Schöner Tod. Astrid Keim

Schöner Tod - Astrid Keim


Скачать книгу

      »Sie hat mich einmal in der Woche besucht«, nimmt Elli den Faden wieder auf, »und das waren Tage, auf die ich mich sehr freute. Sie sieht Ina so ähnlich, und ich hatte immer das Gefühl, auch meine Tochter bei mir zu haben, wenn Marie da war. Ich weiß nicht, wie es nun weitergehen soll, ich sehe keinen Sinn mehr im Leben. Wenn Kinder vor den Eltern gehen, die Enkelin sogar vor ihrer Großmutter, ist die Natur auf den Kopf gestellt. Wäre ich gläubig, würde mir Gott vielleicht einen Weg zeigen, aber jetzt glaube ich weniger denn je, dass Gott weiß, was er tut, es sei denn, er nähme mich auch von der Erde.«

      Sie dreht den Kopf zur Seite, schließt die Augen und faltet die Hände über der Bettdecke, als sei jetzt alles gesagt. Laura nimmt es als Signal, dass Elli nun allein sein will. Sie fühlt sich hilflos, und ihr wollen keine Worte des Trostes einfallen. So beugt sie sich über das Bett, streift mit ihren Lippen die Wange der Freundin und verlässt das Zimmer mit dem Vorsatz, am nächsten Tag wieder nach ihr zu schauen.

      Es war der letzte Besuch, denn in der Nacht ist Elli gestorben.

      Laura sitzt auf dem Balkon, obwohl es deutlich kühler ist als am Vortag. Sie braucht frische Luft, denn ihr ist immer noch ganz wackelig zumute, obwohl bereits zwei Stunden seit der Nachricht vergangen sind. Sie wollte Elli anrufen, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Unter der vertrauten Nummer meldete sich eine Männerstimme, die zunächst um Auskunft über ihre Person bat. Da Laura keine Unbekannte auf der Station ist, hat man sie über die Umstände des Todes informiert. Herzversagen. Im Schlaf. Kein Hinweis auf Suizid oder Fremdverschulden. Der Totenschein sei bereits ausgestellt.

      Ellis Herz war gebrochen, da ist sie sich sicher und auch, dass der Tod als Freund gekommen ist. Vielleicht hat sie ihn zu sich gerufen, um dem Schmerz ein Ende zu bereiten.

      Neben dem Kummer verspürt Laura auch einen Hauch von Erleichterung, denn sie weiß nicht, ob sie Elli in ihrer Trauer angemessen hätte begleiten können. Die eigene Trauer um Christoph ist noch zu präsent, um andere bei der Verarbeitung ihres Schmerzes wirklich unterstützen zu können.

      In welchen Wirbel von Ereignissen ist sie da hineingezogen worden. Laura ist auf einmal persönlich betroffen, denn das tote Mädchen ist keine Unbekannte mehr. Neben der Traurigkeit beginnt auch Wut aufzukeimen. Jetzt hat der Mörder schon zwei Menschen auf dem Gewissen, denn moralisch ist er auch schuld an Ellis Tod, da gibt es gar keinen Zweifel. Das ist schwer zu ertragen.

      Sie ruft noch einmal an, um sich über das weitere Geschehen zu erkundigen und erfährt, dass Elli schon vor mehreren Jahren ein Testament hinterlegt hat, in dem sie ihr Begräbnis genau regelt. Das Beerdigungsinstitut ist bereits informiert, die erforderliche Summe bezahlt. Man wird Laura wissen lassen, wann die Urnenbeisetzung erfolgt.

      Das ist also das Ende. Letzte Formalitäten sind noch zu erledigen, dann schließt sich die Akte. Gibt es Menschen, die um Elli trauern? Ihr wird bewusst, wie wenig sie über Ellis Alltag weiß. Die Gespräche drehten sich meist um längst vergangene Zeiten, deren Erlebnisse umso mehr an Bedeutung gewannen, je weniger die Zukunft versprach. When we were kings: Eine Zeitspanne gibt es in jedem Leben, die die glücklichste, aufregendste oder auch prägendste gewesen ist. Für Elli waren es die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg, und viele ihrer Erinnerungen bezogen sich auf diese Zeit. Ja, auch von ihrer Ehe hatte sie erzählt, aber eher beiläufig, und den frühen Tod ihrer Tochter lediglich gestreift. Vielleicht war das eine mit dem anderen eine Verbindung eingegangen, deren Thematisierung Schmerz bereitete. Laura empfindet ein Gefühl von Verlust, als sie erkennt, wie dürftig ihre Informationen sind, wie wenig Zusammenhänge sich erschließen, wie vieles ungesagt ­geblieben ist. Wenigsten die alten Fotoalben wird sie sich erbitten, falls niemand anderes Interesse daran zeigt. So kann sie die schönsten Erinnerungen mit Elli teilen.

      Ein paar Wolken sind aufgezogen, und Laura beginnt zu frösteln. Das Klingeln des Telefons fällt mit dem Entschluss zusammen, nach drinnen zu gehen und die Heizung anzuschalten. Der Frühling scheint sein kurzes Gastspiel wieder beenden zu wollen. Eigentlich ist ihr nicht nach Telefonieren zumute, aber als Thomas’ Nummer auf dem Display erscheint, meldet sie sich. Er hat bereits erfahren, dass sie Maries Großmutter kannte, und will nun wissen, ob die etwas über ihre Enkelin erzählt habe, das weiterhelfen könnte.

      »Wir müssen uns ein Bild von dem Mädchen machen: welche Freunde, überhaupt welchen Umgang sie hatte. Ob sich in der letzten Zeit etwas verändert hat, ob es einen Partner gab.«

      Laura bedauert. »Manchmal kam schon die Sprache auf sie, aber nur ganz beiläufig, ich kann dir also leider nicht mit Details dienen. Aber hast du nicht gesagt, dass sie mit einer Kommilitonin zusammenlebte? Die müsste doch Auskunft geben können?«

      »Das schon, und wir haben sie auch bereits ein erstes Mal befragt, aber es ist natürlich immer besser, wenn Aussagen auch von anderer Seite bestätigt werden.«

      »Tut mir leid«, wiederholt Laura bestimmt, »ich kann dazu leider nichts beitragen«, und hat plötzlich ein dringendes Bedürfnis, dieses Gespräch zu beenden. Neugier und Spannung sind verflogen, eigentlich möchte sie nichts mehr mit der Sache zu tun haben, denn sie geht ihr zu nahe. Mit der Entschuldigung, einen Arzttermin wahrnehmen zu müssen, verabschiedet sie sich von Thomas und lässt sich in ihren ­Lieblingssessel ­sinken, ein Erbstück der lange verstorbenen ­Großtante. Er ist hoch, mit ausladenden Ohren und hat etwas Höhlenartiges. Hierhin flüchtet sie sich immer, wenn sie Ruhe haben will. Hier kann sie abschalten. Christoph lästerte gern darüber, dass sie sich in ihren Bau verziehe, um die böse Welt zu vergessen. Damit traf er den Nagel auf den Kopf, und auch heute funktioniert diese Strategie. Laura spürt, wie sie ­ruhiger wird, die Gedanken aufhören zu kreisen.

      Sie muss sich eine Auszeit nehmen. Nicht mehr nachfragen, wie die Sache steht, keine nutzlosen Vermutungen anstellen. Vielleicht ein paar Tage verreisen? Mit Christoph hat sie häufig Südfrankreich besucht, Arles zum Beispiel, eine Stadt, in der die Geschichte bei jedem Schritt präsent ist. Die Alys Champs fallen ihr ein, die Elysischen Felder. In Paris sind es die Champs Elysées: Begräbnisstätten an den großen ­Ausfallsstraßen der römischen Stadtgründungen. In Arles wurde dort in frühchristlicher Zeit auch der Heilige Trophîme begraben, und viele Gläubige ließen sich in seiner Nähe bestatten. Auch solche aus weiter entfernten Gegenden. Die Angehörigen legten ihren Verwandten ein Goldstück in den Mund und ließen sie in kleinen Booten die Rhône hinuntertreiben. In Arles holte man die Boote ein, nahm den Obolus und bestattete den Verstorbenen an den Alys Champs. Wenn alles gut ging. Ja, diese Stadt würde sie gerne wieder einmal besuchen. Und das frühe Frühjahr ist eine schöne Reisezeit. Dort blühen bestimmt schon die Magnolien. Man müsste nur sicher sein, dass der Mistral nicht weht, der eisige Wind, der bei strahlend blauem Himmel die Freude am Aufenthalt im Freien verdirbt. Vielleicht hätte Renate Lust, mitzukommen?

      Gerade als sie zum Hörer greifen will, muss sie auflachen. Abstand will sie gewinnen, auf andere Gedanken kommen, und das ausgerechnet in Arles, Maries Heimatstadt? Da hat ihr das Unterbewusstsein einen ganz schönen Streich gespielt. Ausblenden lässt sich die Angelegenheit also nicht, dazu ist sie zu nahe dran.

      Sie wählt Renates Nummer, erzählt, was geschehen ist, und spricht von ihrem Dilemma. Renate versteht sie. »Es ist unwahrscheinlich, dass du es schaffst, dich abzugrenzen, dazu steckst du viel zu tief in der Sache drin. Du kannst nur versuchen, sachlich damit umzugehen, deine persönliche Betroffenheit ­hintanzustellen, sonst verlierst du dich in Spekulationen. Warum wartest du nicht die weiteren Ermittlungsergebnisse ab?«

      »Genau deswegen. Weil ich persönlich betroffen bin.«

      »Und was folgt daraus?«

      »Du hast mich zwar davor gewarnt, mich persönlich zu involvieren, trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich zur Aufklärung beitragen könnte.«

      »Und wie?«

      »Indem ich Gespräche führe. Das kann ich nämlich, da habe ich jahrzehntelanges Training.«

      »An wen denkst du?«

      »Zum Beispiel an die Mitbewohnerin. Ich bin eine Freundin von Maries Großmutter, vielleicht finde ich eine andere Verständigungsebene als die Polizei. Vielleicht erfahre ich etwas Neues, zumindest aber erfahre ich etwas über Marie selbst. Ich möchte wissen,


Скачать книгу