Das armenische Tor. Wilfried Eggers

Das armenische Tor - Wilfried Eggers


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meinen Sie? Seine Darstellungen sind nachgewiesenermaßen ungenau, einige Daten sind widerlegt und es ist offenbar, dass er …«

      »Wer weist das nach – Sie?«

      »Ich habe …«

      »Ich stelle fest, dass Sie sich nicht damit auseinandergesetzt haben. Und Sie wollen ja wohl nicht ausgerechnet in Deutschland behaupten, dass ein Jude nicht vertrauenswürdig sei, nur weil er Jude ist? Aber etwas anderes: Kennen Sie die im Osmanischen Reich und in der Türkei bis auf den heutigen Tag gebräuchliche Foltermethode, wonach man dem Opfer gewaltsam einen Knüppel in den Anus treibt, also in den Darm?«

      »Was hat das mit unserem Thema zu tun?«

      »Sehr viel. Martin Niepage, ein Lehrer an der Deutschen Schule in Aleppo von 1913 bis 1916, hat berichtet, was ihm die Ingenieure von der Bagdadbahn – alles Deutsche übrigens, unter der Leitung von Wilhelm Pressel, alles Verbündete der Türkei damals, ich betone das – erzählt haben, ich kann das auswendig, ich zitiere: ›Sie berichteten, dass am Bahndamm bei Tell Abyat und Rasulayn geschändete Frauenleichen massenhaft herumlagen. Vielen von ihnen hatte man Knüppel in den After hineingetrieben.‹«

      Die italienische Frau auf dem Nachbarstuhl beschattete ihre Augen mit der Hand und murmelte: »Questo è terribile.«

      »Und nun, bitte, nennen Sie mir einen einzigen nicht türkischen Historiker, der Ihre Auffassung teilt! – Es gibt keinen«, fuhr sie fort, als Söylemezoğlu nicht gleich den Mund aufmachte. »Es gibt nur türkische Autoren, die den Völkermord an den Armeniern Anatoliens leugnen, und jeder einzelne von ihnen sagt die Unwahrheit. Das Schlimme aber ist, sie kennen die Wahrheit, sie wissen, dass sie lügen. Und sie wissen, dass alle anderen es wissen. Und deswegen müssen sie sich ständig rechtfertigen und Veranstaltungen machen, sogar in Hemmstedt, wo es fast keine Armenier gibt, mit denen sie Freundschaft schließen könnten.«

      Anahid war zufrieden. Sie hätte noch den Pfarrer Lepsius und den Schriftsteller Armin T. Wegner bringen können und das ganze Archiv des Auswärtigen Amts, das vollgestopft war mit Dokumenten, Berichten, Depeschen, Fotos. Ganz zu schweigen von den Aufzeichnungen des Dikran Andreassian, die Franz Werfel für die Vierzig Tage des Musa Dagh ausgewertet hatte.

      Söylemezoğlus Hals wurde länger, er machte den Mund auf, doch der Apotheker aus Afghanistan war schneller.

      »Bitte«, sagte er. »Wir sind alle keine Historiker. Ich möchte die Fragen oder vielmehr eigentlich Feststellungen, die Frau … Äh, bitte, wie ist Ihr Name?«

      »Ich heiße Anahid Bedrosian, ich bin Armenierin und ich wiederhole meine Frage an Herrn Söylemezoğlu. Gibt es einen einzigen nicht türkischen Historiker, der Ihre Auffassung teilt? Nennen Sie mir einen einzigen, ich bitte Sie!«

      Söylemezoğlus Hals wurde wieder kürzer, als könnte er ihn aus- und einfahren wie eine Schildkröte. »Die Untersuchung der Archive«, begann er, »sie ist dringend erforderlich, denn bisher ist auf unvollständiger Tatsachengrundlage …«

      Der Apotheker, ein wahrhaftiger Mann, wie Anahid jetzt erkannte, unterbrach Söylemezoğlu und erklärte: »Es gibt also keinen?«

      Söylemezoğlu antwortete nicht sofort und es erhob sich ein Murmeln in den Reihen.

      »Zur!«, hörte sie hinter sich, von dort, wo die alevitischen Familien saßen. Das war Zaza und bedeutete ›Lüge‹. Sie hatte gewonnen. Sie spürte die türkischen Blicke kalt im Wirbel und ihr wurde übel.

      Wenn ich hier sitzen bleibe, muss ich kotzen.

      Anahid stand auf und bahnte sich einen Weg durch die Sitzenden Richtung Ausgang.

      An der Theke standen drei Männer. Anahid sah die Blicke nicht mehr, die sie sich zuwarfen, denn sie hatte den Saal verlassen und war hinausgegangen in den Aprilabend. Wohin sollte sie ihre Schritte lenken? Sie hätte jetzt Gesellschaft gebrauchen können. Sie lief durch dunkle Gassen zum Alten Hafen. Dann verspürte sie Müdigkeit und beschloss, nach Hause zu gehen. Ein Bad würde ihr guttun.

      Sie ließ die kleine Altstadt hinter sich. In der Fußgängerzone nur noch wenige Menschen, nachdem die Geschäfte geschlossen hatten. Die Wallanlagen am Burggraben auf dem Weg, der an der Insel mit dem Freilichtmuseum vorüberführte. Sie hörte das Knirschen des Schotters unter ihren Füßen. Oder war es ein anderes Knirschen, andere Füße?

      Sie blieb stehen, hielt den Atem an, sah sich um. Nur zwanzig Meter Weg, dann eine Kurve. Büsche. Nichts. Nur laute Stimmen von drüben, wahrscheinlich vom Italiener am Burggraben her, eine Festgesellschaft. Also weiter. Links der Wald, rechts die Aue. Es war dämmrig geworden, aber nicht dunkel genug, dass sie sich in den Büschen verstecken konnte. Sie versuchte, auf Zehenspitzen zu gehen und gleichzeitig nach hinten zu lauschen. Ich spinne schon, dachte sie, mein Herz ist dümmer als mein Verstand, jetzt reicht es. Sie drehte sich um und kehrte zurück, noch schneller, als sie in Richtung Bundesstraße gegangen war. Nachdem sie an der Wallstraße angekommen war und immer noch niemanden gesehen hatte, der ihr gefolgt war, atmete sie auf, machte abermals kehrt und nahm ein zweites Mal den Weg zur Bundesstraße. Die meisten Autos fuhren jetzt mit Licht.

      Dort bog sie ab auf den Fußweg durch die Auewiesen.

      Es geschah nach ungefähr fünfhundert Metern, an der Einfahrt zu einer Wiese.

      2

      Peter Schlüter, von manchen seiner Kollegen auch ›der Fuchs‹ genannt, hatte eigentlich nachmittags freimachen wollen, um etwas früher ins Wochenende zu gehen, aber dann hatte er zugelassen, dass diese späte Beurkundung in seinem Terminkalender stand. Die Mandanten hatten sich gerade verabschiedet. Er griff zur Computermaus, um den Rechner auf seinem Schreibtisch herunterzufahren, besann sich jedoch anders, klappte die Akte wieder auf und zog die frisch unterschriebene Urkunde hervor. Besser, dachte er, ich berichtige den Text um meine handschriftlichen Änderungen. So könnte Angela die Urkunde am Montagmorgen gleich ausfertigen, ohne seine Klaue entziffern zu müssen. Sie würde neben jede Änderung einen Stempel machen und penibel die Leerstellen eintragen: Fünf Worte gestrichen, zehn Worte ergänzt, Zahl geändert, und er würde jeweils seine Unterschrift daruntersetzen. Die Urkunde würde in die Sammlung geheftet werden und für alle Zeit so bleiben, wie sie war.

      Auf diese Minuten kam es nicht an. Schlüter hatte einen schönen Kaufvertrag beurkundet, mit Grundschuld. Alle waren glücklich. Der Verkäufer, weil er sein Haus los war, der Käufer, weil er es bekommen hatte, und der Notar Schlüter, weil er anstrengungslos einen Tausender verdient hatte. Selbst wenn sich die Sache etwas hingezogen hatte.

      Die Lebensverhältnisse hatten sich geändert, global wie privat. ›Matthias der Gerechte‹ hatte Schlüters helles Arbeitszimmer bezogen. Schlüter selbst war in den meist verwaisten Besprechungsraum ausgewichen, ein bescheidenes Zimmerchen, das nach hinten hinausging, nur ein kleines Fenster hatte und deshalb recht dunkel war, sodass er die Lampe über seinem abgewetzten Schreibtisch angeknipst hatte. Matthias der Gerechte hieß bürgerlich Martens. Schlüter hatte ihn so getauft, weil der Mann noch an die Gerechtigkeit und die Weisheit der blinden Justitia glaubte. Diesen Glauben wollte er ihm nicht nehmen, Matthias würde ihn auch ohne die weisen Sprüche seines alternden Seniors verlieren. Eigentlich hatte der junge Mann Schlüter nur während Krankheit und Rekonvaleszenz nach dem Drama mit Horst Kurbjuweit vertreten sollen, aber er hatte sich so gut mit Angela, Schlüters Sekretärin, vertragen, dass sie verlangt hatte, den Neuen nicht wieder gehen zu lassen, eher werde sie selbst gehen, zumal er, Schlüter, über sechzig sei und allmählich das Recht habe, kürzerzutreten. Wenn nicht die Pflicht. »Irgendwann müssen Sie ja doch weniger machen, da hilft ja nun mal gar nichts.«

      In der Tat. Als Christa, Schlüters Lebens- und Ehegefährtin seit frühen Studententagen, in die gleiche Kerbe gehackt hatte, war sein Holz morsch geworden und seither arbeitete er nur an vier Tagen in der Woche. Wenn er wollte, was meistens der Fall war. Und deswegen verwand er es, sein altgewohntes Arbeitszimmer zu verlassen um des jungen Kollegen willen, der Sonnenlicht gebrauchen konnte, denn er war einige Jahre Kellerknecht im Büro Nordhausen & Partner gewesen und hatte viele dunkle Jahre unausgesetzter Paragrafengrübelei vor sich. Jugend brauchte Licht. Matthias hatte gehofft, dort Sozius zu werden, die beiden


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