Seine Frau. Hanne-Vibeke Holst

Seine Frau - Hanne-Vibeke Holst


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sagt die weibliche Hälfte unumwunden und schiebt ihr einen Würfelbecher hin. Ein Brettspiel liegt ausgefaltet vor ihnen auf dem Tisch. Das Prinzip ist folgendes, dass sie verschiedene Fragen bekommt, je nachdem, auf welchem Feld sie landet. Vermutlich stehen die Fragen ohnehin fest, aber sie geht auf den Spaß ein.

      Zuerst würfelt sie eine Drei.

      »Wie ist es, nach Hause geschickt zu werden?«, liest der Moderator vor. »Sozusagen aus dem Ministerbüro zu fliegen?«

      »Schlimm!«, lacht sie. »Sehr viel schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte! Das ist wie beim Schlagball, nicht? Es ist beträchtlich lustiger, der zu sein, der drinnen ist, als der, der draußen ist.«

      Sie will noch etwas über die katastrophale Politik der Regierung hinzufügen, doch die Moderatorin nickt auffordernd in Richtung des Bechers.

      »Würfeln Sie noch einmal!«

      Diesmal würfelt sie eine Sechs, und der Moderator strahlt.

      »Werden Sie irgendwann einmal Staatsministerin?«

      »Huha«, lacht sie ausweichend mit dem ätzenden Gefühl, Essigsäure getrunken zu haben. Mit welcher Phrase antworten Politiker doch gleich, wenn man ihnen solche Fragen stellt? »Wenn man diese Ambition nicht hat, hat man in Christiansborg nichts verloren!« Das zu sagen, kann sie sich nicht überwinden. Aber sie will auch nicht ihre Unsicherheit mit einigen Hunderttausend P3-Hörern teilen. Das Gefühl, in der Burg am falschen Platz zu sein. Die Ambivalenz, als sie an dem Einführungskurs für die neuen Folketingmitglieder teilgenommen hat und die Begeisterung der anderen, da zu sein, nicht teilen konnte, und die Antiklimax, als sie als Mitglied ihre Jungfernrede gehalten und das obligatorische Kleingeld einkassiert hat. Gar nicht erst zu reden von der Stimmung in der sozialdemokratischen Fraktion, die sie nicht gerade trällernd ihres Wegs gehen lässt. Auf der anderen Seite spürt sie den starken Impuls, etwas zu tun, für das Gute zu kämpfen wie die Idealisten, mit denen sie sich noch immer identifiziert. Aber muss das dort sein? In Christiansborg?

      »Danach strebe ich nicht bewusst«, antwortet sie schließlich. »Nur einer muss die Drecksarbeit machen, sodass es schon sein kann, dass man sich opfern muss. Irgendwann einmal.«

      Sie sagt das leichthin und munter, aber hier kriegen sie sie trotzdem.

      »Bedeutet es ein Opfer, Staatsminister zu sein?«, fragt die Moderatorin, die unter ihrer entwaffnenden jütischen Oberfläche sowohl clever wie auch sarkastisch ist.

      »Sehen Sie sich um!«, antwortet sie schnell, bevor sie es bereut. »Das ist der härteste Job im Land, Sie sind rund um die Uhr im Dienst und ernten nichts als Undank.«

      »Und wenn man fertig ist, ist man wirklich fertig?«, fügt die clevere Jütländerin hinzu.

      Charlotte lächelt ablenkend. Sie hat mehr als genug gesagt.

      »Soll ich noch einmal würfeln?«

      Der Flug SK926 von Los Angeles mit Ankunft auf dem Copenhagen Airport um 6.50 Uhr hat aufgrund der neu eingeführten Sicherheitsvorschriften auf den amerikanischen Flughäfen knapp vierzig Minuten Verspätung. Dafür können die Passagiere sich freuen, dass sie einen komfortablen Flug hatten, da in allen Klassen ungewöhnlich viel Platz war. In der Businessclass konnte sich Ole-Stig über drei Sitze ausbreiten, und nachdem er als routinierter Kosmopolit eine Schlaftablette genommen und zusätzlich direkt nach dem Abflug eine Melatonintablette unter der Zunge zergehen lassen hat, hat er seit dem Take-off wie ein Baby geschlafen. Im Gegensatz zu den Passagieren, die in großer Anzahl ihre Weihnachtsreise über den Atlantik abgesagt haben oder nur notgedrungen an Bord gegangen sind, hat Ole-Stigs Nervenkostüm sich nicht durch Flugzeugentführer aus dem Mittleren Osten, al-Qaida-Bomben oder Pockenviren im Ventilationssystem erschüttern lassen. Er teilt nicht die Furcht der Amerikaner vor dem in ihren Augen naiv schutzlosen Europa; er ist überzeugt, in dem Flugzeug sicherer zu sein als in der immer wieder von Erdbeben erschütterten Bay Area oder in jeder beliebigen amerikanischen Großstadt. Und was Kopenhagen angeht – Dänemark insgesamt –, ist das seiner Meinung nach noch immer ein rührend unschuldiges Märchenland, bevölkert von freundlichen Zwergen jenseits the real world.

      Eine Meinung, die nur noch bestätigt wird, als er sich während des Landeanflugs die Nase am Fenster platt drückt und, nachdem das Flugzeug eine Kurve über Schonen geflogen ist, sich Kopenhagen wie eine beleuchtete Insel in einem dunklen Meer unter ihm ausbreitet. Eine kleine Insel, denkt er zufrieden, denn wie alle Emigranten möchte er das Vaterland in einer versiegelten Zeittasche halten, und deshalb ist jede Veränderung oder Entwicklung nur von Nachteil. Trotzdem starrt er fasziniert auf den gestrichelten Lichtstreifen mitten im Sund, bei dem es sich, wie er sich ausrechnen kann, um die neue Brücke über den Øresund handeln muss. Die Brücke, deren politischer Vater zu sein Gert so stolz ist. Wüsste man es nicht besser, könnte man den Eindruck gewinnen, dass es allein sein Verdienst ist, dass überhaupt etwas aus der Brücke geworden ist. Dass es ihm und seinem politischen Weitblick zu verdanken ist, dass Dänemark und Schweden miteinander verbunden sind. Doch als sein kleiner Bruder hat Ole-Stig gelernt, die Kirche im Dorf zu lassen, wenn es um Gert geht. Denn sein großer Bruder ist ein Prahlhans, das ist er immer gewesen. Er ist auch ein Hitzkopf, ein arroganter s.o.b., ein silly old bastard, und seltsam ehrliebend. Alles in allem wäre er ziemlich unausstehlich, wäre er nicht noch so vieles andere. Superbegabt, intellektuell stimulierend und – das vor allem anderen – sein großer Bruder, der ihn immer beschützt hat. Ohne Gert hätte Ole-Stig die Kindheit in Tansania nicht überlebt. So einfach ist das. Ole-Stig hatte nicht nur eine weißere Haut als Gert und rötere Haare, was ihm an sich schon negative Beachtung einbrachte, um es mit einer erwachsenen Umschreibung auszudrücken. Er war auch eine Heulsuse und hatte nie gelernt, mit der Steinschleuder zu schießen, und kam selbst bei einer Schlägerei mit dem unterlegensten Gegner in Bedrängnis. Er verstand es einfach nicht, sich zu prügeln. Hatte nicht diesen killer instinct, der Gert zum Häuptling der Jungen machte, sowohl der weißen wie der schwarzen. Und obwohl Gert sich nicht zurückhielt und seinen kleinen Bruder wegen seiner mädchenhaften Neigung aufzog, mit Puppen zu spielen und schöne Damen aus den Wochenzeitschriften auszuschneiden, die sie aus Dänemark geschickt bekamen, duldete er es nicht, dass andere mit Fingern auf ihn zeigten. Auch nicht ihr Vater, der es nicht ertrug, dass sein jüngster Sohn sichtlich »entartet« war. Verstiegen wie er war, glaubte er, mithilfe von Strafen aus seinem Sohn »einen richtigen Jungen« machen zu können. Eine Erziehungsmethode, die er konsequent und mit harter Hand durchzog, bis Gert groß genug war, sich zwischen die beiden zu stellen und den Leiden seines kleinen Bruders ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Ob Gert jemals, in seinem tiefsten Inneren, die Homosexualität seines Bruders akzeptiert hat, ist zweifelhaft, aber zumindest hat er immer für dessen Recht gekämpft, homosexuell zu sein. Deshalb hat Ole-Stig trotz der offensichtlichen Fehler und Mängel seines großen Bruders eine Schwäche für ihn. Seinetwegen kann er gern die Ehre für sämtliche Brückenverbindungen, die er will, in Anspruch nehmen, darf prahlen und verschlossen sein, darf dozieren und irritieren. Er vergibt seinem großen Bruder alles.

      Nur ein einziger Punkt stört ihn. Denn obwohl er seinen großen Bruder liebt, ja, ihn irgendwie sogar vergöttert und ihm alle Macht und Ehre dieser Welt gönnt, ist es nicht in Ordnung, not okay, dass er dort weitermacht, wo ihr Vater aufgehört hat. Nicht, dass sie jemals darüber gesprochen hätten. Aber er ist schließlich nicht blind – als Kind einer misshandelten Mutter sieht man so etwas. Die Unruhe, die Angst, die Nervosität. Und die klinischen Spuren natürlich. Er ist immerhin Arzt. Oft schon hat er zerschlagene Frauengesichter repariert und Frauen, die verzweifelt um eine neue Identität gekämpft haben in der Hoffnung, sich so vor ihrem Verfolger verstecken zu können, ein neues Gesicht gegeben. Er hat es sogar gratis gemacht. Für die finanziell Unterprivilegierten. Und das sind schließlich die meisten in dieser Situation.

      Eine Stewardess tippt ihm auf die Schulter. Er hat vergessen, die Stuhllehne aufzurichten. Sie lächelt, blond und skandinavisch. Erinnert ein bisschen an Linda, vor zehn, fünfzehn Jahren. Er erwidert das Lächeln, drückt auf den Knopf und gelobt sich, diesmal etwas zu unternehmen. Mit Gert zu sprechen. Er muss aufhören, seine Frau zu schlagen.

      Es ist nicht ihre Schuld, dass das Flugzeug


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