Das armenische Tor. Wilfried Eggers
von ein paar Zigtausend Kurden und Russen und noch weniger Pontosgriechen und anderen Minderheiten, die man an einer Hand abzählen konnte.
Armenien war das ethnisch reinste Land der Welt geworden seit dem Krieg – und das im Kaukasus, einer Gegend, in der sich seit Jahrtausenden auf engstem Raum so viele Völker und Sprachen mischten wie sonst nirgendwo. Armenien den Armeniern! Dabei wollten fast alle auswandern, weil sie von den Oligarchen die Nase voll hatten, einer Handvoll Familien, die das Land in Besitz genommen hatten und ausbeuteten, jede Veränderung blockierten und die Politik kastrierten. Und wahrscheinlich auch von dem ewigen aghet, dem Völkermord, als sei das Leben reduziert auf das Überlebthaben, als bestünde es nur aus dem Blick zurück bis zum 24. April 1915 und auf das, was danach geschehen war, als gäbe es nichts anderes in der vieltausendjährigen Geschichte des Volkes. Der aghet verdunkelte den Alltag eines jeden Armeniers, warum? Weil der aghet Teil jeder armenischen Biografie war, weil die verfluchten Türken ihre Taten leugneten, in allen Ländern Einfluss nahmen, bis in die Provinzen hinein, bis zum kleinsten Theater. Auf das NATO-Mitglied musste man Rücksicht nehmen. So war man den Türken ein zweites Mal ausgeliefert. Man war gefangen und wartete, bis sie Reue zeigen würden, sich vielleicht gar entschuldigten.
Ohne Reue kein Verzeihen, stimmt das?
Was sollte er in Armenien?
Wo würde er dort ein Dach über dem Kopf finden? Wovon sich Essen kaufen? Bis vor drei Tagen hatte er in der Doppelhaushälfte gewohnt, die man ihm zugewiesen hatte, mit Antaram und Lewon, dem Jüngsten. Und nun befand er sich in Abschiebehaft in Hannover, in der Benkendorffstraße 32. Das hatte man ihm so gesagt.
Achtmal reichte die Schnur um das Handgelenk.
Antaram war schweigsam gewesen an diesem letzten Abend, von dem sie nicht gewusst hatten, dass es der letzte sein würde. Die Vorladung für den nächsten Tag hatte sie bedrückt.
»Mach dir keine Sorgen«, hatte er ihr ins Ohr geflüstert, als sie nebeneinander im Bett gelegen hatten. »Es wird alles gut gehen.«
Wie es bisher in all den Jahren, seit sie hier lebten, mehr als zehn waren es, immer gut gegangen war. Wenn man freundlich war, die Sprache lernte und einen guten Leumund hatte, dann würde es schon klappen. Er hatte ihr Nachthemd aufgeschoben und seine Hand auf ihre Brust gelegt. Das tat er immer noch gern, obwohl er achtundfünfzig war und sie fünfundfünfzig. Vier Kinder hatten sie großgezogen und mit jedem Kind waren ihre Brüste schöner geworden. So viel Milch, die daraus geflossen war!
Jezekiel Hakobyan öffnete die Augen. Er ließ die Schnur vom Handgelenk rollen. Jetzt hielt er nur noch den Stecker in der Hand, während der Kocher über dem Linoleumboden pendelte. Auf einen Meter dreißig schätzte er das Kabel. Er schwenkte den Kocher hin und her, drehte sich, hob die Hand, zog den Kopf ein und ließ das Gerät an der Schnur kreisen, erst langsam und dann schneller, noch schneller. Bis er die Schnur losließ.
Als die Beamten das Zimmer stürmten, lag er vor dem Doppelbett und weinte in seine Arme. Sein Gesicht konnten sie nicht sehen, nur die weißen Haare.
»Herr Hakobyan … stehen Sie auf.«
Er schluchzte.
»Stehen Sie auf bitte.«
Seine Schultern zuckten.
»Sie müssen jetzt aufstehen.«
Er wimmerte.
»Bitte, Herr Hakobyan …«
Er zog den Rotz hoch.
»So kommen Sie doch.«
Einer der Beamten berührte ihn an der Schulter. Hakobyan wandte sich blitzschnell um und wollte zuschlagen, aber das gelang ihm nicht, denn der zweite Beamte drehte ihm beide Arme auf den Rücken, während sich der dritte auf seine Beine setzte und seine strampelnden Füße hielt. Hakobyan wand sich mit plötzlicher Kraft, schrie, schnappte um sich, schlug mit dem Kopf auf den Boden. Es wurde Alarm geschlagen und erst, als zwei weitere Beamte herbeigeeilt waren, zwei sich auf ihn setzten und die anderen drei seine Gliedmaßen fixierten, gelang es ihnen, Hakobyan stillzulegen. So hielten sie ihn eine Weile, alle sechs schwer atmend, Hakobyan zwischen den Atemzügen wimmernd, den Rotz hochziehend, armenische Worte wiederholend.
Zuletzt, als sie sich seiner sicher glaubten, fragte einer: »Was ist los, Hakobyan?«
»Ich will mit meiner Frau sprechen.«
»Das geht jetzt nicht.«
»Ich muss mit meiner Frau sprechen.«
»Besuchszeit ist längst vorbei, das wissen Sie, Herr Hakobyan.«
»Ich muss mit meiner Frau sprechen«, weinte Jezekiel. »Ich muss, ich muss, ich muss …«
»Das geht jetzt nicht, Herr Hakobyan, bitte …«
Jezekiel ruckte und zuckte weiter unter den Fäusten der Beamten. »Polizei, Polizei!«, rief er.
»Bitte, Herr Hakobyan, Sie sind in Abschiebehaft, die Polizei kommt nicht.«
»Aber irgendjemand muss mir helfen, jemand muss … Ich will mit meiner Frau sprechen, nur mit meiner Frau sprechen will ich.«
Und immer so hin und her.
Irgendwann gelang es den Beamten, Jezekiel Hakobyan zu beruhigen, auch mithilfe des Arztes, der ihm eine Spritze gab. Drei von ihnen gingen wieder, danach entschuldigte sich Jezekiel bei den beiden anderen, in seinem noch etwas holprigen, doch gut verständlichen Deutsch, er sei ein wenig durcheinander, die Abschiebung, die Familie, die Ungewissheit, sein Enkelkind, er wisse nicht, wann er sie wiedersehen werde, ob er sie überhaupt je wiedersehen würde, man habe es so gut gehabt all die Jahre hier in Deutschland, er habe bei der Stadt gearbeitet, etwas getan für die Unterstützung, die er und die Seinen empfangen hätten, Laub gefegt, Rabatten gejätet, Büsche beschnitten, die Verkehrsinseln hergerichtet, schön hätten die ausgesehen, ob sie den Klatschmohn gesehen hätten, ach, nein, das könnten die Herren ja nicht wissen, sie würden Jesteburg nicht kennen, er sei ja hier in Hannover, in Abschiebehaft sei er, schon drei Tage lang, wie lang drei Tage sein könnten, wo sonst die Zeit wie im Fluge vergehe, drei Tage, an denen er Minute um Minute und Stunde um Stunde immer die gleichen Fragen und Gedanken im Kopf habe, die Abschiebung, die Familie, die Ungewissheit, sein Enkelkind, er wisse nicht, wann er sie wiedersehen werde, ob er überhaupt, ach, und wovon er sein Brot kaufen solle, wenn er fort sei, in dem Land, dessen Sprache er spreche, in dem er aber nie gelebt habe, ob die Herren wüssten, wo seine Heimat sei? Nein? Ach, wenn er an die Heimat denke, an das Dorf Gyal, das werde er nie wiedersehen, nie, und ob er seine Familie …
Und Jezekiel Hakobyan stemmte sich noch einmal gegen die Hände, die seine Arme hielten, nicht mehr so fest wie vorhin, als man ihn niedergeworfen hatte, es war eine sympathische Berührung, beinahe herzlich, wie ein Freund des Freundes Arm drückte, denn Jezekiel war ein sanfter Mann, der sich andere schnell zum Freund machen konnte. Dennoch war der Griff streng, beamtenhaft, verordnungsmäßig, abschiebegerecht, vollzugskräftig.
Und dann schlief Jezekiel Hakobyan ein, der armenische Mann, der nach Armenien abgeschoben werden sollte, vielleicht morgen schon, er murmelte unverständliche Worte, seine Lippen schlossen sich. Die Beamten, die ihn gehalten hatten, schafften ihn hinüber in eine Einzelzelle, standen seufzend auf, warfen einen mitleidigen Blick auf das bronzefarbene Schlafgesicht und verließen ihn auf Zehenspitzen. Diese Nacht würden sie ihn bewachen, in der Zelle Nummer 58, ein Licht würde brennen. Jede Viertelstunde würde einer der Beamten einen Blick durch das Guckloch werfen, wie es Vorschrift war.
»Gyal«, sagte der eine, nachdem sie wieder in ihrem Dienstzimmer waren. »Oder wie das heißt. Kennst du das? Weißt du vielleicht, wo das liegt?«
»Nee«, antwortete der andere. »Irgendein Kaff in Armenien vermutlich. Wie schreibt sich das?«
»Keine Ahnung. Und wo liegt Armenien?«
»Keine Ahnung. Irgendwo im Osten, da, wo sie alle verrückt sind.«
»Irgendwie tut er mir leid.«
»Mir auch. Eben, aber jetzt nicht mehr. Man muss seine private Meinung beiseitepacken.