Das armenische Tor. Wilfried Eggers
lange auf sich warten lassen, selbst wenn Anahid Bedrosian schon morgen Strafantrag stellen würde. Besser, darüber ebenso zu schweigen, zunächst. Er bat sie nur, einen schriftlichen Bericht anzufertigen, möglichst bald, für alle Fälle, und dafür, wenn nötig, auf die letzten Kräfte zu setzen.
Also schwiegen sie.
Da das Leben bunt und vielfältig war, hätten sie über alles Mögliche reden können. Über das Wetter, den letzten Urlaub oder die halb fertige Autobahn, auf der sie jetzt nicht fahren durften, denn man hatte vor wenigen Monaten nur die Gegenrichtung freigegeben, nach fünfzigjähriger Planungs- und Bauzeit, mit feierlicher Einweihung und einer Höchstgeschwindigkeit von fünfzig Stundenkilometern. In Richtung Hamburg musste man sich immer noch auf der Bundesstraße in langen Kolonnen durch die Dörfer quälen, die die Elbe säumten. Denn die Hamburger Pfeffersäcke wollten die Autobahn nicht, weil man darauf nicht nur hin-, sondern auch wegfahren konnte, zu billigeren Gewerbegrundstücken. Sie trauten sich bloß nicht, das zu sagen, sie planten und planten. Doch es war, als hätte Schlüters Schweigeverdikt alle anderen Themen erstickt, denn Anahid Bedrosian schwieg und Schlüter konnte in den Tiefen seiner Gedanken versinken.
Er dachte darüber nach, wann er heute Abend etwas zu essen bekommen würde oder wenigstens eine Tasse Tee, wann der Lastwagen vor ihm endlich abbiegen würde und wie viele Wochen es noch bis Pfingsten waren und wann er den Professor kennengelernt hatte. Vor Jahren in einer Strafsache. Schlüter hatte in der Nebenklage einen Vierzehnjährigen vertreten, der vom Nachbarn missbraucht worden war. Grässliche Geschichte. Die Verteidigerin hatte behauptet, das Glied eines erwachsenen Mannes hätte den Anus des Knaben wenigstens anreißen müssen. Der sei aber unversehrt gewesen. Deshalb könne der Angeklagte die Tat nicht begangen haben.
»Was meinen Sie, was da alles reingeht«, hatte der Sachverständige geantwortet und sich nicht von dem überdimensionalen Dildo abschrecken lassen, den die Verteidigerin des Angeklagten daraufhin aus ihrer Handtasche hervorgeholt und in der Luft geschwenkt hatte, vor den Augen der Schöffinnen, die Mühe hatten, ihr Entsetzen zu verbergen. Immerhin hatte dieser Prozess der Verteidigerin den Kosenamen ›Dildo-Berthold‹ eingetragen, ein Name, der bleiben und ihren Ruhm der Nachwelt überliefern würde.
»Kennen Sie sich in Hamburg aus?«, verscheuchte Schlüter seine Gedanken.
»Ja, einigermaßen.«
»Ich nicht.«
»Haben Sie kein Navi?«
»Nein, ich trau den Dingern nicht, und außerdem … Butenfeld heißt das da. Im Handschuhfach ist eine Karte.«
Schlüter war schon lange nicht mehr mit dem Auto nach Hamburg gefahren. Vor einigen Jahren hatte Hemmstedt einen S-Bahn-Anschluss und ein zweites Gleis bekommen und man war nicht mehr auf die bemalten Kartoffelkisten der Bundesbahn angewiesen.
Nach knapp zwei Stunden bog Schlüter auf das Klinikgelände ab. Nach einer weiteren Viertelstunde saß er allein unter dem gleißenden Neonlicht eines Wartezimmers und las in einer zwei Jahre alten Zeitschrift einen Artikel über die suizidale und akzidentielle Kohlenmonoxidintoxikation durch das Abbrennen von Holzkohle in geschlossenen Räumen.
7
Schlüter mühte sich, die Unterhaltssache Rimmel gegen Rimmel in den Griff zu kriegen, während der Gerechte zum Termin bei Gericht war. Heute war Gerichtstag, am Mittwoch fanden die meisten Verhandlungen statt. Er konnte sich nicht konzentrieren, der gestrige Tag hatte zu lange gedauert. Er war erst abends gegen zehn Uhr von Hamburg nach Hause zurückgekehrt. Nachmittags würde er freimachen. Hoffentlich verlangte Christa nicht, dass er ihr im Garten half. So würde er vielleicht zum Lesen kommen. Er würde seine abseitige Lektüre fortsetzen und Knut Hamsuns Buch studieren, das der Mann als über Achtzigjähriger im Knast geschrieben hatte, nachdem er wegen Hochverrats verurteilt worden war. Er hatte die Nazis toll gefunden. Hamsun war der Beweis, dass Schriftsteller gleichzeitig dumm und genial sein können, sehr interessant.
Das Telefon klingelte, Angela stellte Staschinsky durch und der fragte, ob er vorbeikommen könne, es gebe neue Erkenntnisse. Schlüter sagte zu.
Der Tag war gelaufen. Schlüters Elan, die Klageerwiderung zu diktieren, erlahmte schlagartig. Ich muss aufhören, Familiensachen zu machen, dachte er. Es gab so viel Elend unter den Dächern Hemmstedts und Umgebung. Unter jedem Dach ein Ach, so hieß es. Wo liegen Himmel und Hölle am dichtesten beieinander? In der Familie. Liebe und Hass. Himmelhoch, abgrundtief. Dazwischen nur ein dünner Vorhang, durchsichtig natürlich. Jeder Tag bot die Gelegenheit zum Wechsel. Familiensachen zogen ihn tief hinunter. Aber was blieb ihm übrig, nachdem er sich schon seit vielen Jahren weigerte, Strafverteidigungen zu übernehmen? Nicht dass er etwas gegen Straftäter hatte oder, wenn man vorurteilsfrei denken wollte, solche, die einer Straftat verdächtig waren. Das waren, wie er gelernt hatte, Menschen wie du und ich. Nur hatten sie in einem unbedachten Moment die falsche Entscheidung getroffen oder sich nicht unter Kontrolle gehabt. Wer konnte von sich behaupten, er hätte sich stets unter Kontrolle? Mörder konnten sehr nett sein. Besonders die mit der kalten Scheidung. Die ihre Frau getötet hatten. Auf dem Gebiet brach das Patriarchat durch. Der Grund allen Übels, die ungehorsame Frau, sie war beseitigt, es konnte Frieden einkehren. Der Mann hatte seine Ruhe, und was will ein Mann mehr? Er bereute natürlich, wie es sich gehörte im christlichen Abendland. Das nächste Mal würde er eine bessere nehmen. Die anderen aber, die noch im Streit lebten und den Menschen, den sie hassten, vorerst weiter ertrugen, waren nicht milde, sondern ungeduldig, aggressiv, rechthaberisch und kleinlich.
»Damit soll sie nicht durchkommen. Ich sehe nicht ein, dass …«
Und Herr Rimmel war partout nicht bereit, der Frau, die ihm nicht mehr zu Willen war, den ihr zustehenden Trennungsunterhalt zu zahlen. Und natürlich war er der betrogenste Ehemann der Welt, einzigartig und unwiederholbar, er trug das längste Horn auf seiner Stirn. Herr Rimmel arbeitete in dem großen amerikanischen Chemiekonzern, der mit seiner Filiale an der Elbe das einst freundliche Gesicht von Hemmstedt in einen Hintern verwandelt hatte, aus dem die Abgase in den Himmel stiegen. Obwohl mit den einfließenden Gewerbesteuern die Altstadt renoviert worden war.
Die Welt war voller Rimmels.
Schlüter warf die Akte zurück auf seinen Sorgenstapel und stand auf, um sich einen Tee zu kochen, während er sich fragte, ob das, was er heute im Büro tat, wirklich sein freier Wille war.
»Wollen Sie auch einen?«, fragte er Staschinsky, als der eingetroffen war.
»Nee, danke. Aber wenn Sie Kaffee haben …«
»Beamtenkaffee oder einen, den man trinken kann?«
»Quälen Sie mich nicht!«
Schlüter klingelte bei Angela durch und bat sie, für Kaffee zu sorgen. Frischen Kaffee hatte der Polizist wahrscheinlich seit Monaten nicht getrunken, nur diese Behördenplörre. Er selbst würde Tee trinken, Ostfriesentee, wie immer, aus einer großen Tasse, in die man die Nase stecken konnte.
»Was gibt’s Neues?«, erkundigte sich Schlüter.
»Nichts. Wir wissen immer noch nicht, wer der Tote ist. Keine Vermisstenmeldung. Als hätte er nie existiert.«
»Mhm«, machte Schlüter. »Haben Sie in England nachgefragt?«
»Klar. Nichts.« Staschinsky zog eine Klarsichtfolie aus der Mappe. »Aber sehen Sie hier. Ich habe eine Kopie machen lassen. Vergrößert. Und da ist die Übersetzung. Die Krückstöcke sind entziffert. Gratuliere, das ist tatsächlich Armenisch.« Er schob zwei Blätter über den Schreibtisch.
Schlüter las:
35. Krikoris Berberjan, Yozgat
36. Hagop Svazlian, Van
37. Mikajel Jardemjan, Sebastia
38. Sarkis Vartanian, Al Tevle
39. Harutjun Chajacanjan, Harput
0. Torkom Incerabejan, Sancak
Leben
»Eine Namensliste und Orte. Kenne ich nicht alle.«
Staschinsky