Das armenische Tor. Wilfried Eggers

Das armenische Tor - Wilfried Eggers


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im Januar auf offener Straße in Istanbul erschossen. Eine auf Versöhnung und Aufklärung bedachte Stimme Armeniens sei für immer verstummt. Der Täter sei verurteilt worden, aber die Hintermänner, die den Mordauftrag erteilt hätten, liefen frei herum. Dass es Hintermänner gebe, sei klar. Als Vollstrecker würden Minderjährige benutzt werden, sie bekämen eine geringere Strafe. Altes Mafiaprinzip. Taugt zur Mannwerdung. Der Initiationsritus des Bösen. Als die Polizisten den Jungen verhafteten, hätten sie zuerst ein Erinnerungsfoto gemacht, sie selbst mit Samast und dessen Eltern, allesamt unter der türkischen Flagge.

      »Sie haben mit Samast posiert, auch die Leute vom Geheimdienst. Sie haben ihm den Rücken geklopft. Alle lächelten stolz, herausgedrückte Brust. Die Polizisten sind alle noch im Dienst!«

      »Nicht so laut!«, bat Staschinsky und legte die Hände an die Ohren. »Und mit denen verhandeln sie über Europa. Wie soll das gehen?«

      »Nie«, grunzte Schlüter. »Nicht in meinem Leben. Nicht in zweihundert Jahren. Ein Staat, der seine christlichen Minderheiten ausrottet und seine eigene Geschichte leugnet, ist kein zivilisierter Staat! Lügen als Staatsräson! Dieses Land hat ein verfaultes Fundament! Das ist ohne Beispiel in der ganzen Weltgeschichte. Abgesehen von dem Massenmord an den Kommunisten Indonesiens.«

      Staschinsky hatte schon wieder seine Ohren angelegt. »Wir werden nie im Paradies sein«, flüsterte er. »Wahrscheinlich brauchen wir eine zweite Sintflut.«

      Schlüter holte Luft und machte den Mund wieder zu. »Kriegen wir ja vielleicht. Was bedeuten diese Namen?«

      »Mhm«, machte Staschinsky. »Keine Ahnung. Jedenfalls riecht das Ganze nach internationalen Verwicklungen. Können wir das?«

      Schlüter klappte die Arme auseinander. »Ich weiß nicht.«

      »Apropos ›können‹. Der Übersetzer hatte Schwierigkeiten. Er sagt, dass einige der Namen und Orte falsch geschrieben sind. Hier ist sein Kommentar.« Er zog ein Blatt aus seiner Tasche. »Bitte.«

      Schlüter überflog den Text. Der Übersetzer, ein Mann namens Acatyan, teilte mit, dass etliche Buchstaben falsch geschrieben seien und einige fehlten und der Urheber des Textes entweder die armenische Schrift nur unvollkommen beherrsche oder Legastheniker sei, was er mangels Fachkenntnis nicht entscheiden könne. Es folgte ein gelehrter Kommentar zum armenischen Alphabet.

      »Auch das noch«, seufzte Schlüter. »Vielleicht ist unser Mann kein Armenier. Vielleicht hat er den Text abgeschrieben und sich dabei verhauen und in Wahrheit nichts davon selbst verstanden.«

      »Eine Frage noch«, sagte Staschinsky. »Die Stimmen am Telefon. Die englische Stimme haben Sie beschrieben. Akzentfrei. Aber die andere, wie ordnen Sie die zu?«

      Schlüter dachte nach. Die andere Sprache habe er nicht verstanden. Vor allem habe er zu wenig davon gehört. Die könne er nirgendwo zuordnen.

      Dann saßen sie und schwiegen und sinnierten. Schlüter nutzte die Sendepause, um ihre Becher mit Kaffee und Tee zu füllen, und als sich seine Beine bewegten, kam auch sein Geist wieder in Schwung. Der Mensch muss gehen, Sitzen macht dumm.

      »Was ist mit dem Zettel?«, fragte er, als er wieder zur Tür hereinkam, mit vollen Tassen. »Diese Quittung oder was Sie neulich auf der Dienststelle hatten.«

      »Das Beste kommt zuletzt«, freute sich Staschinsky. »Tja, was soll ich sagen? Das ist tatsächlich eine Quittung. Ein Restaurant. Unser Mann hat gespeist. In, äh, Täbris.«

      »Wo?«

      »Täbris. Das liegt im Iran. Haben Sie eine Karte?«

      Schlüter stand auf, umrundete seinen Schreibtisch, klickte sich ins Netz und holte die Karte von Täbris auf den Bildschirm. Drehte ihn um und setzte sich neben den Polizisten.

      »Du heilige Scheiße«, murmelte Schlüter. »Da können wir lange warten, bis die uns den gemeldet haben. Achse des Bösen.«

      »Und für mich besonders böse. Ich kriege den Mord nicht aufgeklärt, wenn ich aus dem Iran nichts bekomme. Angeblich arbeiten die mit Interpol gut zusammen. Der Generalstaatsanwalt hat den schönen Namen Ghorbanali Dorri-Najafabadi. Das habe ich schon mal ermittelt, tolle Wurst. Den werden wir fragen. Und in sechs Monaten eine Antwort kriegen. Vielleicht.« Staschinskys kleine Gestalt sackte zusammen. »Ich hasse unaufgeklärte Morde«, schimpfte er.

      Warum hatte der Tote Schlüter die Liste mit den Namen zeigen wollen? Und warum war er ermordet worden? Welchen Auftrag hatte er Schlüter erteilen wollen? Diese Fragen würden vermutlich nie beantwortet werden.

      »Und welches Restaurant?«, erkundigte sich Schlüter.

      »Leo Café Restaurant heißt der Laden.« Staschinsky legte eine weitere Klarsichthülle auf den Schreibtisch. »Persisch. Haben wir ebenfalls übersetzen lassen. Der Mann hat am 11. Januar 1386 um zwanzig Uhr vier seine Rechnung bezahlt.«

      »1386?«

      »Islamische Zeitrechnung.« Staschinsky zog ein Notizbuch aus dem Jackett und schlug es auf. »Sie müssen von unserem Jahr sechshunderteinundzwanzig Jahre abziehen. Dann kommen Sie auf 1386.«

      »Und wieso sechshunderteinundzwanzig Jahre?«, wollte Schlüter wissen. »Ist Mohammed da geboren?«

      »Nein. Aber in dem Jahr – also in unserem Jahr 621 – ist Mohammed mit seinem Gefolge aus Mekka nach Medina geflohen. Das nennen sie die ›Hidschra‹, sagt der Übersetzer. Ein wichtiges Datum. Damit fing wohl der Islam an und deshalb fangen die von da an neu zu zählen.«

      »Und wieso Januar?«

      Staschinsky wedelte die Frage weg. »Spielt keine Rolle. Ich erkläre es trotzdem. Hab ich den Übersetzer auch gefragt. Das Jahr fängt im Iran mit dem Frühling an und das ist der 20. März. Ergibt doch Sinn. Der 11. Januar im Iran ist deshalb bei uns der 31. März. Der Mann war am 31. März in Täbris. Jedenfalls glaube ich das jetzt. Genau vierzehn Tage vor seinem Tod.«

      »Diese Mullahs!«, stöhnte Schlüter.

      »Das waren nicht die Mullahs. Unser Übersetzer hat gesagt, dass der iranische Kalender seit 1925 gilt, als das Land noch Persien hieß.«

      »Meine Landeskenntnis beschränkt sich auf ein paar Namen. Den Schah Reza, seine Frau Farah Diba und den Mullah Khomeini. Die Besetzung der amerikanischen Botschaft. Achse des Bösen. Ach, Benno Ohnesorg fällt mir noch ein. Den einer Ihrer Kollegen am 2. Juni 1967 in Berlin erschossen hat, am Rand einer Demonstration gegen den Schah. Damit fing bei uns auch eine neue Zeitrechnung an.«

      »Danke. Übrigens, der Übersetzer sagt, Iran heißt ›Land der Arier‹.«

      »Im Ernst?«

      Staschinsky nickte.

      »Wenn das die Nazis wüssten! Müsste man denen mal klarmachen. Sind sowieso schlechte Zeiten für Nazis, seit wir wissen, dass wir hier in Europa nur degenerierte Afrikaner sind, die sich mit den zurückgebliebenen Neandertalern vermischt haben. Aber Spaß beiseite. Also vorletzte Woche war der Mann in Täbris?«

      Staschinsky nahm sich die Übersetzung vor. »Ja. Einen sezer salad hat er gegessen. Also einen Caesar Salad. Für hunderttausend Rial. Und drei chiz chips, also Cheese Chips, für zweihundertvierzigtausend Rial, dreihundertvierzigtausend Rial hat er insgesamt bezahlt.«

      »Ganz schön teuer«, wunderte sich Schlüter.

      »Keine Ahnung, was das in Euro ist.«

      »Caesar Salad. Chips. In Täbris. Soso.«

      »Wir wissen sogar, wo das Lokal liegt. In der Straße Valman Nummer dreiundzwanzig. Zeigen Sie mal.«

      Schlüter gab die Adresse ein, mit zwei Fingern wie üblich, die Karte schnurrte zusammen auf einen Stadtteil von Täbris, ein roter Pfeil erschien.

      »Da ist es«, sagte Staschinsky. »Da muss er gewesen sein.«

      »So nah und doch so verdammt fern.«

      »Wenn ich da hinkönnte«, murmelte Staschinsky. »Ich müsste bekloppt sein, wenn ich dann nicht


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