Seine Frau. Hanne-Vibeke Holst
konnte, dass sie ihr Ministerium schon vor einigen Monaten gebeten hatte, zu dem Risiko eines genau solchen Angriffs Stellung zu nehmen, war sie allen ein Stück voraus, weshalb er den entrüsteten Protest des Gesundheitsministers überhörte und auf Charlotte setzte.
So kam sie von der kältesten Kälte in die wärmste Wärme, was symbolisch noch dadurch unterstrichen wurde, dass er sie in der darauffolgenden Zeit oft als seine Sekundantin auswählte, wenn beruhigende Pressekonferenzen zu möglichen Funden von Milzbranderregern im Postterminal, kursierenden Märchen über eine Vergiftung des Wasserreservoirs Groß-Kopenhagens und Geständnissen über gestohlene Pockenviren abgehalten wurden. Dass Pulverpanik und Untergangsangst die Bevölkerung nicht total verunsicherten, musste zu Recht auch Charlotte zur Ehre angerechnet werden. Denn ohne die Angst der Bevölkerung zu unterschätzen, gelang es ihr, die Hysterie zu dämpfen, indem sie sich sachlich und kompetent zu den Gefahren äußerte, die im kollektiven Unterbewussten phantomartige Formen anzunehmen begannen. Und dann kam sie mit diesem »typischen Charlotte-Stunt«, wie ihre Fans das nannten. Als sie genau wie mehrere andere Politiker einen anonymen Brief mit einem weißen Pulver bekam, wurde dieser verfahrensmäßig zur Analyse ins Seruminstitut weitergeschickt, doch als der Milzbrandtest negativ ausfiel, bekam sie ihn zurück, brachte ihn mit auf die Pressekonferenz, lutschte einen in das Pulver getauchten Finger ab und teilte mit, dass er nach Puderzucker schmeckte. »Warum? Weil das Puderzucker ist!«
Das erlösende Lachen breitete sich von ihm selbst auf das versammelte Pressekorps im Spiegelsaal aus und weiter auf ein paar Millionen Fernsehzuschauer, die dankbar die Brücke zur Vernunft betraten, die sie für sie gebaut hatte. So begann zu mancher Bedauern Charlottes absteigender Stern am Medienhimmel wieder zu steigen, selbst der Begriff »Kronprinzessin« wurde erneut blank geputzt. Und da Per Vittrup den Meinungsumfragen zufolge noch nie so populär gewesen war wie in diesem turbulenten Herbst und es deshalb nicht länger undenkbar war, dass er auch der nächste Staatsminister werden könnte, gab es bereits Spekulationen über »das neue Paar in der dänischen Politik«. Ja, ein Zeitungszeichner stellte sie sogar wie zwei bekannte Comic-Figuren dar. Über diese Zeichnung lachte er selbst am lautesten, und auch Charlotte schien sie so zu verstehen, wie sie gemeint war. Als Zeichen von Popularität oder zumindest Bekanntheit, ohne das kein moderner Politiker leben kann. Während des Wahlkampfs förderte er sie hemmungslos; sie und nicht Christina wählte er als »die Vertreterin der jüngeren Generation« für die Parteiwerbung im Fernsehen, und obwohl sie wahrscheinlich auch ohne seine Unterstützung gewählt worden wäre, meint er in aller Bescheidenheit, einen Teil der Ehre an den ungefähr fünfzehntausend persönlichen Stimmen zu verdienen, mit denen sie ins Folketing gesurft ist. Nicht, dass er aus diesem Grund lebenslange Dankbarkeit erwartet oder verlangt, weit entfernt. Aber er findet schon, dass sie sich in den letzten Monaten so nahe gekommen sind, dass er sie als eine der Seinen bezeichnen kann. Alles in allem schuldet sie ihm – und, okay, Meyer – sowohl ihre Position als auch ihren Posten.
Sein umherschweifender Blick verweilt auf Charlotte. Sie und Gert helfen gerade ihrer kleinen Tochter, Johanne heißt sie wohl, eine Tischrakete zu zünden. Der Zwillingsbruder ist nicht so vorwitzig wie seine Schwester, aber doch neugierig genug, dass er hinter Gerts Rücken, hinter dem er Schutz gesucht hat, hervorguckt.
»Seid ihr bereit?«, fragt Gert und zündet ein Streichholz an. Der Junge hat sich die Finger in die Ohren gesteckt, doch das Mädchen müssen sie fortziehen, damit sie sich nicht die Nase verbrennt.
Paff macht es, als die farbige Papierfüllung herausschießt und auf den Tisch hinunterrieselt. Das Mädchen lacht laut, und auch der Junge lächelt.
»Willst du es auch mal versuchen, Jens?«, fragt Gert, und zu seiner Verblüffung erlebt Per Vittrup jetzt diesen Mann, von dem er in keiner Weise gedacht hätte, dass er bei Kindern ankommt, wie er einen furchtsamen Jungen bis ganz an die Tischkante lockt, um dort, geführt von Gerts Hand, eine weitere Tischrakete zu zünden.
»Ich auch!« Das Mädchen hüpft auf und ab, und obwohl Charlotte zu intervenieren versucht, lächelt Gert sie großväterlich an und sagt, »Natürlich! Du auch!«, und wiederholt den Prozess von Anfang an bis zum lauten Jubel der Kinder. Charlotte klatscht in die Hände und lacht, tauscht lächelnd Blicke mit Thomas, dem Vater der Kinder, und selbst Linda, die in ihrer Ehe bestimmt nicht viel Grund zum Lächeln hat, sieht ihren Mann mit einem fast verliebten Blick an. Per Vittrup weiß ganz genau, wie lächerlich das ist. Aber es muss eine Art Eifersucht sein, die ihm einen Stich ins Herz versetzt und ihn nach einem nicht aufgeblasenen Ballon greifen lässt, den er hin und her schwenkt.
»Es gibt auch noch Ballons, Kinder!«
Linda dreht sich langsam zu ihm um und misst ihn mit diesem ganz speziellen, alles durchschauenden Blick, mit dem nur sie – und Gitte – ihn ansehen können.
»Und Luftschlangen, Per!«, sagt sie und pustet eine gelbe Luftschlange in einer Spirale über seinem Kopf aus. »Hast du nicht auch noch ein paar Karnevalshüte?«
Mitten in der sehr angeregten Silvesterparty in der Cosy-Bar, wo Ole-Stig sich einem stürmischen, lateinamerikanisch inspirierten Tanz mit einem extrem jungen, kaffeebraunen Frisör aus Malmø hingibt und die Puppen tanzen lässt – wieder einer dieser nicht übersetzbaren Ausdrücke –, wird er von einer betrunkenen Glatze mit zurückweichendem Kinn, Netzhemd und aufdringlichem Zeigefinger angesprochen. Die restliche Hand hält eine Flasche Freixenet fest.
»Dich kenne ich!«
»Das bezweifle ich!«, sagt Ole-Stig, ohne den Augenkontakt zu seinem gertenschlanken Tanzpartner zu verlieren.
»Doch, das tue ich!«, beharrt die Glatze und drängt sich ihm auf. »Wer zum Teufel bist du, verdammt? Ich weiß, dass ich dich kenne! Haben wir gebumst?«
»Hör mal zu, ich heiße Ole-Stig. Ich lebe in den USA, das tue ich seit über dreißig Jahren, und ich bin nur zu einem Weihnachtsbesuch hier. Okay? Please leave us alone!«
»Ach, du meine Fresse, jetzt weiß ich es!«, stößt der Eierkopf mit einem lallenden Lächeln aus.
»Gert Jacobsen, nicht? Der Politiker! Ach, du meine Fresse, Mann, bist du schwul?«
Ohne seinen Tanzpartner loszulassen, der seinen schmalen Unterleib so eng gegen seinen presst, dass Beule gegen Beule stößt, beteuert er noch einmal, dass er nicht Gert Jacobsen ist.
»Ich bin sein Bruder, okay? Gert ist nicht schwul!«
Doch der Fremde ist so mit diesem sensationellen Scoop beschäftigt, dass er sich von Korrekturen nicht beeindrucken lässt. Deshalb bleibt er einfach schwankend auf der Tanzfläche stehen und wiederholt, dass das nun aber wirklich eine Neuigkeit ist.
»Hast du dich geoutet? Super! Cool! Das traut sich der Löwe von der Venstre nicht, was? Respekt! Gert Jacobsen hat sich geoutet!«, ruft er in eine unbestimmte Richtung und lässt sich von dem Meer der Tanzenden verschlingen.
Hier muss Ole-Stig kapitulieren. Fällt seinem Partner um den Hals und lacht so sehr, dass er sich an dem schwitzenden Farbigen festhalten muss, der trotz Schweiß nur nach Guccis Rush2 riecht. Und als der fragt, was denn so fucking funny sei, kann er es nicht erklären. Man muss schon Däne sein und Gert Jacobsen kennen, um die Komik zu verstehen. Der Gedanke, wie wenig lustig Gert das Gerücht finden wird, das bestimmt bald in der ganzen Stadt die Runde macht, schmälert die Komik nicht. News travel fast, wie man so schön sagt.
Pers junge Gäste haben bereits einen Platz auf der Stufenleiter erreicht, wo man sich nicht um den Abwasch kümmert. Darum, wer ihn macht. Oder wer den Tisch abräumt, die Dorschreste in den Abfalleimer wirft, die Teller von Eiresten und Senfsauce säubert. Diese Art von niederen Arbeiten, die junge, vorwärts strebende Menschen nur kurzfristig übernehmen, um die mageren Studienjahre zu finanzieren, bevor die fetten Akademikerjobs auf sie warten. Bin ich verbittert? Vielleicht ein wenig eifersüchtig? Weil nicht ich mit achtundzwanzig einen Platz im engsten Kreis des Hofes bekommen habe? Weil ich nicht einmal geglaubt habe, dass das jemals passieren könnte? Das ist die Geißel der Arbeiterklasse – dass du zu wenig erwartest. Wir setzen die Latte zu niedrig an. Aus Selbstschutz, um nicht enttäuscht zu werden, falls es nicht gelingen sollte. Nach oben zu kommen.