Das armenische Tor. Wilfried Eggers

Das armenische Tor - Wilfried Eggers


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…«

      »Ich weiß, was Sie sagen wollen. Keine Vorurteile und so. Die Türken haben früher schon keine Bücher gelesen, auch nicht das eine, den heiligen Koran, das ging gar nicht. Die erste türkische Ausgabe ist erst 1950 rausgekommen. Da mussten sie sich den Inhalt eben von sogenannten Schriftkundigen vorbeten lassen. Fünfmal am Tag schreit der Muezzin arabische Suren vom Minarett, und das nur, weil Mohammed Araber war! Die meisten hielten es für sinnlos oder sogar Gotteslästerung, das Buch zu übersetzen, das hört man heute noch überall, denn das Wort Gottes darf ja keinesfalls verfälscht werden und eine Übersetzung ist eben eine Verfälschung. Wie soll so Bildung entstehen? Wir Armenier lesen unsere armenische Bibel seit tausendsechshundert Jahren und Sie haben die deutsche Bibel immerhin seit ungefähr fünfhundert Jahren. Deshalb waren wir Armenier schon immer gebildet und sprachkundig und deshalb waren wir Anwälte, Kaufleute, Ärzte und Handwerker. Und folglich waren wir reich, wir Armenier, damals unter den Osmanen. Sie finden heute noch keine Buchläden in den Städten. Oder fast keine.«

      »Tja …«

      »Haben Sie von Hrant Dink gehört?«, fragte sie.

      Bevor Schlüter antworten konnte, dass der Name ihm schon einmal begegnet sei, er aber nichts mit ihm verbinden könne, berichtete sie.

      Und bevor er ihren Bericht kommentieren konnte, befahl sie: »Lesen Sie weiter, wir müssen fertig werden!«

      Schlüter atmete tief durch, froh, dass der Ritt durch unbekanntes Gelände zu Ende war, und faltete die Zeitung auseinander, eine einzelne abgetrennte Seite von der gestrigen Ausgabe. Montags bestand das Hemmstedter Tageblatt meistens nur aus Sportnachrichten. Dies war jedoch der Bericht über eine Veranstaltung vom letzten Freitag. Mittendrin ein Bild von einem Saal und einem Podium, auf dem ein Herr in braunem Sakko saß, neben ihm ein rundgesichtiger Schwarzhaariger, im Vordergrund vielfarbiges Publikum auf Stühlen, Schleier, Kopftücher, Mützen. Ein langer Artikel, daneben eine Extraspalte, überschrieben mit Völkermord an den Armeniern und der Unterzeile Historiker sind sich einig. Der Artikel selbst trug die Überschrift Tumult in der Alten Turnhalle, darunter die fett gedruckte Zeile Veranstaltung zur Völkerverständigung endet in Chaos.

      Schlüter las:

      Am Freitag, dem 13. April, fand in der Alten Turnhalle ein Diskussions- und Vortragsabend mit dem türkischen Schriftsteller und Publizisten Sahin Ali Söylemezoğlu statt oder besser: hätte stattfinden sollen. Söylemezoğlu ist Autor des Buches Die andere Seite der Medaille. Hintergründe der Tragödie von 1915 in Kleinasien. Das Werk befasst sich mit der Vernichtung der Armenier im 1. Weltkrieg vor 92 Jahren in Anatolien. Der Publizist hatte eingeladen unter dem Motto ›Türkei und Armenien – Das schwierige Verhältnis‹. Söylemezoğlu argumentiert, es habe keinen Völkermord an den Armeniern gegeben, sondern umgekehrt hätten diese drei Millionen türkische Muslime ermordet. Vor der berechtigten Rache der Türken hätten sich die Armenier hinter dem Kaukasus in der späteren Sowjetrepublik Armenien verschanzt. Bekanntlich ist Armenien seit dem Fall der Mauer und dem Zerfall der Sowjetunion ein selbstständiger Staat. Die Armenier, die damals in Ostanatolien gelebt hätten, so die These des türkischen Publizisten, seien den Türken gemeinsam mit den Russen in den Rücken gefallen. Also habe man sie deportieren, nämlich umsiedeln müssen. Am Wege lebende Kurden und Tscherkessen hätten die Armenier ausgeraubt und manchmal getötet, womit die damalige sogenannte jungtürkische Regierung nichts zu tun gehabt habe, im Gegenteil, sie habe sogar versucht, die Armenier zu schützen.

      Seit bald hundert Jahren ist diese Darstellung die offizielle türkische Staatsversion. Drei türkische Generationen sind mit dieser Falschdarstellung aufgewachsen (siehe Kasten auf dieser Seite).

      Der Vorsitzende des Hemmstedter Ausländerbeirats erklärte auf Nachfrage, man habe diese Veranstaltung in dem guten Glauben organisiert, dass man mit einer offenen Diskussion zur Völkerverständigung beitrage. Ein Dialog müsse stattfinden, Armenier und Türken sollten sich aussprechen, sich die Herzen ausschütten und ihre Meinungen darlegen.

      Im Vorfeld der Veranstaltung hat die armenischstämmige A. B. (Name der Redaktion bekannt) per E-Mail die Thesen von Ali Söylemezoğlu in Umlauf gebracht. Auf Befragen nahm sie Stellung, sie habe darauf aufmerksam gemacht, dass das städtische Haus missbraucht werden solle, der türkischen Lüge von der »armenischen Lüge« Raum zu geben. Sie sei von alevitischen Freunden (eine muslimische Glaubensrichtung in der Türkei, Anmerkung des Verfassers) auf die Veranstaltung hingewiesen worden. Diese hätten ihre Mitglieder aufgefordert, hinzugehen und die Veranstaltung zu stören. Auch habe sie den Bürgermeister und den Landessuperintendenten und unsere Zeitung sowie den Vorsitzenden des Ausländerbeirats Hemmstedt, Enrico Coletta, informiert.

      Die Reaktionen reichten von Überraschung bis Entsetzen. Die Veranstaltung wurde zwar nicht abgesagt, denn dazu sei es zu spät gewesen, wie das Büro des Bürgermeisters mitteilte. Es gelte der Grundsatz, dass städtische Gebäude nicht für politische Veranstaltungen zur Verfügung stünden, dafür sei die Privatwirtschaft da. Die Veranstaltung fand also ohne Beisein des Bürgermeisters und des Vertreters der evangelischen Kirche statt, der seine Teilnahme als Moderator abgesagt hatte. Für ihn sprang der bekannte syrische Apotheker El Mokhtarzada ein.

      Fast 200 Zuhörer, davon mehrheitlich Türken, nahmen an der Veranstaltung teil. Herr Söylemezoğlu sprach in seiner Einleitung zunächst von der »schwierigen Geschichte zwischen Türken und Armeniern« und warf den Armeniern ein »vorurteilsbeladenes Verhältnis zu den Türken« vor. Er bezeichnete die Genoziddebatte als »Mythos vom Dolchstoß«. Die Armenier, so Söylemezoğlu, wollten die Türkei vernichten und ihre eigene Schuld dem türkischen Volk anhängen. Die Veranstaltung solle »ein Beitrag zur Versöhnung und Annäherung« sein.

      Die armenischstämmige Hemmstedterin A. B. ergriff nach dem Vorwort des Söylemezoğlu das Wort und wies auf die Geschichtsforschung hin, die nahezu einheitlich zu dem Ergebnis gekommen sei, dass die osmanischen Armenier einem Völkermord zum Opfer gefallen seien. Sie verwies auf überlieferte Dokumente, unter anderem auf den großen Roman des jüdischen Schriftstellers Franz Werfel Die vierzig Tage des Musa Dagh, der auf Tatsachen beruht. Nachdem sie vorzeitig nach ihrem Wortbeitrag die Veranstaltung verlassen hatte, brach im Saal ein Tumult aus, der von einem Teil der türkischstämmigen Besucher ausging. Bei diesen, erklärt Frau B. auf Nachfrage, habe es sich um die alevitische Community Hemmstedts gehandelt. Eine Fortsetzung der Veranstaltung war nicht möglich. Es bildeten sich zwei Gruppen im Saal, die sich gegenseitig lautstark zu überzeugen versuchten. Dass es nicht zu Handgreiflichkeiten gekommen ist, ist dem rechtzeitigen Eintreffen der Polizei zu verdanken, die der Betreiber der Alten Turnhalle herbeigerufen hat.

      Hemmstedt, so Frau B., solle nicht in die Geschichte eingehen als der Ort, an dem Geschichtsrevisionismus und Genozidleugnung auf offene Türen und Tore stoße, und das mit dem Anschein halbstaatlicher Billigung. Tag um Tag werde deutlich, wie handlungsbestimmend und identitätsprägend Geschichtsbilder für das Leben in Gegenwart und Zukunft seien. Wer von Integration und friedlichem Zusammenleben spreche, müsse sich zunächst der Selbst- und Fremdbilder, der herrschenden Ideologien klar werden, die die türkische Gemeinschaft bestimmten. Die vielen Söylemezoğlus in Deutschland wüsste man dann besser einzuordnen.

      Herr Söylemezoğlu war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. IG

      Schlüter ließ die Zeitungsseite sinken. Die Schnecke der Furcht kroch auf kaltem Schleim über seinen Rücken. Heydrich, Goebbels, Göring, Stalin, Pol Pot und Mao. Und jetzt also auch dieser Talaat Pascha. Er sah den Rauch aus den Öfen der Krematorien, er hörte die Schreie der Verdammten und das Wimmern verhungernder Kinder.

      »Scheiße«, sagte er. »So eine beknackte Scheiße. Und jetzt?«

      »Jetzt sitze ich hier und weiß nicht weiter.«

      »Wann ist es passiert?«

      »Letzten Freitag. Nach – diesem Abend.«

      Dann begann Anahid Bedrosian zu weinen. Sie verbarg das Gesicht in den Händen, schluchzte, zitterte, wiegte sich, jammerte in einer fremden Sprache, flüsterte etwas, das wie Namen klang. Was sollte er tun? Durfte er die Frau in den Arm nehmen? Durfte er einen Menschen in seiner Verzweiflung beglotzen? Schlüter stand auf, drehte sich um und


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