Das armenische Tor. Wilfried Eggers
Karten stehen.«
»Harput, das ist heute Elazığ. Große Stadt, das. Halbe Million Einwohner. Türken, Kurden, hauptsächlich Zaza.«
»Zaza? Ach, ich weiß, Sie meinen diese Leute, die …«
»Genau. Aber das ist egal hier. Die beiden anderen sind wahrscheinlich Namen, die es nicht mehr gibt.«
Schlüter erklärte dem Polizisten, dass in der Türkei alle Orte umbenannt worden seien, eine der vielen Maßnahmen von Herrn Atatürk zur Zerstörung der Kultur des Landes, der Kurden, Zaza und aller anderen Minderheiten. Ein Land, eine Sprache, eine Religion, eine Rasse. Allen Menschen, die noch keinen Nachnamen hatten, und das waren die meisten, wurde ab 1934 ein neuer türkischer Nachname verordnet.
»Sie wurden regelrecht umgetürkt. Zum Beispiel Öztürk, das bedeutet so viel wie reinrassiger Türke, wahrer Türke. Ein Mann, der nur türkisches Blut hat. Oder Aktürk: makelloser Türke. Davon haben die massenhaft. Das ist wie Schulze und Müller.« Schlüter zog das Blatt mit der Übersetzung heran. »Sancak liegt in den Bergen nördlich von Bingöl«, ergänzte er. »Ein paar Hundert Kilometer vor der irakischen Grenze. Ein armseliges Kaff, in dem es nur Steine und gestapelte Schafscheiße gibt.«
»Mann, Sie kennen sich aus. Sie sind ja der reinste Experte!«
»Nee, bin ich nicht«, widersprach Schlüter. »Ich bin ein Opfer und habe eine posttraumatische Belastungsstörung.« Er grinste gequält. »Kriegszittern hieß das früher.«
»Haha.«
Schlüter beließ es dabei. Man soll die Wahrheit sagen, dachte er, auch wenn es keiner glaubt.
»Al Tevle und Sebastia kenne ich nicht. Und das letzte Wort?«, fragte er, noch unsicher in der Stimme. »Leben. Was soll das?«
»Da ist der Zettel abgerissen. Wir haben nur einen Teil eines Wortes. So wie die unterste Zahl, das war wohl die Vierzig. Der Übersetzer sagt, dass das wahrscheinlich ›Leben‹ bedeutet. Es fehlt dazu aber ein armenischer Buchstabe. Sicher ist er sich nicht. Darauf können wir uns bislang noch keinen Reim machen.«
Sie saßen beidseits des Schreibtischs und starrten auf die Zettel, als müssten sie nur still sein und die Zettel würden anfangen zu sprechen und ihre Geschichte erzählen.
»Diese Namensliste«, sinnierte Staschinsky, »die war dem Toten so wichtig, dass er mit dem Mörder darum gekämpft hat. Im Sterben hat er diesen Schnipsel gerettet. Ich könnte mir denken, er wollte Ihnen die Liste geben und Sie sollten etwas tun im Zusammenhang damit. Nur was?«
Schlüter nahm einen langen Schluck aus seiner Tasse. Dann stand er auf, drehte Staschinsky den Rücken zu und starrte an die Wand. Atmete fünfmal tief durch. Das half manchmal, wenn die Angst nach ihm griff.
»Ist was?«
»Und ob«, antwortete Schlüter. »In Elazığ war ich mal. Und an anderen Orten. Unter sehr hässlichen Umständen. Ich …« Er schnappte nach Luft und zwang sich, einen weiteren Schluck Tee zu nehmen. Atmete wieder fünfmal tief durch. Schüttelte stumm den Kopf.
»Ist was?«, fragte Staschinsky noch einmal.
»Ich muss pinkeln«, sagte Schlüter mit halber Stimme und verließ den Raum. Durchquerte den Flur. Öffnete die Tür zu seinem ehemaligen Arbeitszimmer, das er an den Gerechten abgetreten hatte. Der war vom Termin zurück und saß hinter seinem Drei-Quadratmeter-Schreibtisch und reckte sich im Drehsessel, als er seinen Senior sah. Ein munterer Bursche ohne Falten, innerlich wie äußerlich. Unangefochten und ansteckend optimistisch. Nur drei Akten, wie machte der Kerl das nur?
»Zu Diensten!«, sagte der Gerechte und deutete einen Soldatengruß an. »Ist was?«
Schlüter blieb stumm. Lehnte schief an der Türfüllung. Ließ den Atem ausstreichen. Zog die Hände aus den Hosentaschen. Sie zitterten nicht mehr. Sah sich lange das fröhliche Gesicht des Gerechten an. Wunderte sich, wie man nach zwei Staatsexamen so jung und unverbraucht aussehen konnte, wie im fünften Semester.
»Ich habe eine Frage«, sagte Schlüter.
»Geht es dir nicht gut? Du bist ziemlich blass, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Deine Stimme …«
Schlüter schüttelte den Kopf. »Ich leide mal wieder. Ab und zu erlaube ich mir, mich zu wichtig zu nehmen. Danke dir. Und du? Was macht die Herzdame in Hamburg?«
»Welche Herzdame?«, fragte Martens mit düsterem Gesicht.
»Ach du Sch…«
»Vergiss es.« Martens wurde unwirsch. »Das Leben geht weiter.«
Schlüter überlegte, ob es daran gelegen hatte, dass Martens aussah, als hätte er noch die Eierschalen an den Ohren. Frauen wollten Kerle, keine Grünschnäbel. Dachten jedenfalls die Männer.
»Deine Frage?«
»Kannst du mit dem Namen ›Sebastia‹ was anfangen? Könnte ein Ort sein.«
Matthias der Gerechte wandte sich dem Rechner zu, zog die Tastatur heran, tippte, tanzte mit der Maus und sagte nach kaum einer Minute: »Könnte ein Dorf in den palästinensischen Autonomiegebieten sein, bei Nablus, viertausendfünfhundert Einwohner. Oder, Moment, ein Stadtteil von Jerewan, Armenien. Oder es ist der armenische Name von Sivas, Anatolien, Türkei.«
Schlüter konnte wieder grinsen. »Wieso bist du eigentlich nicht zur Polizei gegangen?«
Bevor der Gerechte antworten konnte, machte Schlüter die Tür zu und kehrte zu Staschinsky zurück, langte nach der Folie, in der der Krückstockzettel lag und die Übersetzung, und verließ sein Arbeitszimmer ein zweites Mal mit der Bemerkung: »Muss ich meinem Junior zeigen.«
Er eilte zu Angela, warf die Krückstöcke auf den Kopierer und erlaubte sich einen Blick auf die Kakteen.
»Verwahren Sie das bitte für mich«, bat er und ging langsam zurück.
Er setzte sich nicht hinter seinen Schreibtisch, sondern auf einen der Besucherstühle, neben den Polizisten. Er berichtete von der Kurzrecherche seines Kompagnons.
»Ein paar Computerfritzen würden euch guttun«, sagte er. »Wenn Sie mich fragen, liegen die Orte alle in der Türkei. Al Tevle sicher auch. Der Name ›Jardemjan‹ gehört zu Sivas. Der armenische Name der Stadt war Sebastia. Jardemjan aus Sivas. Ich war mal da im Zusammenhang mit – einem Völkermord. Einem – anderen Völkermord. Das ist, wie ich schon sagte, eine andere Geschichte. Vielleicht wissen Sie, dass die Armenier von den Türken massakriert worden sind. 1915. Mindestens eine Million Menschen …«
»Ich habe mal davon gehört.«
Leben.
»Es geht um Leben auf diesem Zettel. Und um Tod.«
Um Namen auf einem Zettel, die dem Mörder wichtiger waren als das Leben des Toten.
»Ansprüche«, murmelte Schlüter. »Rechtsanwälte verteidigen Straftäter und sie zeigen welche an. Ich nicht mehr, damit das klar ist. Damit bin ich durch. Das scheidet sowieso aus, denke ich. Ansprüche, darum geht es. Rechtsanwälte machen Ansprüche geltend. Sie verlangen Schadensersatz, sie erheben Forderungen. Sie wollen Geld. Der Mann wollte zu mir wegen Geld. Er hatte Forderungen.«
»Wie? Und von wem? Wir müssen wissen, wer der Tote war. Vielleicht finden wir dann ein Motiv. Und dann finden wir vielleicht den Mörder.«
»Haben Sie DNA?«
»Klar. Immer jetzt. Massenhaft. Die Maschinerie läuft. Dauert noch. Aber wir wissen nicht, wo wir nach Vergleichsmaterial suchen müssen. Da hilft die beste DNA nichts.«
»Was bedeutet das?«
»Nichts. Erst mal. Wir brauchen Zeit.«
»Die Schrift sagt uns, dass der Tote möglicherweise Armenier war. Doch er sprach perfektes Englisch und in der Türkei gibt es keine Armenier mehr«, überlegte Schlüter laut. »Oder so gut wie keine. Und die letzten werden drangsaliert. Oder gleich umgebracht. Haben Sie mal was von Hrant Dink gehört?«