Seine Frau. Hanne-Vibeke Holst
war zu stur, seine eigenen Grenzen zu akzeptieren und die Flying Doctors zu rufen. Wäre sie rechtzeitig von dem verlassenen Tabora ins internationale Krankenhaus in Dar Es Salaam oder nach Nairobi geflogen worden, hätte sie eine faire Chance gehabt zu überleben. Ergo kommt man mit dieser Logik zu dem Schluss, dass Gert – indem er seinen Vater nicht erschossen hat – Schuld am Tod seiner Mutter trägt.
Ob diese schwindelerregende Einsicht, das Trauma um den dramatischen Tod seiner Mutter, noch dadurch verschlimmert wurde, dass Gert zu diesem Zeitpunkt schon aufs Internat in Dänemark geschickt worden war, oder das Nikotin den kalten Schweiß auf Ole-Stigs Stirn austreten lässt, ist unklar. Jedenfalls ist ihm plötzlich übel und unwohl, er braucht Wasser und frische Luft.
»Puh«, sagt er und steht leicht wankend auf. »Ich muss mal ...« Gert lächelt spöttisch. Irritierend großbrüderlich.
»War das zu starker Tobak?«
Ja, das war es wohl. Allzu starker Tobak.
Noch bevor er das Wohnzimmer verlassen hat, hat Gert die Fernbedienung des Fernsehers in der Hand und CNN eingeschaltet. Der Moment ist vorbei. Er konnte Linda nicht einmal erwähnen, geschweige denn die kleinste Bemerkung fallen lassen, dass eine elektronische Badezimmerwaage wohl nicht das optimale Weihnachtsgeschenk für eine Frau ist, die so offensichtlich just a little hit of love braucht.
Ein Jahr war er spendabel, der alte Max, und hat meiner Mutter elektrische Lockenwickler geschenkt. Aber dafür hat er auch seinen Weihnachtsfick bekommen.
Eine Kirche wäre jetzt gut. Eine Mitternachtsmesse in einer Kathedrale wie dem Petersdom, wo der hinfällige Papst mit zitternder Stimme seine Kinder aller Hautfarben segnet. Ein Beichtvater hinter einem Vorhang. Ein Unbekannter, dem er nicht in die Augen zu sehen braucht, während er seine Sünden bekennt. Die größte von allen. Die, die Ole-Stig mit seinen Erinnerungen an Afrika unwissend aus dem Moor des Vergessens geholt hat. In vielen Beziehungen ist er noch immer ein Kind, der Intimchirurg. Ein flaumiger Junge, der von the real world keine Ahnung hat. Wie die Nonnen, die verzückt ihre Hände im Gebet falten. Offiziell ist Gert Jacobsen Atheist. Aber inoffiziell fürchtet er die Abrechnung. Wie sein Vater, der sich an das Leben geklammert hat aus Angst vor dem Jüngsten Gericht. Erbärmlich. Und was die Reue anging, kam sie zu spät und war zu berechnend.
Er zappt die Mitternachtsmesse in Rom weg. Verweilt bei ein paar halbschlüpfrigen Pornokanälen, bevor er ausschaltet. Schlendert in die Küche, um eine Flasche Carls Special zu holen. Um schlafen zu können.
Diese Hauskrankenpflegerin ist weniger geduldig. Es ärgert sie, dass Åse in ihrer eigenen Scheiße liegt. Aber sie kommt auch gerade von einem alten Junkie, dem man ein Bein abgenommen hat und der mit der Wundhygiene nicht zurechtkommt. Nicht gerade ihr Traum von einem Weihnachtsabend.
»Igitt, Åse«, sagt sie zurechtweisend. »Du hättest doch auch nicht eine ganze Schachtel Schokolade essen müssen! Auf einmal!«
Mein Lebenslauf passt auf die Rückseite eines Bierdeckels, und ich komme aus einem Haushalt, in dem Laboremus Pro Patria, bekannt durch die vor dem Eingang von Carlsberg stehenden Elefanten, das einzige Latein war, das gesprochen wurde. Ja, sicher, natürlich will ich gern für das Vaterland arbeiten, und geschickt bin ich auch, aber verstehst du, süßer Ole-Stig, der du am dritten Weihnachtstag unschuldig fragst, ob ich keine Lust habe, auf den Arbeitsmarkt zurückzukehren: Ich bin unbrauchbar. Wie ein Kamm ohne Zinken. Abgesehen von einem alten Abiturzeugnis und dem Kurs, zu dem Gert mich überredet hat, habe ich keine Qualifikationen. Sie würden sich totlachen, würde ich mich irgendwo bewerben. Ich kann nicht einmal mit einem Computer umgehen.
Als ich das sage, lacht er ungläubig und sagt, dass man das können muss, weil man sonst sozial totally gehandicapt ist! Er wird es mir schon noch beibringen, bevor er fährt. Wir können ein paar Stunden an seinem Apple-Laptop üben, das ist a piece of cake! Oh, ja, das will ich wahnsinnig gern! Bekomme ich auch eine eigene E-Mail-Adresse? Ja! Dann kann ich mit der ganzen Welt online sein! Manchmal schleiche ich mich in die Bibliotheksfiliale im Godthåbsvej und setze mich versuchsweise vor einen freien Computer, aber entweder kommt jemand und schiebt mich weg und sagt, dass jetzt Internetzeit ist, oder die freundliche Bibliothekarin fragt, ob sie mir irgendwie helfen kann. Daraufhin verziehe ich mich und leihe ein paar Bücher über Frauen von der Venus und Männer vom Mars aus, diese Selbsthilfeliteratur für kleine Unglücksraben wie mich.
»Das wäre doch ein guter Neujahrsvorsatz«, sagt Ole-Stig und tunkt einen braunen Kuchen in den Kaffee.
Ich lächle und schenke ihm noch eine Tasse ein. Das wird mein guter Vorsatz zum neuen Jahr. Auch wenn er mit den anderen in der Schublade endet.
Charlotte Damgaard sieht grauenhaft aus, als sie vor der Kühltheke steht und darüber nachdenkt, was zum Teufel sie am vorletzten Tag des Jahres essen sollen. Aber nicht weil sie ungeschminkt und nicht zurechtgemacht ist und ihren Teint irgendwie in Richtung gekochte Weihnachtsbratwurst beschreiben würde, denkt sie, »Oh, nein! Warum muss er ausgerechnet hier einkaufen!«, als sie aus dem Augenwinkel Per Vittrup ausmacht, der einen der großen Einkaufswagen vor sich herschiebt. Sie schämt sich für diesen Gedanken, aber sie würde ihm lieber nicht begegnen. Dead Man Walking, ein schrecklicher Ausdruck, aber einer, der sich einprägt. Auch ihr. Seit dem Zeitungsartikel hat sie nicht mehr von diesem Bild abstrahieren können, das sie mehrere Nächte hintereinander wachgehalten hat. Sie, die die Albträume der Kindheit endlich losgeworden ist, liegt jetzt wach und dreht und wendet sich, um nicht an eine ganz spezielle Episode aus dem Wahlkampf erinnert zu werden, den sie und Per ansonsten souverän gehandelt haben, als das klassische Duo – der erfahrene ältere Mann und die jüngere, aber clevere Frau.
Das Bild, das sie im Zeitlupentempo vor sich sieht, zeigt Per Vittrup, der an diesem Wahltag vor dem Storchenbrunnen steht und rote Rosen verteilt. Oder richtiger – es zeigt Per Vittrup, der vergebens versucht, die Rosen aus dem Korb, der an seinem Arm hängt, an den Mann beziehungsweise an die Frau zu bringen. Denn die Leute wollen sie nicht. Entweder machen sie einen großen Bogen um ihn oder sie schütteln abwehrend den Kopf und hasten weiter. Während ihr eigener Korb schnell leer wird, bleibt seiner voll. Und während sich die Panik unter den vom Parteibüro ausgesandten Truppen ausbreitet, wird seine Stimme immer schriller, während er unschuldige Kopenhagener anspricht, die ihm nur schwer wieder entkommen, wenn sie sich seiner erst einmal erbarmt haben. Kindern im Strampelanzug wird die Wange getätschelt, Rentner werden gedrückt, junge Hip-Hoper mit Skateboards unter dem Arm bekommen einen Schlag auf die Schulter und so weiter. Doch was er auch tut, es lässt sich nicht verbergen: Der Staatsminister wird zurückgewiesen. Die Leute weichen ihm aus, als hätte er eine Krankheit.
Niemand will die Beinstümpfe des Bettlers sehen. Auch Charlotte nicht. Als sie wie erstarrt in vorgebeugter Haltung über den diversen Packungen mit Fleisch von Freilandschweinen steht, schämt sie sich, dass auch sie von Schwäche abgestoßen und von Stärke angezogen wird. Denn Charlotte betrachtet sich als anständigen Menschen. Sie will ein anständiger Mensch sein. Und ein anständiger Mensch wendet dem Verlierer nicht den Rücken zu. Ein anständiger Mensch verhält sich nicht wie die Fraktion im Folketing, die ihn seit dem Wahlabend mit der Niederlage alleingelassen hat. Bei jeder Fraktionssitzung hat sie es gespürt, wenn auch nur an ihren eingerollten Zehen. Sie ertragen ihn nicht. Sie reagieren wie eine Frau, die ihren Geliebten verstoßen hat und seine Berührung nicht länger aushält und seinen Namen nur noch mit Ekel ausspricht. Es ist keine rationale, sondern eher eine emotionale Zurückweisung, die sie teilt, aber nicht leben will. Deshalb richtet sie sich auf, und als er sie sieht und sofort auf sie zusteuert und laut und energisch das Wort an sie richtet, »Charlotte! Gute Weihnachten gehabt zu haben!«, ist sie gezwungen, sich überrascht zu geben und lächelnd »Hi Per!« zu sagen. Und weil sie so ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Unehrlichkeit hat, bleibt ihr keine Wahl. Sie muss die Silvestereinladung annehmen. Die Kinder können sie ruhig mitbringen, das ist kein Problem. Er ist gerade dabei, alle anzurufen; er findet, sie könnten ein bisschen Aufmunterung brauchen.
»Die Idee kam mir ganz spontan, deshalb werden natürlich nicht alle können. Und Marienborg wird es auch nicht werden, aber in meiner Wohnung ist viel Platz!«
»Das