sinken.
»Bitte«, sagte er. »Darf ich das später lesen? Es ist … Ich kann es nicht lesen, wenn Sie da sitzen. Ich muss es aber lesen. Ich mache das später, mit Ihrer Erlaubnis. Wenn ich meine, dass etwas Wichtiges fehlt, also vom reinen Geschehensablauf, sage ich