Das armenische Tor. Wilfried Eggers

Das armenische Tor - Wilfried Eggers


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sich der ewige jüdische Friedhof, der nach der Zerstörung durch die Hemmstedter Nazis wieder in seinen alten Abmessungen eingezäunt worden war, auf Veranlassung eines Hemmstedter Arztes, den die Politiker der alten Garde, die noch braunen Dreck unter den Fingernägeln hatten, als Querulanten abtaten. Er störte ihren Wirtschaftswunderstolz, unter dem sie ihr schlechtes Gewissen begraben hatten. Wie konnte man stolz darauf sein, etwas repariert zu haben, was man kaputt gemacht hatte? Sogar ein paar Grabsteine gab es noch, mit verwitterter hebräischer Inschrift, einen davon hatte ein couragierter arischer Bürger heimlich aufbewahrt, zu Ehren seines toten jüdischen Freundes.

      Im Land der Sekundärtugenden war Zivilcourage selten, man verwendete seine Energie hauptsächlich darauf, sich dem Niveau der Umgebung anzupassen und nicht aufzufallen. In Hemmstedt hatte es kaum mehr als ein Dutzend Juden gegeben, zwei Familien nur, über die das Herrenvolk am 9. November 1938 hergefallen war. Vergangenheit verging nicht, sie lebte weiter im Atem der Gegenwart, und das besonders im Atem Staschinskys, der sein persönliches Nie-wieder lebte, indem er tat und sagte, was er für richtig und wahr hielt. Sie sind besser geworden, die Zeiten, dachte Schlüter, seit ich geboren bin, mit jedem Tag.

      Dem Polizeipförtner, der Schlüter mit professionellem Misstrauen prüfte, musste er seinen Ausweis zeigen, bevor er in den zweiten Stock, Zimmer 209, geschickt wurde, durch einen niedrigen gelben Flur, der so lang und dunkel war wie eine Depression, eine Treppe mit Linoleumbelag und eisernem Geländer hoch, das leise unter seinen Händen wimmerte, durch einen identischen Flur zurück an vielen Türen vorbei und endlich bis vor eine offene, aus der ein unregelmäßiges dumpfes Klappern drang wie von einer Mühle mit kaputten Zahnrädern. Schlüter klopfte und räusperte sich.

      »Hrreihnn!«, raspelte es norddeutsch.

      Schlüter steckte den Kopf über die Schwelle. Ein höchstens einen Meter siebzig kleiner Mann mit Kugelbauch, runden Backen und grauem Vollbart stand hinter dem Schreibtisch. Er überragte den klotzigen Bildschirm nur um weniges.

      »Guten Tag, Staschinsky mein Name«, sagte er.

      »Meinen Sie, ich erinnere mich nicht mehr?«, rief Schlüter und markierte mehr Fröhlichkeit, als er empfand. »Was liegt an?«

      »Hat er Ihnen das nicht gesagt?«

      »Darf er nicht am Telefon, hat er gesagt. Hat nur gefragt, ob ich die Zeitung gelesen habe. Habe ich aber nicht.«

      »Mein Gott, dieser Sesselpupser.« Staschinsky stöhnte. »Vorschriften sind für den nur zur eigenen Absicherung da, für sonst nichts. Alles Verwaltungshandeln findet statt nicht für die Menschen, sondern für die Akte, und die muss stimmen. Sonst wirst du nicht befördert, capito? Garantiert hat er einen Vermerk gemacht.«

      »Und wieso ruft der mich an und nicht Sie?«, fragte Schlüter und freute sich, dass er sein Leben nicht in einem solch elenden Dienstzimmer verbringen musste.

      »Weil er so tun muss, als würde er die MK ›Unbekannt‹ leiten, und sich aufbläst. Aber ich mach die ganze Arbeit, wie immer.«

      »Und, endlich befördert?«, fragte Schlüter und wusste nicht, ob er grinsen durfte.

      »KOK, bitte. Kriminaloberkommissar, und zwar einer, der einem unfähigen Kriminalhauptkommissar – KHK – namens Ferber untersteht. Mir scheißegal, ob das einer hört«, schob er ein, als sich Schlüter unwillkürlich in der offenen Tür umdrehte. »Aber kommen Sie rein. Ich habe ein paar Fragen. Vorher erzähl ich Ihnen was. Bitte Platz zu nehmen.« Staschinsky wies auf einen abgewetzten Stuhl, der rechts um die Ecke an der Wand stand.

      Schlüter zog sich den Stuhl heran und setzte sich. Staschinsky war dafür bekannt, dass er sich nur an die Vorschriften hielt, wenn es ihm passte. Natürlich durfte man Zeugen keinen Einblick in die Ermittlungen geben.

      Staschinsky erklärte, er werde sich um Kaffee kümmern, und verschwand.

      Währenddessen hatte Schlüter Gelegenheit, sich im Dienstzimmer des Polizisten umzusehen. Die Zeit war stehen geblieben. Lag es daran, dass er sein Büro verlassen hatte, oder daran, dass in allen staatlichen Dienstgebäuden der Welt eine andere Zeit herrschte?

      Staschinsky kehrte mit zwei Pappbechern Kaffee zurück, stellte sie auf dem Schreibtisch ab, umrundete ihn, setzte sich, griff sich einen der Becher, hob ihn und sagte feierlich: »Prost!«

      Schlüter trank. Bitteres Zeug, dachte er, Beamtenkaffee.

      »Wie hält man das in so einer Bude eigentlich aus?«, fragte er.

      Staschinsky blickte sich um, als sei auch er das erste Mal hier, als würde er nicht seit Jahren hier sitzen, jeden langen Arbeitstag. Der Schreibtisch gelbes Leimholz aus den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts, wenn nicht älter, darauf ein Klotz von Bildschirm, ebenfalls aus dem letzten Jahrhundert, pissgelbe Gardinen, die so aussahen, als wären sie seit Kaisers Zeiten noch nie vorgezogen worden. Rotzgrüne Wände und hundekotbrauner Fußboden, rechts ein Bock, auf dem rote Akten lagen, die ihre Spuren an der Wand hinterlassen hatten. Aktenschwänze ragten schlapp heraus. Der Kalender, der an einem schiefen Nagel hing. Und mittendrin ein alternder KOK, der sich aus seiner Jugend eine Lederjacke mitgebracht hatte, die an einem Haken neben dem Kalender hing. Seine Frisur eine der letzten Vokuhilas von Hemmstedt, vorne kurz und hinten lang, über den Kragen wallend.

      »Und das als Altrocker«, ergänzte Schlüter.

      »Das weiß ich nicht.« Staschinsky seufzte.

      »Das ist der Grund, warum ich kein Beamter geworden bin«, sagte Schlüter. »Damit ich nicht so ende.« Er musste niesen, dreimal hintereinander. »Und staubig ist es dazu!«

      »Aufhören!«, rief Staschinsky. Er zog sich die Tastatur heran. »Kommen wir zur Sache.«

      »Wieso schreibt ihr eigentlich alles selbst? Habt ihr keine Sekretärin?«, wollte Schlüter wissen.

      Man sei eben seine eigene Sekretärin, erklärte Staschinsky, man verbringe Stunden des Tages mit der Schreiberei, nicht einmal einen Kurs im Zehnfingerschreiben habe er machen können, das werde nicht bezahlt, neuerdings lernten die Jungen das in der Ausbildung, die Alten dürften weiter im Terroristensystem schreiben, »mit Anschlägen ist zu rechnen«. Nicht auszudenken, wie viele Stellen im Lande mit schreibenden Polizisten besetzt seien anstatt mit Sekretärinnen, wie viel Geld man sparen und wie viel schneller man ermitteln könne, wäre man nicht dauernd blockiert durch die Schreiberei.

      Als er fertig war, holte er tief Luft. »Grinsen Sie nicht so! Schluss! Ich kann meine Meckerei nicht mehr hören! Ich weiß, ich brauche einen flachen Bildschirm. Wollen Sie an meinem Freitod schuldig werden, wenn ich mich gleich aus dem Fenster werfe?«

      Schlüter lehnte sich zurück und lachte. »Nein, nein. Was liegt an?«

      Eine unbekannte Person sei tot in den Parkanlagen Hemmstedts gefunden worden, berichtete Staschinsky, in der Nähe des Burggrabens, der den alten Stadtkern umrundete und im Mittelalter einmal Teil einer Festungsanlage gewesen war, zwanzig Schritte entfernt vom nächsten Spazierweg, im dunklen Gestrüpp des Ufers, fünfzig Schritte entfernt vom italienischen Restaurant, in dem er, wie Staschinsky einflocht, neulich verkohltes Schaffleisch vorgesetzt bekommen habe, ungenießbar und teuer obendrein. Schlechtes müsse schließlich nicht billig sein. Das habe ihm fast das Date vermasselt.

      Tote würden sonst immer von Joggern und Pilzesammlern gefunden werden, kam Staschinsky zur Sache, aber diesmal sei es ein Paddler gewesen, also quasi ein Wasserjogger, am Samstagmittag. Männliche Leiche. Todeszeitpunkt vermutlich zwischen Freitagnachmittag um fünf bis Samstagmorgen um zwei. Identität ungeklärt, keine Papiere gefunden, kein Handy, das habe wohl der Täter mitgenommen, denn der Tote sei durchsucht worden, das habe man an der Kleidung feststellen können. Sehr wahrscheinlich Ausländer, jedenfalls dunkle Haut und weitere Indizien. Keine Vermisstenanzeige, die zu dem Toten gepasst hätte.

      »Und jetzt«, fuhr Staschinsky fort, »kommen wir zum Grund unseres fröhlichen Wiedersehens. Alles hat der Täter nämlich nicht gefunden. Keine Zeit. Ein Hilfeschrei. Und das Restaurant nebenan. Er musste damit rechnen, dass Leute kommen. Es war ja noch nicht dunkel …« Der Kommissar klappte einen Ordner auf und entnahm ihm eine Folie. »Das hier haben


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