Avatar - Der Herr der Elemente: Der Schatten von Kyoshi. F.C. Yee
Er fiel auf den Hintern und krabbelte rückwärts in die Zimmerecke. Der Schatten des Geistes bedeckte ihn vollständig. »Yangchen, behüte mich!«
Die Geisterfrau folgte ihm und senkte ihr rot-weißes Gesicht zu seinem herab. Ein Mensch hätte sich sicher abfällig über Kuji geäußert, so wie er mit eingezogenem Kopf dort kauerte. Die kalte Missachtung in ihren Augen war jedoch schlimmer, als Mitleid oder sadistisches Belustigung es je hätten sein können.
»Yangchen ist gerade nicht hier«, sagte sie mit voller, gebieterischer Stimme. Ihr Klang hätte schön sein können, wäre die Gleichgültigkeit darüber, ob er lebte oder starb, nicht so deutlich darin zu hören gewesen. »Dafür bin ich hier.«
Kuji schluchzte auf, als sie sein Kinn mit Daumen und Zeigefinger ihrer großen, kräftigen Hand packte. Ihr Griff war behutsam, ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass sie ihm ohne Mühe den Unterkiefer herausreißen könnte, wenn ihr danach verlangte. Die Frau hob sein Gesicht. »Und jetzt sag mir, wo ich deinen Boss finde.«
Kyoshis Hals juckte furchtbar. Die Garrotte war mit gemahlenem Glas überzogen gewesen, und obwohl sie keine tiefen Schnitte abbekommen hatte, reizten die winzigen scharfen Splitter noch immer ihre Haut. Recht geschah es ihr – wie nachlässig sie gewesen war! Der Drahtmann der Bande war zwar leise gewesen, aber keinesfalls so lautlos wie die Gesellschaft, in der sie sich während ihrer Daofei-Tage bewegt hatte.
Außerdem war sie ein Risiko eingegangen, den Jungen nicht ebenso auszuschalten, wie sie es mit seinen Älteren getan hatte. Aber er hatte sie an Lek erinnert: Wie er versucht hatte, mit seinem dummen Milchgesicht hart auszusehen, während man ihm ansehen konnte, wie sehr er nach der Anerkennung seiner eingeschworenen älteren Brüder lechzte. Sein purer, idiotischer Wagemut. Er war zu jung, um Mitglied einer Bande in den Slums von Ba Sing Se zu sein.
Heute keine Ausnahmen mehr, dachte sie, als sie über den rostenden Müll und die Trümmer hinwegstieg. Sie hatte noch immer die Gewohnheit, alle Gleichaltrigen als Jungen und Mädchen anzusehen. Diese Wortwahl machte sie weich, und das war gefährlich. Ihr würde bestimmt niemand Gnade erweisen, nur weil sie noch keine achtzehn war. Der Avatar konnte sich den Luxus, einfach ein Kind zu sein, nun mal nicht leisten.
Sie bahnte sich ihren Weg durch den Flur, der kaum breiter war als sie. Durch Risse in den Wänden fiel nur wenig Licht. Leuchtkristalle waren teuer und Kerzen ein Brandrisiko, daher war Licht in Loongkau Luxus. Die Rohre, die sich wie ein verschlungenes Netzwerk aus Wurzeln über ihr entlangzogen, waren an vielen Stellen undicht. Tropfen landeten auf ihrem vergoldeten Haarschmuck, den sie trotz der Enge trug. Sie hatte sich daran gewöhnt, die zusätzliche Höhe auszugleichen, und schließlich musste sie sich seit ihrer Kindheit ohnehin ständig bücken.
Der Gestank von Schweiß und trocknender Farbe waberte durch die Korridore, zeugte von den eingepferchten Verhältnissen, in denen die Leute hier hausten. Was ihr wohl erst auf den tieferen Ebenen für Gerüche in die Nase steigen würden? In diesem Block drängten sich mehr Menschen zusammen als in jedem anderen des Unteren Rings und nicht alle Einwohner waren Verbrecher.
Loongkau war ein Auffangbecken für die Ärmsten der Armen. Menschen, die sonst nirgendwo hingehen konnten, hockten hier zusammen und wendeten all ihren Fleiß auf, um sich als Müllsammler, Schwarzhändler (»Das ist vom Wagen gefallen!«), Ärzte ohne Zulassung oder schmierige Futterbudenbetreiber durchzuschlagen. Sie waren gewöhnliche Bürger des Erdkönigreichs, die versuchten, am Rande des Gesetzes über die Runden zu kommen. Im Großen und Ganzen also Kyoshis Leute.
Im Zwielicht dieses Baus fanden auch gewaltsamere Naturen ein Zuhause: Die Banden aus dem Unteren Ring wurden immer größer, je mehr Daofei zuströmten. Banditen, die ihr Territorium auf dem Land nicht mehr behaupten konnten, suchten Schutz in Ba Sing Se und anderen großen Städten. Sie mischten sich unters Volk und verbargen sich unter den einstmaligen Schutzsuchenden, die sie in vergangenen Jahren drangsaliert hatten.
Die gehörten nicht zu Kyoshis Leuten. Tatsächlich waren viele von ihnen vor ihr auf der Flucht. Da jedoch jedes Apartment ebenso gut verängstigte Anwohner beherbergen konnte, die nichts mit den Schurken, die sie jagte, zu tun hatten, hielt sie sich zurück. Wenn sie mit herkömmlichem Erdbändigen große Brocken aus ihrer Umgebung riss, könnte es zu gefährlichen Einstürzen kommen und Unschuldige könnten verletzt werden.
Sie verließ den Flur und gelangte in einen kleinen Marktbereich. Sie kam an einer Kammer voller Fässer vorbei, aus denen helle Farbe auf den Boden tropfte – eine Heimfärberei –, und an einem verlassenen Schlachterstand, in dem Schwärme von Ameisenfliegen surrten. In Jianzhus Arbeitszimmer hatte es Aufzeichnungen über die politische und wirtschaftliche Situation in Ba Sing Se gegeben und Kyoshi hatte auch eine kleine Anmerkung über die äußerst geschäftstüchtigen Bewohner dieses Wohnblocks gefunden. Kurioserweise besaß das Land, auf dem er erbaut war, wegen seiner günstigen Lage im Unteren Ring anscheinend sogar einigen Wert. Händler des Mittleren Rings hatten in der Vergangenheit versucht, den Komplex zu kaufen und die Anwohner zu vertreiben, doch wegen der Bedrohung, die von den Banden ausging, waren solche Projekte immer gescheitert.
Kyoshi hielt an einem Bottich voller verdorbenem Mangotrester an. Das war die Stelle. Sie bändigte sich einen kleinen Kreis aus Steinen und Schutt und stellte sich darauf. Dann verschränkte sie die Arme über der Brust und machte sich so schmal wie möglich.
Sie wollte gerade ihren Plan in die Tat umsetzen, da bemerkte sie ein winziges Objekt in der Ecke. Es war ein Spielzeug, eine Puppe, die aus den Resten des Kleides einer feinen Dame gefertigt war. Jemand hatte großen Aufwand betrieben, um seinem Kind eine Puppe aus Stoff zu nähen, der aus dem Oberen Ring stammte.
Kyoshi starrte sie an, bis sie blinzeln musste, dann rief sie sich in Erinnerung, weswegen sie hier war. Sie stampfte mit dem Fuß auf.
Ihre kleine Erdplattform, die nur durch ihr Bändigen zusammengehalten wurde, wurde so hart wie die Spitze eines Bohrers. Sie brach durch die Tonplatten und verrotteten Holzstreben und sank so rasch in die Tiefe, dass ihr Magen einen Satz machte. Sie gelangte ins nächste Stockwerk, dann ins nächste darunter, immer weiter hinab.
In Jianzhus taktischen Anleitungen hieß es, bei Kämpfen in beengten Verhältnissen gebe es die meisten Opfer an bestimmten Stellen wie Türen und Treppen. Kyoshi hatte beschlossen, diese Teile des Gebäudes auszulassen und sich ihren eigenen Weg zu bahnen. Sie zählte vierzehn Stockwerke – mehr, als sie geschätzt hatte –, dann krachte sie durch eine letzte Zimmerdecke und kam auf festem Erdboden auf. Der tiefste Punkt von Loongkau.
Kyoshi trat von ihrer Plattform, Staub und Reste vom Mauerwerk rieselte von ihren Armen. Sie blickte sich um. Hier gab es keine Wände, nur Stützpfeiler, die das große Gewicht der Stockwerke darüber hielten. Hier gibt’s ja sogar einen Ballsaal, dachte sie ironisch. Der leere Saal ähnelte den Empfangshallen reicher Adliger wie Lu Beifong. Im Avatarsanwesen in Yokoya gab es einen ähnlichen Raum.
Sie konnte bis zum Ende blicken, da leuchtende Kristalle in die Wände eingelassen waren. Es war, als hätte jemand sämtliches Licht des Gebäudes in diesem Raum gehortet. Es gab einen Schreibtisch, der wie eine hölzerne Insel in der Leere stand. Und hinter dem Schreibtisch saß ein Mann, den Kyoshi kannte und der seine Ambitionen offenbar noch immer nicht aufgegeben hatte.
»Hallo, Onkel Mok«, sagte Kyoshi. »Lange nicht gesehen, was?«
Mok, dem früheren zweiten Mann der Gelbnacken, traten vor Überraschung beinahe die Augen aus dem Kopf. Kyoshi war wie ein Fluch, den er nicht loswurde. »Du!«, fauchte er und sank ein wenig hinter seinem Schreibtisch zusammen, als ob ihn das imposante Möbelstück irgendwie beschützen könnte. »Was willst du hier?!«
»Ich hab Gerüchte gehört, dass sich ein neuer Boss in Loongkau eingenistet hat und die Beschreibung kam mir bekannt vor. Da wollte ich selbst mal nachsehen. Ich hab gehört, diese Gruppe bezeichnet sich jetzt selbst als Dreieck oder so? Hab ich das richtig verstanden? Irgendwas mit drei Seiten.« Kyoshi fand es schwer, den Überblick zu behalten. Die ganzen Daofei, die in die Städte strömten, trugen ihre hochtrabenden