Das armenische Tor. Wilfried Eggers
nach wenigen Kilometern in den Stadtteil jenseits der Bundesstraße, in dem die Gewerbe ihre Niederlassungen hatten. Baustoffhandel, Gartencenter, Baumarkt, Großhandel. Seit einigen Jahren gab es dort ein Krematorium, nicht weit von der ehemaligen Kaserne entfernt, die sich weiter im Süden an den Stadtteil anschloss und nun ein ziviles Wohngebiet geworden war. Hier hatte der Frieden Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet, damals, in der kurzen Zeit, als man geglaubt hatte, es wäre für immer. Ein findiger Unternehmer hatte gemerkt, dass die Feuerbestattung in Mode gekommen war, und das Geschäft mit dem Tod nicht den Hamburgern überlassen wollen.
»Wir haben da ein paar Fächer gemietet«, erklärte Staschinsky. »Falls mal jemand umgebracht wird.«
Er parkte den Wagen unter einer Reihe hoher Pappeln, sie stiegen aus und betraten das Gebäude aus dunklem Klinker. Vor dem Eingang standen beidseits der pietätgetönten Glastür zwei halbhohe tönerne Gefäße, in denen immergrünes Trauerkraut wuchs. Schlüter prüfte die Blätter im Vorbeigehen. Doch kein Plastik, dachte er.
Während Staschinsky die Formalitäten klärte, versuchte Schlüter, sein Seelenleben zu befrieden, den wirbelnden Gedanken Einhalt zu gebieten, damit sie Ruhe gaben für eine Minute oder zwei und sich der Staub setzte und sein Bewusstsein klar werden würde, gewappnet wäre für die Begegnung mit dem Tod. Der Tod, sagte man, ist der Lehrmeister des Lebens, aber niemand hat Lust, wieder Schüler zu werden. Das hat man hinter sich.
Sie betraten den Kühlraum. Ihnen schlug der kalte Hauch des Jenseits entgegen. Wie riechen Tote?, fragte sich Schlüter. Unterscheidet sich der Geruch von dem in einer Schlachterei? Die Toten lagen in ihren Särgen, die Deckel verschlossen, ungefähr zehn standen unregelmäßig hintereinander in dem Raum, man hatte sie hineingetragen und achtlos abgestellt. Hier war kein Fenster, das man öffnen konnte, um der Seele Freiheit zu geben, damit sie aus dem Verlies des Leibes fliehen konnte. Hier brannte keine Kerze und es gab kein Kreuz und keinen Trost. Staschinsky näherte sich einer metallenen Pritsche auf der linken Seite und lüpfte das Laken vom Gesicht des Toten.
»Kennen Sie den?«
Schlüter sah hinab auf ein junges Gesicht, aus dem eine markante Nase hervortrat, mit stumpfer Spitze und einer Kerbe im Übergang zur Stirn. Hautfarbe dunkel, fast bronzefarben. Glatt rasiert, erste dunkle Sprossen – vielleicht die Vorstufe der Mumifizierung, halblange schwarze Haare, ein paar graue darunter, halb geschlossene Augen, zwischen den Lidern ein mattes Blinzeln, der Mund leicht geöffnet, vielleicht vom letzten Atemzug, zwischen den Lippen zwei trockene Zähne.
Grau ist der Tod, nicht schwarz. Was unterscheidet einen Toten von einem Lebendigen? Wie verlässt das Leben den Leib? Wann entschließt sich das mutige Herz, dass es aufhören muss zu schlagen? Wie fühlt sich der letzte Atemzug an, wenn das Bewusstsein des eigenen Endes gewiss wird?
So jung, wohl keine dreißig Jahre alt, und so viele Pläne, und dann der Abgrund, das Nichts. Und was sind deine letzten Gedanken, bevor die Schwärze der ewigen Nacht dein Ich auslöscht? Oder bleibt es bestehen, da du es doch seit deinen frühen Tagen als einzigartig und ewig empfindest, den Kosmos deiner einmaligen Existenz?
»Dreizehnmal Kartoffeln pflanzen noch«, hatte Christa im Frühling gesagt, »dann ist Feierabend.« Und gelacht.
»Nein. Nie gesehen.«
Was hatte der Mann von Schlüter gewollt? Und was wäre passiert, wenn er, Schlüter, das Telefonat sofort angenommen hätte, anstatt nach dem Kalender zu suchen?
»Wie …?«
»Erstochen«, antwortete Staschinsky. »Augenscheinlich nach einem Kampf. Der zerrissene Zettel mit den Krückstöcken, um den könnte es gegangen sein. Er hat sich verteidigt, es gibt einen Schnitt in seinem linken Unterarm, er hat versucht, den Täter abzuwehren. Soll ich …?«
Schlüter wurde schwarz vor Augen. Er hielt sich am Handgriff der Bahre fest, bis er wieder sehen konnte, drehte sich um und verließ den Kühlraum. Als sie draußen waren, atmete er die frische Luft der lebendigen Natur ein und schaute sich um, als sähe er alles zum ersten Mal. Das Rauschen des Windes in den Ästen der Pappeln, die ersten gelben Kätzchen an den Weiden, ein Hauch von Grün war zu erahnen. April, der Monat, in dem alles erwachte und manche sterben mussten.
»Haben Sie einen Garten?«, fragte Schlüter.
»Nee, bloß nicht. Macht nur Arbeit.«
»Dann pflanzen Sie keine Kartoffeln?«
Staschinsky sah ihn von der Seite an.
»Ich brauche einen Kaffee«, sagte Schlüter. »Kommen Sie mit?«
Staschinsky nickte und sie stiegen in das Dienstfahrzeug. In der Nähe des Baumarkts gab es ein Café, gleich neben dem Fliesenmarkt. Sie holten sich jeder einen Pott Kaffee vom Tresen und setzten sich an einen der hohen Tische auf zwei Hocker. Nebenan verzehrten Handwerker in Latzhosen, den Zollstock am Schenkel, ihre Currywurst.
»Armenisch«, sagte Schlüter, nachdem er den ersten Schluck getrunken hatte. »Das könnte armenische Schrift sein.«
Es ist bereits mitgeteilt worden, dass die Regierung beschlossen hat, alle Armenier, die in der Türkei wohnen, gänzlich auszurotten. Diejenigen, die sich diesem Befehl und diesem Beschluss widersetzen, verlieren ihre Staatsangehörigkeit. Ohne Rücksicht auf Frauen, Kinder und Kranke, so tragisch die Mittel der Ausrottung auch sein mögen, ist, ohne auf die Gefühle des Gewissens zu hören, ihrem Dasein ein Ende zu machen.
Talaat Pascha, Innenminister und Großwesir des Osmanischen Reichs und Führer der Jungtürken, am 15. September 1915
5
»Man hat mich vergewaltigt«, sagte die Frau.
»Wer – man?«, fragte Schlüter.
Statt einer Antwort griff die Frau nach ihrer Tasche und zog ein Bündel Blätter hervor. Sie hatte eine starke Nase und große braune Augen.
»Die.« Sie legte die Papiere auf den Schreibtisch.
Schlüter wagte es nicht, die Unterlagen zur Seite zu schieben und weitere Fragen zu stellen. Die Frau auf der anderen Seite des Schreibtischs saß mit gesenktem Kopf, die schwarzen Haare vor den Augen, biss sich auf die Lippen und schwieg. Ein falsches Wort und sie würde das Vertrauen verlieren. Seit Matthias der Gerechte in seine Kanzlei eingezogen war, hatte er, der Senior, gewisse Freiheiten und eine davon war, Mandantengespräche zu führen, so lange er wollte, und in diesem speziellen Fall die, zu schweigen und zu lesen. Es half nichts. Was sollte das für eine Woche werden? Gestern hatte er einen Toten besichtigt und heute musste er sich eine Vergewaltigung anhören. Anahid Bedrosian hatte im Terminkalender gestanden.
Schlüter fächerte die Papiere auseinander. Es handelte sich um Text auf weißem Grund und die Kopie eines Zeitungsartikels, Hemmstedter Tageblatt. Er nahm sich die Blätter mit dem Text und las:
Talaat
Wenn ich eine gegenteilige Sichtweise der Berichte christlicher Quellen äußern darf, dann ist der sogenannte Genozid, der den Türken zur Last gelegt wird, eine internationale Lüge. Meine Intention war es, Menschen zu erreichen, die frei, unabhängig, analytisch und kreativ denken, die die Wahrheit kennen, nur auf Tatsachen vertrauen und sich auf die guten Werte unserer ruhmreichen Vergangenheit besinnen. Der Völkermordvorwurf, der durch zahllose Publikationen geistert, ist eine Farce, eine Maskerade, die für die internationale Gemeinschaft aufgeführt wird. Sie verspotten die Menschen und lügen die ganze Welt an. Unsere Nation kann nicht länger diejenigen dulden, die die großzügigen, in unserer Verfassung verankerten Freiheiten missbrauchen, diejenigen, die das demokratische System durch irgendeine Art von Faschismus, Anarchie, Zerstörung und sogar Separatismus ersetzen wollen. Diese Scharade dauert jetzt lange genug an. Was die Armenier angeht, so sind fast alle an Krankheiten gestorben. Allah hat damit die Besitzverhältnisse unmissverständlich geklärt. Wer wen auf welche Art wegmacht, wer wen vertreibt und wer sich in der Ausführung eines Genozids befindet, zeigen die Vorkommnisse von Berg-Karabach ganz offen und ganz klar.
»So etwas wie ein Genozid liegt unserer Gesellschaft fern. Wir werden einen solchen Vorwurf niemals akzeptieren.«