Seine Frau. Hanne-Vibeke Holst
Lampen sind ausgeschaltet, und Frank Sinatra singt wieder. Gert dreht sich zu mir um und lächelt, und Ole-Stig nimmt mir das Tablett ab und stellt es auf den Sofatisch.
»Ist das schön!«, rufe ich und bleibe stehen und sehe mir blinzelnd den Baum an. Wann haben wir zuletzt einen Baum gehabt, der bis zur Decke reichte? Vor zehn Jahren? Vor fünfzehn? Jedenfalls nicht mehr, seit wir aufgehört haben, mit unseren Familien Weihnachten zu feiern.
Ole-Stig besteht darauf, dass wir um den Baum tanzen, und obwohl Gert sich weigert, endet es damit, dass wir um ihn herumgehen und einander an den Händen halten. Ole-Stig hat Frankieboy abgestellt und singt jetzt selbst – und was immer man über ihre Kindheit in der Missionsstation sagen mag, die Weihnachtslieder haben sie in der Sonntagsschule gelernt. Einige werden auf Englisch gesungen, doch das spielt für mich keine Rolle. In meiner Familie waren wir nie sonderlich weihnachtsliedfest, sodass ich ohnehin nicht viele Strophen der dänischen Versionen kenne. Ich lausche auch lieber den aufeinander abgestimmten Baritonen der beiden Männer, die Silent Night singen, dass die Fensterscheiben beschlagen und die Götter sich einfach erbarmen müssen. Und ich hoffe, das tun sie weiter, die Götter, damit mein Geschenk sich nicht als Katastrophe erweist. Als mein Verschworener holt Ole-Stig das Fahrrad aus dem Schuppen, wo es der freundliche, zu seinem Wort stehende Fahrradhändler auf meine Bitte hin gestern abgestellt hat.
»Für Gert von seiner Frau!«, liest Ole-Stig laut, als er das Fahrrad ins Wohnzimmer getragen hat. Ich hätte es nicht in Geschenkpapier einpacken sollen. Gert ist sichtlich irritiert, das ganze Papier abwickeln zu müssen, deshalb eile ich ihm mit einer Schere zu Hilfe und mache es für ihn, während er stumm zusieht.
»Ein Fahrrad«, sagt er schließlich nüchtern, als ich es von dem Goldpapier befreit habe.
»Ein Raleighrad«, sage ich. »Mit Trommelbremse. Gebraucht ... So eins, wie du es einmal gehabt hast ... damals, als wir jung waren, meine ich ... Ich dachte ...«
»Cool!«, sagt Ole-Stig und betätigt die Klingel. »Ein Vintage-Modell! Die bekommt man in den USA fast gar nicht!«
»Ich hatte eigentlich an ein Rennrad gedacht«, sagt Gert. »Ein Mountainbike. Das hier hat so etwas Altväterliches, nicht?«
Ole-Stig schüttelt zungenschnalzend den Kopf. Klopft Gert auf die Schulter.
»Granny, let’s face it! Wir sind schließlich im Großvateralter. Auch wenn wir keine Enkelkinder haben!«
Ich bücke mich schnell, sammle das um seine frisch geputzten Lloyd-Schuhspitzen verteilte Papier auf und vermeide so, seinen Gesichtsausdruck zu sehen. Kann ihn mir aber ohne Weiteres vorstellen. Glatt wie das Meer unmittelbar vor der Flutwelle. Doch jetzt habe nicht ich mich zu dieser Bemerkung erdreistet, sondern sein lieber kleiner Bruder. Deshalb erhebt sie sich nicht, die Welle, begnügt sich mit ein paar kleinen Wellenschlägen, die kalt über mich hinwegspülen, während ich vor seinen Füßen liege.
»Das kann man hoffentlich umtauschen?«
»Das weiß ich nicht«, sage ich und richte mich mit dem zusammengeknüllten Papier und dem schwarzen Seidenband in den Händen auf. »Danach habe ich nicht gefragt.«
»Wenn er es nicht haben will, kaufe ich es. Zum doppelten Preis«, kommt es von Ole-Stig. Nicht sonderlich umgänglich diesmal. Eher wie das warnende Knurren eines Hundes.
Gert dreht sich halb zu ihm um, und in diesem Augenblick scheint das Wohnzimmer mit dem Weihnachtsbaum, den Kerzen und allem zu kippen.
»Ich behalte es«, sagt Gert und drückt mir einen Kuss auf die Wange. »Danke, Schatz! Das ist ... nett von dir.«
Damit steht das Wohnzimmer wieder waagerecht, der Weihnachtsbaum wieder gerade, und der Kaffee scheint nicht mehr aus den Tassen zu laufen. Aber ich fühle mich noch immer so schief wie der Turm von Pisa, den zu besichtigen Touristen aus der ganzen Welt Eintritt zahlen.
Die letzten selbst verlöschenden Kerzen gehen mit einem Ziiisch aus, die Stille der Nacht senkt sich über das Haus, und die beiden Brüder haben die Hälfte ihrer Cohiba-Zigarren geraucht und sind beim dritten Cognac von Léopold Gourmel angelangt, einem hellen, bernsteinfarbenen Gourmeterlebnis mit einem Hauch Vanille, den Ole-Stig in hohen Tönen lobt, als er sich sagt, dass jetzt der Moment gekommen ist. Jetzt, wo Linda ins Bett gegangen – oder besser geschickt worden – ist, nachdem sie in einem Rausch die Küche aufgeräumt hat, den man back home als skandalös bezeichnen würde. Und obwohl dänische Frauen auch in diesem Punkt freizügiger sind, ist ihm klar geworden, dass seine Schwägerin ganz offensichtlich ein Alkoholproblem hat. Den endgültigen Beweis hat er im Schuppen bekommen, als er das unglückselige Fahrrad geholt hat und beinahe über eine halb volle Flasche Schnaps gestolpert wäre, die über den Betonfußboden rollte. Nicht wenige seiner engsten Freunde, gar nicht erst zu reden von seinem geliebten Bob, haben einen Entzug gemacht – sowohl nach dem Minnesota-Modell wie auch in der Betty-Ford-Klinik –, und das mit positivem Resultat, trotz einiger Rückfälle. Die Prognosen sind vor allem dann vielversprechend, wenn das Problem rechtzeitig erkannt wird und der Süchtige sowie der Mitsüchtige sich ihm stellen. Ob Gert erkannt hat, dass seine Frau trinkt, ist die Frage, um die Ole-Stig wie ein Golfball um die Lochkante kreist, während sein großer Bruder ihm ein weiteres Mal den Provinzialismus der dänischen Innenpolitik im Allgemeinen und die populistische Kaffeekränzchenrhetorik der neuen Regierung im Besonderen darlegt. Er scheint sich nicht viele Gedanken über seine Ehe zu machen, doch Ole-Stig ist sein Ärger nicht entgangen, als er Linda gebeten hat, sich zurückzuziehen. Ja, eigentlich klang es mehr wie ein Befehl, dem sie auch prompt Folge geleistet hat. Im Großen und Ganzen kann Ole-Stig, der Gert freundlich zuhört, sich nicht entscheiden, ob er beruhigt sein oder seine bangen Ahnungen, was das Verhältnis seines Bruders zu seiner Schwägerin angeht, eher bestätigt sehen soll. Obwohl er sie mehr als forschend angesehen hat, hat er keine Spuren physischer Gewalt entdecken können. Außer dass ihr ein Zahn fehlt, oben rechts, den sie durch eine Krone ersetzen lassen sollte, aber das heißt nicht notwendigerweise, dass er ihn ihr ausgeschlagen hat. Allerdings steht außer Diskussion, dass Gert unfreundlich zu ihr ist. Zu unfreundlich, und es schneidet ihm ins Herz zu sehen, wie eingeschüchtert seine früher so toughe Schwägerin inzwischen ist. Wenn er mit ihr allein ist, ist sie noch immer süß, lustig und schlagfertig, und als Profi würde er auch sagen, dass sie sich auffallend gut gehalten hat. Würde sie ihn in seiner Klinik konsultieren, er würde sich damit begnügen, ihr ein blue peeling zu empfehlen, wie das, dem er sich selbst unterzogen hat, und später einmal ein umfassendes Lifting. Ja, erst Restylane, gefolgt von Botox. Doch wie er immer zu seinen Klienten sagt, an der Ausstrahlung lässt sich nichts machen. Die innere Schönheit kann nicht einmal der beste Arzt der plastischen Chirurgie hervorholen. Und die verliert sie langsam. Die Frische, die Vitalität, die sie zumindest früher so hot machte, dass es selbst ihn nicht kalt ließ. Linda war einfach sexy. Nicht verwunderlich, dass Gert, der in seinen von Akne geprägten Teenagerjahren – in denen ihm ein Peeling wirklich gutgetan hätte – nicht gerade der Liebling der Mädchen war, herumstolziert ist wie ein horny cat, als er sie erobert hatte. Miss Danmark, verdammt! Und jetzt haben sie getrennte Schlafzimmer. Traurig. Gert macht auch keinen besonders glücklichen Eindruck, aber das ist vielleicht verständlich, wenn einem gerade der Job vor der Nase weggeschnappt worden ist.
Eigentlich hat er erst jetzt das Gefühl, dass Gert ein wenig auftaut, wo sie sich mit den Cognacgläsern in der Hand in den tiefen Ledersesseln in Gerts Arbeitszimmer entspannen, das in unangenehmem Ausmaß an das Herrenzimmer ihres Vaters in einer anderen Villa in Frederiksberg erinnert, von den Mogens-Koch-Regalen, dem Børge-Mogensen-Sofa und dem Kaare-Klint-Sessel bis hin zu den Geweihen an der Wand. Er hat Schuhe und Strümpfe ausgezogen, was er immer tut, wenn er entspannen will und sich sicher und wohl fühlt. Gert hat sich nie daran gewöhnt, Schuhe zu tragen. Ole-Stig lächelt ihm wissend zu, löst auch die eigenen Schnürsenkel und streift die Schuhe mit einem ah! ab. Jetzt, wo die Ruhe sich endlich eingefunden hat, ist es da nicht schade, eheliche Scharmützel zur Sprache zu bringen? Von denen Gert zu Recht behaupten kann, dass sie nicht babybrother’s business sind.
»Kannst du dir vorstellen, wieder einmal auf Safari zu gehen?«, fragt er stattdessen mit einem Nicken zu den ausgestopften Großwildtrophäen