Seine Frau. Hanne-Vibeke Holst

Seine Frau - Hanne-Vibeke Holst


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als auch was das Abholen angeht. Jedes Mal schwillt er vor Stolz an, sodass er aus seinen eigentlich durchschnittlichen Dimensionen herauswächst und sich wie ein amerikanischer Filmheld fühlt, wenn sie ihm winkend entgegengelaufen kommt und ihre langen Beine vor den Augen von Hunderten schwitzender Männer über den Sattel schwingt, die sich alle wünschen, dass sie so ein Motorrad hätten und Linda ihr Mädchen wäre. Dieses verliebte Ziehen im Bauch hat er seitdem nie mehr erlebt, und so war dieser Sommer – schwindelerregend, erregend. Trotzdem hat er die ganze Zeit diesen unheilverkündenden Druck empfunden, gespürt, dass die Wolken sich zusammenzogen und der Himmel bald von Blitzen zerrissen sein und das Unwetter losbrechen würde. Über seinem sündigen Haupt, denn seine Gedanken kreisten unentwegt um die fleischliche Vereinigung mit Linda, nach der er sich so sehr sehnte. Und das Unwetter kam. An einem Samstag im August wurde die Hitzewelle, die, auch nachdem sie wieder mit der Schule begonnen hatte, weiter anhielt, jäh von einem plötzlichen Wolkenbruch abgelöst, der alle überraschte. Unter anderem die Campingtouristen auf dem Tomtelli-Campingplatz am Mosede-Strand, zu dem die ganze Bande regelmäßig fuhr, um von Samstag auf Sonntag zu zelten, Bier zu trinken und laute Rockmusik auf den mitgebrachten Koffergrammofonen zu spielen. Es waren immer viele Mädchen da draußen, doch Linda bekam nur selten die Erlaubnis mitzufahren. Und an jenem Wochenende musste sie einen Aufsatz schreiben und ihrer Mutter bei der Wäsche helfen, und deshalb hatte er auch keine Lust zu fahren. Aber Sonny fuhr. Dieser Junge war, um es mit Max’ Worten zu sagen, mit einer hohen Oktanzahl im Blut geboren, sein Motto lautete leb intensiv, stirb jung, und deshalb schwang er sich gleich nach Feierabend in der Autowerkstatt, in der er gerade eine Lehre als Mechaniker gemacht hatte, auf seine Yamaha YDS3 und preschte dröhnend davon. Eine Stunde später als die Kameraden, weil die Werkstatt einen Wagen des Taxiunternehmens Sydhavnsbiler hereinbekommen hatte, bei dem hier und jetzt der Kühler abgedichtet werden musste. Doch er holte schnell einen Teil der Verspätung ein, denn man konnte rekonstruieren, dass er die Strecke von der Bådehavnsgade bis zum Kilometerstein 24 bei Tomtelli in weniger als zwanzig Minuten zurückgelegt hatte. Was bei dem Wetter viel, viel zu schnell war. Mithilfe schockierter Zeugen und der Polizei konnte man auch rekonstruieren, was passiert war. Sonny war im strömenden Regen, der die ohnehin schlechten Sichtverhältnisse noch weiter verschlechterte, mit hoher Geschwindigkeit den Gl. Køge Landevej entlanggerast, der auch die Landstraße des Todes genannt wurde. Deshalb hat er den ihm entgegenkommenden Lieferwagen nicht gesehen, der in dem Augenblick den Hügel herunterkam, in dem er sich angeberisch in die Kurve legte, um nach links auf den Campingplatz abzubiegen, ein Kunststück, das dazu gedacht war, den Eisessern am Kiosk zu imponieren. Im Übrigen umsonst, weil an diesem Tag niemand dort stand. Alle hatten vor dem Regen Schutz gesucht. Um einen Zusammenstoß zu vermeiden, bremst er gewaltig, doch wie jeder Motorradfahrer weiß, ist es fast unmöglich, eine jähe Bremsung auf einer regennassen Fahrbahn vorzunehmen, ohne die Gewalt über die Maschine zu verlieren. Er kommt ins Rutschen und wird in die Luft geworfen und direkt gegen einen Laternenpfahl geschleudert, der erst Jahre später entfernt wird. Es zertrümmert ihm die Schädeldecke; Helme sind etwas für Schlappschwänze.

      Danach war der Sommer vorbei, obwohl er noch endlose Wochen weiterging. Ja, in gewisser Weise war alles vorbei, als der Sarg im Flammenmeer des Krematoriums verschwand. Jedenfalls was Bjarne anging. Auf dem Begräbnis biss er die Zähne zusammen, während Linda hemmungslos schluchzte. Dafür war sie diejenige, die die Zeit danach am besten durchstand. Die sich um das Praktische kümmerte. Die sich des erst vierjährigen Niller annahm und den Haushalt führte, als Åse, die Mutter, zusammenbrach und nach Dianalund kam. Linda war diejenige, die sich von der Schule beurlauben ließ und mit Max im Brauereiwagen herumfuhr und allen Gastwirten und Kneipenbesitzern auf ihrer Route erzählte, was passiert war. Sie war diejenige, die ihren Vater aufmunterte und ihm das Bier rationierte, als er allzu viel zu trinken begann. Und sie war auch diejenige, die ihn, Bjarne, tröstete. Sie ließ ihn abends bei sich weinen; sie strich ihm übers Haar und versicherte ihm, dass ihn keine Schuld traf. Aber sie widersprach ihm nie, wenn er sagte, dass es besser ihn, Bjarne, getroffen hätte statt Sonny. Bestenfalls konnte er sie dazu bewegen, einen ihn zum Schweigen bringenden Finger auf seine Lippen zu legen oder zu flüstern, dass er so etwas nicht sagen durfte. Allmählich wurde die Verzweiflung darüber, dass sie ihn, der er am Leben war, weniger liebte als Sonny, der tot war, zu einem größeren Schmerz als die Trauer um den verlorenen Freund. Und unreif, wie er war, endete es damit, dass er sie eines Abends so fest an den Oberarmen packte und eine Antwort verlangte, dass sie stöhnte. Wünsche sie sich, dass nicht Sonny, sondern er, Bjarne, bei dem Unfall umgekommen wäre? Als sie wieder mit ihrem »so kann man das nicht sehen« auswich und er mit immer härterem Griff eine Antwort verlangte, ob sie ihn mehr liebe als ihren toten Bruder, antwortete sie mit einem fremden, einschüchternden Fauchen, wie eine Katze aus der Unterwelt, dass sie nie jemanden lieben würde, wie sie Sonny geliebt hatte.

      Sie war sechzehn, er achtzehn, sie waren nur ein Junge und ein Mädchen; trotzdem hat er nie aufgehört, sich Vorwürfe zu machen, dass er nicht klüger gewesen ist. Denn an diesem Abend hat er sie verlassen. Ist aus der Tür gestürmt und hat sie hinter sich zugeschlagen, dass der Putz im Treppenhaus von den Wänden rieselte. Wahrscheinlich ist er da passiert, der Bruch. Selbst wenn der Vorhang nicht hier fiel, denn, wie sich zeigen sollte, gab es noch mehrere Akte in diesem Drama. Erst bereute er, rief sie von der Telefonzelle an der Ecke aus an. Aber sie legte ihn auf Eis, wollte ihre Meinung nicht ändern und weigerte sich mehrere Wochen, ihn zu sehen. Er ließ den Kopf hängen, spielte jedoch den Stolzen und ging mit anderen Mädchen aus, die hinten auf dem Rücksitz sitzen durften, als er die Paradefahrerei wieder aufnahm. Ob das schließlich den Ausschlag gab, ob es ein Ausdruck von Eifersucht oder Besitzanspruch war, darüber ist er sich nie klar geworden, aber plötzlich, an einem Dienstagabend im September, rief sie ihn an und fragte, ob er kommen und sie abholen mochte. Sie würde gern eine Tour machen. Sie würde gern raus nach Tomtelli fahren und sich die Stelle ansehen.

      In den Wochen, die vergangen waren, waren die Tage kürzer geworden und die Abende dunkler und kühler, und Linda war nicht länger ein helles, sonnengebräuntes Sommermädchen mit nackten Beinen. Ganz im Gegenteil haftete ihr etwas Winterhaftes an, wie sie in den engen Jeans und dem Anorak, dessen Reißverschluss ganz hochgezogen war, unter der Straßenlaterne im Borgbjergvej auf ihn wartete. Das Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, und sie hatte kein Make-up aufgelegt. Er konnte sich nicht erinnern, sie jemals so zugeknöpft gesehen zu haben – und auch nicht so blass, mit dunklen Rändern unter den Augen. Doch als er erschrocken fragte, ob es ihr nicht gut gehe, versicherte sie ihm, dass es ihr ausgezeichnet gehe, schnipste ihre Zigarette fort und setzte sich mit der üblichen, leicht schwingenden Bewegung auf dem Sitz zurecht. Sie bestand auch darauf, nach Tomtelli hinauszufahren, obwohl er ihr das auszureden versuchte. Sie wirkte so zerbrechlich, und er war sich auch nicht sicher, ob er selbst das schaffen würde.

      Sie brach in Tränen aus, und er musste kräftig schlucken, als sie nach Tomtelli hinauskamen und das Motorrad an dem nach der Saison geschlossenen Kiosk abstellten. Der Laternenpfahl hatte ordentlich etwas abbekommen, wie sie sagte, als sie sich die Augen trocken gewischt hatte. Es lagen noch immer verwelkte Blumen da, und der Asphalt stank noch immer nach Blut, und am Mast selbst waren in den morschen Ritzen des Holzes bräunliche Spritzer zu sehen. Er ließ sie allein, während sie die Stirn gegen den Pfahl lehnte und die Lippen bewegte, als würde sie beten. Anschließend suchten sie am Straßenrand nach weiteren Spuren, welcher Art auch immer, und als er nach einer intensiven Suche im Schein der Laterne einen zerbrochenen Seitenspiegel entdeckte, hatte er ein Gefühl, als hätte er die Goldenen Hörner gefunden. Sie lächelte das erste Mal an diesem Abend und steckte den Schatz in ihre Anoraktasche.

      Und dann ... Ja, dass es mit diesem Abend enden sollte, kam völlig überraschend für ihn. Ebenso wie er ganz anders verlief, als er sich vorgestellt hatte. So hatte er beispielsweise immer vor sich gesehen, dass sie einen Rock anhaben würde, wenn es endlich passierte. Einen Rock und einen Hüfthalter und dünne Nylonstrümpfe. Und dann musste er sich mit ein paar beschwerlichen Röhrenhosen abmühen, die sie ihm selbst half herunterzuziehen, als sie nach einer kalten Fahrt im Gegenwind, auf der er sie gegen seinen Rücken gepresst weinen spürte, zurück in die Stadt kamen und verfroren und durchgepustet in dem Schrebergartenhaus drüben in Frederikshøj landeten. Der Vorschlag kam von ihr. Sie wollte nicht nach Hause. Das wollte sie einfach nicht. Nachdem sie den Kirschwein aus dem Schrank geteilt und den größten Teil einer Packung North State unter


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