Schöner Tod. Astrid Keim

Schöner Tod - Astrid Keim


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Danach war Ruhe. Und was mich betrifft: nein. Zu jung, fast schon eine andere Generation. Da fehlt eine wichtige Verständigungsebene: der gemeinsame Erfahrungshintergrund. Außerdem gehöre ich nicht zu den Männern, für die Frauen ab vierzig ­Neutren sind.«

      Das hört sich vernünftig an. Trotzdem überlegt sie einen Moment, ihn auf Jenny anzusprechen, denn der Name klingt in ihren Ohren ziemlich jugendlich, aber Thomas fährt bereits fort: »Es gibt übrigens noch eine Spur. Eine Friedhofsangestellte glaubt sich zu erinnern, irgendwann Ende Februar am späten Nach­mittag – und das ist ungewöhnlich – die Schranke über Fern­bedienung geöffnet zu haben. Der Zeitpunkt würde zur Vermissten­meldung passen, obwohl sich der genaue Todestag ja nicht bestimmen lässt.« Er schaut auf die Uhr. »In einer Viertelstunde wird sie im Präsidium erwartet. Ich möchte bei der Befragung dabei sein. Wollen wir uns demnächst mal abends zum Essen treffen, dann haben wir mehr Zeit zu reden, wäre dir das recht?«

      Laura nickt. »Sehr gern!«, und begleitet ihn mit leichtem Bedauern zur Tür. Das waren ja nun wirklich eine Menge Neuigkeiten. Sie denkt kurz daran, Renate über den neuesten Stand in Kenntnis zu setzen, beschließt dann aber, es auf den nächsten Tag zu verschieben. Für heute reicht es mit dem Thema. Den Abend wird sie mit einem alten Tatort verbringen, in dem ihr Lieblingsduo, der abgehobene Professor Börne mit seinem bärbeißigen Untermieter Kommissar Thiel, einen weiteren Mord aufklären. Womit sie doch wieder beim Thema wäre …

      Gleich nach dem Frühstück informiert sie Renate über den Status quo und inspiziert dann ihren Kleiderschrank. Der Himmel ist wieder tiefblau und wolkenlos, die Temperatur hat bereits die 15 Grad überschritten, und Laura kommt zu dem eindeutigen Schluss, nichts Richtiges zum Anziehen zu haben, als sie die Klamotten vom letzten Jahr durchforstet. Eigentlich vom vorletzten, denn im vergangenen hat sie sich wenig um ihre Garderobe gekümmert, da stand die Trauer zu sehr im Vordergrund. Prüfend hält sie sich einen Rock vor den Bauch, nimmt eine passende Bluse vom Bügel, dann die dunkelgraue Hose und ein schwarzes Oberteil. Alles noch tragbar, alles in Ordnung, auch die übrigen Sachen. Aber es kommt ihr so vor, als sei ein neuer Lebensabschnitt angebrochen, dem sie nun auch optisch Rechnung tragen muss.

      Eigentlich geht sie gerne zu AppelrathCüpper oder Peek&Cloppenburg auf der Zeil, denn die haben auch für die reifere Dame etwas im Angebot. Des schönen Wetters wegen entscheidet sie sich aber für einen ­Bummel über die Bergerstraße. In einem der vielen kleinen Läden sollte es doch auch etwas Passendes geben. Dass es sich um kein leichtes Unterfangen handelt, wird ihr in der vierten Boutique klar. Zwergengrößen, nichts als Zwergengrößen! Genau wie in den drei vorherigen! Kritisch wird sie von der Verkäuferin gemustert und dann darüber informiert, dass es wohl schwer würde, etwas zu finden. Laura ist perplex. Kleidergröße 40 und da soll es nichts geben? In einem Zeitungsartikel stand letztens, dass die 42er Figur am häufigsten in der weiblichen Bevölkerung jenseits der dreißig ­anzutreffen sei. Ja, was machen denn diese Damen? Oder erst die jenseits des Durchschnitts? Wo finden denn die ihre Kleidung? Hier jedenfalls nicht, das ist offenkundig. Gerade als sie sich zum Gehen wendet, tritt eine junge Frau aus der Kabine, um sich in ihrem neuen Outfit der Freundin zu präsentieren. Jetzt lüftet sich das Geheimnis. Die Freundin ist entzückt über die Passform des Kleides, und auch die Verkäuferin beglückwünscht die Kundin zu ihrer geschmackssicheren Wahl. Laura kann es nicht glauben. Die Beglückwünschte sieht aus wie eine Brühwurst kurz vorm Aufplatzen. Obwohl sie nicht wirklich dick ist. Zumindest nicht dicker als Laura selbst, sofern man in dieser Kategorie überhaupt von dick sprechen kann. Jede Speckfalte ist überdeutlich sichtbar, die Unterwäsche zeichnet sich ab. Man trägt String, auch das offenbart sich, denn die Bänder schneiden ein. Wenn man so eine Freundin hat, braucht man keine Feindin. Und so eine Verkäuferin braucht man auch nicht. Die müsste doch das Schlimmste verhindern! Fassungslos schaut sie zu, wie sich das Opfer einer gravierenden Geschmacksverirrung vor dem Spiegel in Bewunderung ihrer Erscheinung dreht und wendet. Und schlagartig wird ihr klar, dass sie mit ihrer Einschätzung völlig schief lag: Es geht offenbar darum, sich in die engste Zwergengröße zu pressen, auch wenn der Körper vehementen Widerstand leistet, um zu beweisen, dass man schlank genug dazu ist. Das wäre auch die Erklärung dafür, dass selbst stark übergewichtige Damen mit Vorliebe die engsten Klamotten tragen.

      Ernüchtert beschließt Laura, doch wieder ihre bewährten Häuser aufzusuchen. Heute aber nicht mehr, denn sie muss noch etwas essen und hat Elli versprochen, ihr einen Besuch abzustatten. Mit Elli Claussen, eigentlich Elisabeth, einer Bewohnerin des Altenheims, hat sich Laura richtig angefreundet, mittlerweile sind sie sogar per Du. Obwohl hoch in den Achtzigern, ist Elli hellwach und immer noch agil, trotz einer kleinen Herzschwäche. Alle alten Freunde sind bereits tot und Laura eine der seltenen Besucherinnen. Sie war früher Tänzerin, und das mit beachtlichem Erfolg: Mit ihrer Compagnie bereiste sie die ganze Welt. Das muss die glücklichste Zeit ihres Lebens gewesen sein, denn davon erzählt sie am meisten. Sogar in Las Vegas traten sie auf und trafen dort das »Rat Pack«: Frank Sinatra, Dean Martin und Sammy Davis jr. Viele Fotos sind erhalten, und wenn sie die Alben aufschlägt, öffnet sich eine Welt von Glanz und Glamour, eine Welt, die so gar keine Ähnlichkeit mit Lauras braver bürgerlicher Existenz hat. Während des Krieges kehrte Elli als unerwünschte Ausländerin in ihre Heimatstadt Frankfurt zurück. Die Compagnie zerstreute sich in alle Winde, sie heiratete einen Tierarzt, der sie gut versorgt zurückließ. Über diese Ehe weiß Laura wenig. Nur, dass es ein großer Schicksalsschlag war, als die gemeinsame Tochter, das einzige Kind, früh verstarb. Es scheint fast, als habe sich nach deren Tod nichts Bemerkenswertes mehr ereignet. Allerdings gibt es eine Enkelin, von der sie jede Woche besucht wird und mit der sie offenbar eine tiefe Bindung hat, denn dies sind die Tage, auf die sie sich am meisten freut.

      Laura hat schon mehrmals mit dem Gedanken gespielt, mitzuschreiben, wenn Elli von der goldenen Zeit ihrer Jugend berichtet, um ein Buch daraus zu machen. Die alte Dame wäre mit Sicherheit begeistert von der Idee, doch scheut sich Laura vor der Verantwortung, die damit einherginge. Das hieße nämlich, alles andere hintanzustellen, denn das Projekt würde eine Menge Zeit beanspruchen. Ganz zu schweigen von der Schwierigkeit, einen Verlag zu finden.

      Da es bereits zu spät ist, um noch einmal nach Hause zu fahren, studiert sie die Speisenkarten der vielen Lokale, um eine Kleinigkeit zu essen. Das Angebot ist kosmopolitisch, da hat man die Qual der Wahl. Laura entscheidet sich für ein Lachsfilet mit Reis und Spinat. Das klingt gesund und nach nicht allzu vielen Kalorien. Während sie auf ihr Essen wartet, schaut sie aus dem Fenster auf die Vorbeiflanierenden. Ihr wird klar, dass die Boutiquen recht haben mit ihrem Angebot, denn die weibliche Bevölkerung nimmt es an. Die doppelte Speckrolle über engsten Hosen ist nicht Kür, sondern Pflicht. Leggings werden auf ihre Belastungsgrenze geprüft, Röcke spannen sich über gewichtigen Hinter­teilen und geben den Blick auf knubbelige Knie frei.

      Laura ist froh, als ihr Essen kommt. Der Spinat sieht zwar etwas wässrig aus, aber das Lachsfilet wird diesen kleinen Fehler wieder wettmachen. Die Freude dauert aber nur kurz, denn als sie ihren Fisch anschneidet, bietet sich unerwarteter Widerstand. Irgendwie geht das Messer nicht durch. Erstaunlich angesichts der Tatsache, dass es sich um ein richtiges Messer und kein Fischmesser handelt. Alarmiert dreht sie das Stück um und traut ihren Augen nicht. Der Lachs ist auf der Rückseite total verbrannt, nein, nicht verbrannt. Verkohlt. Angesichts dieser Dreistigkeit verschlägt es ihr die Sprache. Hat denn der Koch überhaupt kein Unrechts­bewusstsein? War er in seinem früheren Leben Köhler? Oder geht er vielleicht davon aus, dass der Gast den ungenießbaren Teil einfach abkratzen soll? Wütend ruft sie den Service und zeigt auf das Desaster. Hier regt sich wenigstens ein Funke von Verständnis. Es sei tatsächlich etwas dunkel geraten, gibt man zu, ob die Kundin vielleicht einen neuen Fisch wolle? Die Kundin lehnt dankend ab, zahlt ihr kleines Wasser und begibt sich zur nächsten Bäckerei, um einen Mohnzopf zu kaufen. Der tut es auch, und damit geht sie keine größeren Risiken ein.

      Mittlerweile ist es drei und Zeit, sich auf den Weg zu machen. Sie nimmt die U-Bahn am Merianplatz, steigt an der Hauptwache um und ist 15 Minuten später am Ziel. Die Wohnanlage gehört zu den komfortableren, sie wirkt eher wie ein Hotel und ist verkehrstechnisch gut angebunden. Auf ihr Klopfen wird sie von einer unbekannten Frauenstimme hereingebeten. Elli ist nicht allein. Sie liegt reglos im Bett. Neben ihr sitzt eine Frau mittleren Alters, mit ihrem weißen Kittel eindeutig dem Pflegepersonal zuzuordnen. Als Laura ins Zimmer kommt, steht sie auf und stellt sich


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