Das armenische Tor. Wilfried Eggers

Das armenische Tor - Wilfried Eggers


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es um einen Mietvertrag.

      »Ja. Sind wir.«

      Schlüter zog eine Vollmacht aus der Schublade, füllte sie aus mit Vorfall vom und dem Datum des Geschehens, setzte unten das Tagesdatum ein, drehte das Formular um und bat die Mandantin um Unterschrift.

      Anahid Bedrosian studierte den Zettel, strich das Wort Vorfall durch und ersetzte es durch Vergewaltigung. Sie unterschrieb und schob den Zettel zurück.

      »Ich bin für klare Worte«, sagte sie und fügte hinzu: »Wir Armenier sind für genaue Sprache. Das Wort ist das Einzige, das wir haben, um uns zu behaupten. Wir haben keine Gewehre und oft nicht einmal Gesetze. Nur das Wort.« Sie nahm ihre Handtasche und schickte sich an zu gehen, hielt jedoch inne. »Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen? Kennen Sie sich aus im Ausländerrecht?«

      »Nee.«

      Seit der Sache mit Gül und Cengi, die fast zehn Jahre zurücklag, war es Schlüter gelungen, Ausländersachen zu meiden. Ein Rechtsgebiet, das spezielle Kenntnisse verlangte. Die gingen einem Zivilrechtsanwalt ab, der meistens Familiensachen bearbeitete.

      »Ich bin nach einem Anwalt gefragt worden. Ein armenisches Schicksal. Ein anderes. Es ist dringend.«

      Dringend. Wie oft hatte er dieses Wort schon gehört? Doch aus dem Mund dieser malträtierten Frau klang es nach dem, was es bedeutete.

      »Berichten Sie. Bitte nehmen Sie wieder Platz.«

      Eine Freundin habe sich an sie gewandt. Eine armenische Familie, die in Jesteburg lebe, brauche Hilfe. Ein Ehepaar, das mit ihrem Sohn vor gut zehn Jahren aus Aserbaidschan nach Deutschland geflohen sei, nachdem einer ihrer Söhne beim Militär zu Tode gekommen sei. Der zweite Sohn, mittlerweile erwachsen, habe mit einer deutschen Frau ein Kind. Der Asylantrag der Eltern sei rechtskräftig abgelehnt, der Aufenthalt stets nur befristet genehmigt worden, im Verlauf des letzten Jahres immer nur für einen Monat. Und neulich habe man den Vater verhaftet und in Abschiebehaft nach Hannover gebracht. Dort habe er sich nach drei Tagen erhängt.

      »Was?«, fuhr Schlüter auf.

      »Ja. Er hat sich erhängt. Mit dem Kabel seines Wasserkochers.«

      »Fürchterlich.« Fast hätte Schlüter gefragt: Geht das? Er schüttelte den Kopf und stellte sich den Wasserkocher in seiner Teeküche vor. Konnte man sich mit so einer Schnur erhängen? Offensichtlich ja. Wie lange dauerte es, bis man ohnmächtig wurde? Würde man nach Luft ringen?

      »Und warum?«, fragte er. »Ich meine, die Abschiebung, war das der Grund?«

      »Ich weiß es nicht«, antwortete Anahid Bedrosian. »Ich glaube, er hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Aber es liegt auf der Hand, finde ich. Die Familie ist völlig fertig, besonders die Frau. Sie hat jetzt Angst, dass sie auch abgeschoben wird, trotz dieser – Geschichte.«

      »Ich habe davon null Ahnung«, warnte Schlüter.

      Er hatte solche Anfragen stets an den Kollegen Muth verwiesen, der anständig war und den Leuten nichts vorgaukelte. Doch Muth war vor zwei Jahren in Rente gegangen und in die Lücke auf dem Paragrafenmarkt war der Kollege Kötherau gestoßen, der sich sonst als Strafverteidiger von Drogen- und Kleinkriminellen verdingte, deren Ausbeutung sich für Hümmelsee nicht lohnte. Hümmelsee wollte fettes Brot, keine Krumen. Er wollte lange Verfahren, die ihm ein kalkulierbares Staatseinkommen als Pflichtverteidiger boten.

      Schlüter kannte Kötherau kaum, hatte allerdings von Genta, der kosovarischen Putzfrau, die zu Hause im Hollenflether Moor aushalf, nichts Gutes gehört. Kötherau ließ sich hohe Vorschüsse zahlen und kassierte außerdem Prozesskostenhilfe ab, was ungesetzlich und sogar strafbar war. Vorschüsse, die sich die abschiebungsbedrohten Mandanten von der Sozialhilfe, also vom Munde absparen mussten, denn selten hatte einer von ihnen eine Arbeitserlaubnis und konnte verdienen.

      »Würden Sie sich die Papiere trotzdem einmal ansehen? Übrigens, das ist am selben Tag geschehen, als ich – vergewaltigt wurde.«

      Sie umschrieb es nicht, sie wich dem Wort nicht aus.

      »Moment«, rief Schlüter. »Ich bin ja so dumm!« Ihm war eingefallen, dass seine Kanzlei Schlüter & Martens hieß. Er drückte auf den Telefonknopf. Matthias meldete sich, Schlüter bat ihn, kurz vorbeizuschauen, und nach einer Minute stand er in der Tür, mit seinem exakt gescheitelten und über der Stirn dezent mit Gel veredelten Kurzhaar. Er sah zwar aus wie ein Klugscheißer im fünften Semester, doch er war tatsächlich ziemlich klug und in Wirklichkeit schon fünfunddreißig. Vielleicht verdankte er seine Erscheinung der Tatsache, dass er nicht rauchte, keinen Tropfen Alkohol trank und Optimist war.

      »Was liegt an?«, fragte Matthias der Gerechte. Er hatte die Gabe, stets guter Laune zu sein, trotz seines fanatischen Gerechtigkeitssinns, der, so wie die Welt nun einmal war, häufig zu Enttäuschung und dem Gefühl von Ohnmacht führen musste, ganz abgesehen von dem Ärger, den verlorene Prozesse einbrachten. Wer Rechtsanwalt war, musste verlieren können, denn das Blatt, mit dem man spielte, hatten stets andere gemischt.

      »Wir müssen dir die Laune verderben«, sagte Schlüter. Er berichtete. Martens’ Gesicht wurde ernst. Das stand ihm nicht schlecht, denn jetzt sah er aus wie im neunten Semester. Vielleicht würde er es nach ein paar verlorenen Prozessen so weit bringen, dass er so alt aussah, wie er war.

      »Seit mehr als zehn Jahren in Deutschland?«, vergewisserte sich der Gerechte.

      Anahid Bedrosian nickte.

      »Und nichts Böses getan?«

      Sie schüttelte den Kopf.

      Martens stand mit seinen bunten Schuhen in der Tür. Die hatte er sich in Hamburg gekauft, hatte er berichtet. Grün, blau und rot. ›Papageienschuhe‹ hatte Schlüter sie genannt, um den Kollegen ein wenig zu ärgern. Angela finde sie »geil«, hatte Martens erwidert.

      »Und woher kommen die?«, fragte Martens und stellte sich ins Zimmer.

      »Aus Nachitschewan. Aus Julfa«, klärte Anahid Bedrosian auf, als hätte es sich um ein Land wie Dänemark und eine Stadt wie Kolding gehandelt.

      »Hä? Wo ist das denn?«, wunderte sich der Gerechte und wippte auf seinen Buntschuhen. »Das klingt wie Transnistrien oder Kabardino-Balkarien und riecht nach Gesetzlosigkeit.«

      »Richtig. Auf jeden Fall, was die Armenier dort betrifft. Das gehört zu Aserbaidschan. Aber die Einzelheiten … Das führt jetzt vielleicht …«

      »Wo liegt das?«, insistierte Martens. »Zeig mir das mal«, wandte er sich Schlüter zu.

      Schlüter tippte den Namen des Landes ein. »Da«, sagte er und drehte den Bildschirm so, dass die anderen sehen konnten.

      Martens beugte den Kopf. »Hab ich nie gehört.«

      »Ich auch nicht.« Schlüter drückte auf die Satellitenfunktion.

      Ein schmaler Landstrich, gebirgig und eingeklemmt zwischen dem Iran und Armenien, mit einem Flaschenhals Richtung Türkei.

      »Nachitschewan gehört zu Aserbaidschan«, erläuterte Anahid Bedrosian. »Eine Exklave. Da ist Jerewan.« Sie zeigte auf den Monitor. »Armenien. Dahin wollten sie den Mann abschieben. Allein.«

      »Nach Armenien? Obwohl er aus Aserbaidschan kam? Da stimmt was nicht! Das kann doch wohl nicht wahr sein!«, legte Martens los. »Zehn Jahre und immer noch keine Klarheit? Und dann Selbstmord? Was machen die Behördenfritzen mit den Menschen? Natürlich müssen die anderen hierbleiben, was sonst! Ich übernehme den Fall!«

      Anahid Bedrosian warf einen erstaunten Blick auf Schlüter und einen dankbaren auf Martens, der an seinen Papageienschuhen kleben blieb.

      »Na ja«, meinte Schlüter. »Ich rege mich eher im Stillen auf, ich …«

      »Das muss raus!«, rief Matthias der Gerechte. »Selbstmord, Herr Kollege!«

      Anahid Bedrosian winkte ab. Das sei unwichtig, sagte sie, ob und wie sich einer aufrege. Sie versprach, die Papiere der armenischen Familie aus Jesteburg so schnell wie möglich zu besorgen und Herrn Martens vorzulegen.


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