Das armenische Tor. Wilfried Eggers

Das armenische Tor - Wilfried Eggers


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Wo kommen wir hin, wenn wir alle Abgelehnten hierbehalten? Das Boot ist voll! Und die Gesetze, wozu haben wir die, wenn wir sie nicht vollziehen? Das verdirbt die Moral! Dann sagt jeder, wieso soll ich mich an die Gesetze halten, Vater Staat macht’s auch nicht! Der Mann muss ausreisen! Er will aber nicht ausreisen. Also muss er ausgereist werden! Und wir sorgen mit dafür, hier in Hannover, okay? So einfach ist das.«

      »Und seine Frau? Bleibt die hier?«

      »Sieht so aus. Vorläufig jedenfalls.«

      »Schlimm.«

      »Wieso schlimm? Die kann mitfahren, wenn sie will. Wer weiß, vielleicht ist die sogar froh, dass sie den Mann auf die Art billig loswird?«

      »Ja, aber …«

      »Hast du mal was davon gehört, dass in Armenien Armenier verfolgt werden?«

      »Nee, natürlich nicht.«

      »Na also. Ein Glück, dass ich morgen und Sonntag freihab. Und Montag sind wir ihn los.«

      »Montag fliegt er?«

      »Montag fliegt er. Raus fliegt er.«

      4

      Kaum hatte Schlüter seinen Hintern dem maroden Bürostuhl anvertraut, klingelte das Telefon.

      »Ja?«

      »Da ist ein Herr von der Polizei dran«, sagte Angela. »Ferber, glaube ich, heißt er.«

      »Und? Was will er?«

      »Mit Ihnen sprechen.«

      »Haha, das ist ja wohl klar, in welcher Sache, meine ich?«

      »Haben Sie schlechte Laune?«

      »Ja!«

      »Bin ich schuld?«

      »Nein. Also: In welcher Sache?«

      »Hat er nicht gesagt. Wollte er nur Ihnen sagen.«

      Warum störte ihn diese Sorte Mensch, die nicht mit dem Personal sprechen wollte, damit man die Akte vorgelegt bekam und gleich zur Sache kommen konnte? Und das am Montagmorgen, bevor die Woche angefangen hatte! Wichtigtuer, unter deren Würde es war, mit Subalternen zu sprechen. Das waren früher die Herren, die ihre Knechte mit »Er« angesprochen hatten, mit abgewandtem Gesicht und vorstehendem Bauch, den zwei Hosenträger überquerten, darin die Daumen eingehakt.

      »Polizei, sagten Sie?«

      »Sagte ich.« Angela war auch schon auf hundert.

      Schlüter fragte sich, ob er etwas verbrochen haben könnte. Immer wenn er es mit der Polizei zu tun hatte, sogar, wenn er nur einen Polizisten sah, stellte er sich diese Frage. War er zu schnell gefahren? Hatte ihn womöglich jemand wegen Verkehrsunfallflucht angezeigt? Neulich hatte er beim Einparken den Seitenspiegel des Fahrzeugs eingeklappt, an dem er rückwärts vorbeigefahren war. Ob es das war? Oder ob er sich für die Sünden seines Vaters schämte, die der unter Adolf auf sich geladen hatte?

      »Geben Sie her.«

      Es knackte in der Leitung.

      »Schlüter.«

      »Kriminalhauptkommissar Ferber hier, Kripo Hemmstedt. Haben Sie Zeitung gelesen?«

      »Krimi… was?«

      »Kriminalhauptkommissar. Kriminalhauptkommissar Ferber.«

      »Ach so. Und womit kann ich dienen?«

      »Haben Sie die Zeitung gelesen?«

      »Welche?«

      »Die von heute.«

      »Ich meinte: welche Zeitung.«

      »Sagte ich doch schon, die von heute.«

      »Wie viele Zeitungen gibt’s in der Republik?«

      »Ach so, das meinen Sie. Das Hemmstedter Tageblatt natürlich.«

      »Habe ich abbestellt. Zu viele Schützenfeste. Zu viele Orang-Utans.«

      »Wie? Affen? In der Zeitung?«

      »Das sind Fußballspieler, die ein Tor geschossen haben.«

      »Ach so. Ich dachte …«

      »Außerdem hätte ich sie auch nicht gelesen, wenn ich sie noch abonniert hätte. Kommt bei uns draußen mit der Post. Nachmittags um drei. Weshalb rufen Sie mich an?«

      »Wir haben in einer Ermittlungssache einige Fragen an Sie. Wir wollten Sie bitten …«

      »Wieso?«

      »Ein Mann ist erstochen worden. An Sie haben wir Fragen in diesem Zusammenhang.«

      »Warum das denn? Was habe ich damit zu tun?« Ein schwarzer Klumpen hatte sich in Schlüters Eingeweiden gebildet.

      »Das kann ich Ihnen am Telefon nicht sagen, Herr Schlüter. Können Sie vorbeikommen? Herr Staschinsky aus meiner Kommission möchte mit Ihnen sprechen.«

      Staschinsky?

      »Welcher Staschinsky?«

      »Spielt das eine Rolle? Wir haben nur einen und der reicht uns vollauf.«

      Also der. Schlüter hatte den Kripomann Klaus Staschinsky vor Jahren kennengelernt, im Zusammenhang mit der Verhaftung des Bauern August von Borstel im Altenmoor. Damals war Staschinsky gerade von Bremervörde nach Hemmstedt versetzt worden, weil keiner der Bremervörder Kollegen mehr mit ihm hatte zusammenarbeiten wollen. Oder, wie Staschinsky es ausdrückte, keiner von ihnen Arsch genug in der Hose hatte, seine berechtigten Beschwerden zu unterstützen. Zivilcourage, so Staschinsky, sei auch bei der Polizei nicht vonnöten, schließlich sei man verbeamtet. Er war der einzige Polizist im gehobenen Dienst, der nach mehr als fünfzehn Jahren immer noch Kriminalkommissar und nicht zum Kriminaloberkommissar befördert worden war, weil, wie Staschinsky damals auf der gemeinsamen Fahrt nach Hemmstedt nicht ohne Stolz erläutert hatte, »weil ich meine Klappe nicht halten kann«. Seither waren sie sich immer wieder mal begegnet, im Gerichtssaal, in Zivil in der Stadt und sogar einige Male auf einen Kaffee. Seit Schlüter in Hollenfleth wohnte, zwanzig Kilometer entfernt im Moor, und vor allem, seit er keine Strafsachen mehr machte, waren die Begegnungen seltener geworden. Schlüter erinnerte sich, dass er Staschinsky damals, als er abgerissen und traumatisiert aus Anatolien zurückgekehrt war, bei einer Tasse Kaffee in der Stadt sein Herz ausgeschüttet hatte. Der Mann musste jetzt Mitte fünfzig sein. Wann hatte er ihn das letzte Mal gesehen? Wie viele Jahre? Fünf? Ob er nun Zeuge sein sollte oder nicht, einen Kaffee mit Staschinsky war es wert.

      »Ich komme sofort.«

      Er hatte ohnehin keine Lust mehr zum Arbeiten. Eine böse Ahnung war in ihm erwacht. Der Gerechte würde die Stellung halten. Er hatte sicher aufgetankt am Wochenende und steckte vermutlich voller Schaffenskraft. Angela würde die Anrufe abwimmeln. Für einen kurzen Moment fühlte sich Schlüter frei und ledig aller Sorgen, ein Gefühl, auf das er achten musste, da es so viel wie Glück bedeutete, das niemals ein Dauerzustand sein konnte, weil es sonst der Gesundheit schadete. Alles ist eine Frage des Maßes, sagte Paracelsus.

      Schlüter griff sich seine Jacke, gab Angela und dem Gerechten Bescheid, dass er eine Weile fort sei, und verließ das Büro. Er überlegte kurz, ob er zu Fuß gehen sollte, dann wandte er sich in die entgegengesetzte Richtung, zum Hafen, da er jenseits davon, hinter dem neuen Kino, seinen Wagen abgestellt hatte.

      Wer in der Stadt vom Norden in den Süden wollte, musste über die Bahnhofsbrücke fahren. Jedes Mal ärgerte sich Schlüter über dieses kleinstädtische Wahrzeichen des Autowahns. Kurz darauf rollte er mit seinem alten japanischen Wagen die Seestraße hinab und bog durch das Tor auf den mit Klinkern gepflasterten Parkplatz des Polizeikommissariats Hemmstedt, das in dieser Wohnstraße fünfhundert Meter vom Bahnhof entfernt in einem monströsen roten Backsteingebäude untergebracht war.

      Im Krieg hatte das Bauwerk als Krankenhaus gedient, Schlüter hatte das damals, im Zusammenhang mit der Prozesssache Kaczek, einmal nachgelesen. Und hinter dem Backsteinriesen hatte es


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