Seine Frau. Hanne-Vibeke Holst

Seine Frau - Hanne-Vibeke Holst


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auf dem sporadischen Lesen der internationalen Zeitungen und Zeitschriften basieren, die ich ab und zu aus Gerts Papierkorb fische, um mich durch sie hindurchzuarbeiten. Wenn ich mit Saubermachen, Wochenzeitschriftenlesen und Nägellackieren fertig bin, versteht sich.

      Doch Ole-Stig gibt mir recht, hurra!

      »Yeah! Condee ist noch wichtiger für sie als Powell! Wenn eine schwarze Frau bis ganz an die Spitze kommen und Sicherheitsbeauftragte werden kann, ist an der Legitimität der Bush-Regierung nichts auszusetzen. Dann kann man sie nicht der Diskriminierung beschuldigen, oder?«

      »Wir sind fast gleichaltrig. Sie ist ’54 geboren«, sage ich und ernte einen resignierten Blick von Gert, der sich wieder darin bestätigt fühlt, dass ich nicht intelligenter bin als die Türen, gegen die er meinen Kopf knallt. Das ist so eine Angewohnheit, die ich mir zugelegt habe. Ich erinnere mich an die Geburtsjahre berühmter Frauen, um mich damit zu quälen, was aus mir hätte werden können. Richterin am Obersten Gerichtshof, Professorin der Molekularbiologie, Literaturnobelpreisträgerin, Ministerin ...! Natürlich ist das Unsinn, lächerlich, mir einzubilden, dass an mir eine Superfrau verloren gegangen ist. Dafür habe ich, 1950 geboren, noch immer eine reelle Chance, unter die jüngeren Toten zu fallen, die ich täglich in den Todesanzeigen zähle. Zumindest das muss ich schaffen, früh genug zu sterben, damit es bemerkt wird. Und wie immer hilft Gert mir dabei, dieses Ziel zu erreichen, indem er spitz fragt, was diese Bemerkung soll?

      »Nichts«, piepse ich und konzentriere mich hausmütterlich auf die bräunenden Kartoffeln, die Ole-Stig vergessen zu haben scheint. Schulmeisterhaft wendet sich Gert Ole-Stig zu und erklärt den Begriff Pax Americana, dem wir Europäer per definitionem, like it or not, unterworfen sind, wie er meint. Eine Radiodiskussion, zu der ich – wie er annimmt – absolut keine Meinung habe. Von mir wird erwartet, dass ich den Mund halte. Aber ich bin trotz allem auch ein paar Semester auf die Universität gegangen, und ich kann eine Zeitung lesen, und jetzt, wo Ole-Stig als Puffer da ist, kann ich der Versuchung nicht widerstehen, meine Meinung kundzutun.

      »Ja, aber«, unterbreche ich und mache einen tiefen Zug. »Es ist zwar möglich, dass wir uns mit Amerikas ökonomischer und militärischer Dominanz abfinden müssen. Es ist auch möglich, dass wir als kommunistischer Satellitenstaat geendet wären, wenn die USA uns nicht gerettet hätten. Aber bedeutet das, dass wir ihnen ewig dafür dankbar sein müssen? Historische Überlegenheit gibt doch nicht dem Stärkeren das moralische Recht, den Schwächeren niederzuwalzen! Man muss doch Respekt vor anderen Meinungen haben ... Ich meine, das ist doch nicht zivilisiert, oder?«

      »Was ist nicht zivilisiert?«, fragt Gert und stößt Rauch aus.

      »Andere auf ihren Platz zu prügeln«, sage ich und begegne seinem Blick, als der Rauch in Richtung Dunstabzug zieht. »Seinen Willen zu erzwingen«, meine ich. »Das ist doch unmenschlich, nicht?«

      Ole-Stig nickt bestätigend, trotz Gerts spitzer Bemerkung: »Das ist internationale Politik, Schatz!« Offenbar hat der kleine Bruder die Doppeldeutigkeit in dem ehelichen Duell nicht mitbekommen, denn er spricht mit Sicherheit nur von Amerika, als er sagt, dass sie auch gegen die Schwulen sind.

      »Sie sind gegen die Schwulen, die Lesben, die Indianer, die Gewerkschaften, die Abtreibungsärzte, die Feministinnen und die Intellektuellen. Alle Minderheiten erleben das. Unsere Telefone werden abgehört, die Basisdemokraten werden unterwandert, und wenn du sonntags nicht in die Kirche gehst, bist du bereits einer von ihnen. Ein potenzieller Terrorist oder ein enemy of the state. Sie sind so extrem paranoid, dass es schon krank ist. So viel dazu, die mächtigste Nation der Welt zu sein, Gottes gelobtes Land! Ein Terrorangriff, und alles wird zu Staub. Ich glaube wirklich, ich emigriere!«

      »Ja! Komm nach Hause! Du kannst bei uns wohnen! Bob auch! Ihr könnt beide hier wohnen! Oben!«, rappe ich eifrig, zu eifrig, wie ich an Gerts angespanntem Ausdruck sehe. Es ist zwar Weihnachten, aber es gibt Grenzen.

      »Too late, honey«, sagt Ole-Stig mit einem bedauernden Schulterzucken und steht auf. »Hast du ein ordentliches Messer?«

      Yes, ich habe ein ausgezeichnetes, geschliffenes Messer, das mühelos die hervorragende Ente zerteilt, die zu dem hervorragenden Burgunder passt, an dem bei diesem hervorragenden Weihnachtsessen keiner spart. Eigentlich hatte ich geplant, in Maßen zu trinken, doch das Küchengeplauder war trotz allem so stressig, dass die Nervosität wie Fritteusenfett im Magen siedet. Ich habe auch Angst, eine Hitzewelle zu bekommen, die Kerzen geben so viel Wärme ab, dass sich Schweißtropfen unter der Kante meines BHs zu sammeln beginnen. Ich habe meinen Arzt bereits angefleht, mir Hormone zu geben, bin bereit, das Risiko eines Blutpfropfens in Kauf zu nehmen. Der Arzt hat nicht begriffen, warum ich so versessen darauf bin, Östrogene zu schlucken. Ich bin schließlich nicht in der Situation vieler Karrierefrauen mittleren Alters, die sich ihr ganzes Curriculum Vitae verderben können, wenn sie bei einer PowerPoint-Präsentation eine Hitzewallung bekommen – wie Condee bei einer Besprechung im Oval Office, stelle ich mir vor –, ich kann nach Hause gehen und durchschwitzen, was ich will. Mein Arzt ist nicht besonders fantasievoll, oder vielleicht verkraftet er einfach keine Patientinnen mit Problemen, deshalb gehe ich auch weiter zu ihm. Er fragt nie nach, auch nicht, wenn ich ein weiteres Mal mit einer gebrochenen Rippe komme, da ich »die Treppe hinuntergefallen bin«, oder Blut im Urin habe, weil die Nieren bei »einem Tritt von einem Pferd« zu Schaden gekommen sind. Deshalb hat er auch nicht genug Fantasie, sich vorzustellen, dass ich ein sehr viel größeres Risiko eingehe, wenn ich in Gegenwart meines Mannes Hitzewallungen bekomme, als wenn ich Hormone schlucke. Denn Gert ekelt sich vor meinen Hitzewallungen, die er als Provokation ansieht, und wenn ich während des Weihnachtsessens eine bekäme, fände er das so unappetitlich, dass er ohne Zweifel aufstehen und den Tisch verlassen würde. Selbst in Gegenwart seines Bruders.

      Dank des Sterns von Bethlehem und vor allem dank der himmlischen Empathie meines Schwagers, die ihn demonstrativ den Schlips lösen und Gert bitten lässt, die Tür zum Garten zu öffnen, kann ich die Katastrophe abwenden, indem ich mir die Oberlippe mit dem Tellerdeckchen trocken tupfe und den obersten Knopf meiner mit Applikationen verzierten Seidenbluse öffne. Doch meine Nervosität bekomme ich nicht so leicht in den Griff, denn jetzt dauert es nicht mehr lange, bis wir die Geschenke austauschen. Es ist das Fahrrad, das mich nervös macht. Ob es ihm gefällt? Oder ob es total falsch ist? Als ich den Mandelreis auf den Tisch stelle und die Portionen verteile, tue ich das mit dem stillen Gebet, dass Gert die Mandel bekommt. Nicht weil er auch nur im Mindesten an dem Marzipanschwein mit der roten Schleife interessiert wäre, das für alle sichtbar auf dem Tisch steht, sondern weil ich weiß, wie sehr er es hasst, eine Trophäe, welcher Art auch immer, nicht zu gewinnen. Ole-Stig weiß das auch, doch dann fährt trotzdem ein kleiner Teufel in ihn, denn offenbar hat er nicht vor, Gert kampflos den Sieg zu überlassen. Es endet damit, dass die beiden sich jeder durch vier Portionen essen, bevor ich meine Chance gekommen sehe, die Mandel, die in meiner Portion war, in einen kleinen Klacks auf Gerts Teller zu schummeln. Ole-Stig sieht es sofort und schreit Das ist Betrug!, doch Gert führt schnell den Löffel zum Mund, um dann schamlos zu behaupten, der rechtmäßige Gewinner zu sein. Ein edler Gewinner, der das Schwein sofort an Ole-Stig weitergibt, mit einem nachsichtigen Verderben wir dem Kind nicht den Spaß!

      »Dem Kind!«, quäkt Ole-Stig. »Who the fuck ist hier das Kind! So ist er immer gewesen«, beklagt er sich theatralisch bei mir, und ich lache und sage: »I know!«

      Gert gluckst und hebt das Portweinglas, und Ole-Stig schüttelt gutmütig den Kopf und bringt ein Skål auf die Abwesenden aus – unter anderem auf die toten Eltern und den lebenden Bob, mit dem er mindestens zweimal am Tag lange Telefongespräche führt. Noch immer guter Laune macht Gert den Weihnachtsbaum an, den Ole-Stig und ich gestern gekauft und heute Vormittag geschmückt haben, während Gert kurz in der Burg war, und ich stehe vom Tisch auf und setze Kaffee auf und stürze eilig zwei Gläser mit Rotwein hinunter, um die Panik zu dämpfen, die mich durchströmt. Warum habe ich nicht einfach nur ein Buch oder ein paar Handschuhe oder etwas anderes, weniger Ausgefallenes gekauft? Es wäre besser gewesen, wenn wir die Geschenke ganz abgeschafft hätten. Weniger peinlich für uns beide. Denn was mag er für mich gekauft haben? Noch einen Satz Unterwäsche, die er dann zerreißt, wenn sich die Gelegenheit bietet?

      Mit steifen Schritten kehre ich,


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