Seine Frau. Hanne-Vibeke Holst

Seine Frau - Hanne-Vibeke Holst


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verwirrend und traurig, und sie weinte erneut, als er durch die enge Öffnung in sie eindrang, und er kam zu schnell, obwohl er meinte, aufgepasst zu haben. Denn Kondome hatte er dieses eine Mal nicht parat.

      Obwohl er nicht sehr erfahren war, war es nicht sein erstes Mal. Er war mit einigen der Willigen, die dadurch zu den »Billigen« wurden, im Keller und drüben im Gebüsch bei dem Fußballfeld gewesen, und deshalb ärgerte es ihn furchtbar, dass er ihr kein besseres »erstes Mal« hatte bieten können. Denn ganz offensichtlich hatte sie nicht einmal annähernd etwas davon. Sie lag einfach da auf dem Sofa und weinte ihr ruhiges, unablässiges Weinen, das nicht auszuhalten war. Natürlich bot er ihr an, sie nach Hause zu fahren, aber nein, sie wollte bleiben, und was Max anging, würde es keine Probleme geben. Sie bestimmte jetzt selbst. Irgendwann in der Nacht schliefen sie eng umschlungen auf dem schmalen Lager ein. Am nächsten Morgen wachten sie erst gegen neun auf, und vielleicht nutzte er sie aus, denn diesmal ging die Initiative von ihm aus. Sie war weicher und nicht so angespannt, aber wenn er ehrlich war, schien es auch diesmal nicht das große Vergnügen für sie zu sein. Er selbst kam auf ihrem Bauch in dem irrtümlichen Glauben, dass das sicher wäre. Edel wischte er den Samen mit seinem Taschentuch ab, das er im Stillen beschloss, nie mehr zu waschen. Denn jetzt gehörte sie ihm.

      Das flüsterte er ihr unter der Decke zu, und sie lächelte, und es war herrlich. Obwohl es bald zehn war, hatte er es noch immer nicht eilig, nach Hause zu kommen. Und wenn es ihr gleichgültig war, zu spät in die Schule zu kommen, konnte es ihm dieses eine Mal auch gleichgültig sein, zu spät zur Arbeit zu erscheinen. Deshalb lud er sie zum Frühstück ein, und auch in der Kaffeebar in der Toftegårds-Allee blieben sie hängen, bis die Kellnerin lange Blicke in ihre Richtung warf. Sie sagten nicht viel; er, weil er so voller Gefühle war, dass er sie unmöglich in Worte fassen konnte. Er glaubte oder hoffte, dass sie aus dem gleichen Grund schwieg: weil sie überwältigt war, dass sie jetzt zusammengehörten. Dass jetzt alles wieder gut war. Von Reue merkte er nichts, ganz im Gegenteil, sie klebte die ganze Zeit an ihm. Noch nie hatte er sie so verletzlich erlebt und noch nie einen solchen Drang gespürt, sie zu beschützen. Zärtlich hatte er den Arm um sie gelegt, sie an sich gezogen und mit belegter Stimme gemurmelt, dass er sie liebe. Dass sie nicht antwortete, machte nichts. Sie hatte seine Hand gedrückt, und ihre Augen waren wieder blank geworden, und das hatte ihm als Antwort gereicht. Sie tranken noch eine Kanne Kaffee und teilten sich die letzte Zigarette, und dann hatte er sie still und ruhig nach Hause in den Borgbjergvej gefahren. Max stand lauernd hinter der Gardine, wie er sehen konnte, doch sie küsste ihn wie immer zum Abschied schnell auf den Mund, dann war sie im Haus.

      An diesem Tag hatte er Lust, ihr alle Blumen Kopenhagens zu kaufen, die Goldschmiede zu bestürmen und sich als frisch verlobt zu erklären. Doch etwas hielt ihn zurück, denn sein Glück basierte auf Unglück, und das machte ihn unruhig. Und ganz richtig, schon am selben Abend nahmen seine bangen Ahnungen zu. Sie hatte »Kopfschmerzen«, sagte Max, der ihm mit finsterem Gesichtsausdruck aufmachte. Und auch am nächsten Tag kam sie nicht heraus. Am dritten Tag bekam er einen Brief, in dem sie mit ihm brach. Ihre Beziehung beendete. Ohne Erklärung. Und fünf Wochen später schrieb sie ihm noch einen Brief, in dem sie ihm ebenso kurz mitteilte, dass sie schwanger war. Er hatte nicht aufgepasst.

      Natürlich war er bereit, sie zu heiraten. Trotz der Panik, mit neunzehn Vater zu werden. Sie konnten eine Heiratserlaubnis bekommen, zu Hause bei ihm und seiner Mutter wohnen, da war Platz genug. Aber sie wollte von ihm nichts wissen und von dem Kind auch nicht. In die Abtreibung sollte er sich nicht einmischen, das würde sie selbst erledigen, und damit war er eigentlich aus dem Spiel. Was Max ihm vollkommen klarmachte. Er solle sich einfach von ihr fernhalten. Linda wolle mit so einem Schuft nichts mehr zu tun haben, und wenn er sich ihr jemals wieder näherte, würde er eine solche Tracht Prügel beziehen, dass er das nie mehr vergäße.

      Am ersten November war er mit der Lehre fertig, und am zweiten November fuhr er nach Hamburg und heuerte auf einem Kohlenschiff an, auf dem sein Onkel Steuermann war. Er schrieb ihr in seiner Koje einen Brief nach dem anderen, aber sie antwortete nie, und als er auf Landurlaub nach Hause kam, war er zu stolz, sie aufzusuchen. Später, als sie zur Miss Danmark gewählt worden war, bekam er einen Zeitungsausschnitt über sie zugeschickt. In den Jahren, die folgten, erhaschte er immer wieder einmal einen Blick auf sie, einmal am Storchenbrunnen, wo sie in einer Gruppe von Hippies mit indischen Gewändern und Stirnbändern in den Haaren saß, und ein anderes Mal im Drop Inn, wo sie an irgendeinem bärtigen Künstlertypen hing. Nie gab er sich zu erkennen, sondern machte auf dem Absatz kehrt und flüchtete vor ihrem Anblick, von Grauen erfüllt, diesem Mädchen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, das er einmal gekannt und doch nicht gekannt hatte.

      Der Rest ist Geschichte, wie man so sagt. Er hielt sich von ihr fern, zog als Gelegenheitsarbeiter durch Europa, wandte sich dann nordwärts und ließ sich als Waldarbeiter in Norrbotten nieder, bis er nach dem Tod seiner Mutter vor vier Monaten mit einem Hörschaden und einer nie gestillten Sehnsucht nach Hause kam. Ist verheiratet gewesen, hat sogar einen jetzt erwachsenen Sohn mit einer finnisch-schwedischen Frau, mit der er einige lange, tiefe Winter verbracht hat. Doch im Grund genommen, ist er allein geblieben, und obwohl das pathetisch ist, möchte er gern, dass sie das weiß. Dass er es als eine Art Sühnegabe versteht für eine Schuld, die er gern auf sich nimmt. Die Schuld, dass er sie damals nicht verstanden hat. Dass er sie im Stich gelassen hat. Er möchte gern, dass sie weiß, dass es nie eine andere gegeben hat. Dass Linda immer die Frau in seinem Leben gewesen ist. Die einzige Eine.

      Er greift nach der Harke, die er neben ihre Familiengrabstätte gelegt hat. Das erste Mal, als er wieder neben dem bescheidenen Grabstein stand, hatte eine riesige Erleichterung ihn erfasst, dass sie nicht hier lag. Dass es nicht zu spät war. Obwohl es das natürlich ist. Er hat sich informiert. Weiß, dass sie diesen Sozialdemokraten geheiratet hat, der durch die Gegend gelaufen ist und drüben bei Carlsberg den Cleveren gespielt hat und später als Finanzminister bekannt geworden ist. Linda ist die Frau eines bekannten Mannes geworden, das wäre sie mit ihm nicht. Vielleicht ist es einfach so. Dass Linda aus dem Südhafen fortwollte, fort von ihm. Vielleicht ist es überhaupt kein Mysterium.

      Er zieht den Schnupftabak hoch. Beugt sich über die Grabstätte und entfernt einen kleinen Ast. Seltsam. Hier riecht es ganz unverkennbar nach Bier. Nach Starkbier. Er zieht den rechten Handschuh aus und steckt einen Finger in die Erde. Sie ist nass. Er hebt den Finger unter die Nase und riecht daran. Ja, das ist Bier! Das verrückte Frauenzimmer hat Starkbier über das Grab ihres Vaters gegossen!

      Bjarne Husted richtet sich auf, stützt sich auf die Harke und wirft lachend den Kopf in den Nacken, während die Schneeflocken auf seiner Zunge schmelzen, und er laut ruft, was er sofort hätte rufen sollen, als er sie gesehen hat:

      »Lindaaaa! Komm zurüüüück!«

      Eines Tages wird er sie anrufen. Bald. Bevor es auch dazu zu spät ist.

      Das Weihnachtsstudio von P3 ist kitschig mit alternativem Weihnachtsschmuck dekoriert, der von den Zuschauern eingeschickt und von den Gästen gebastelt worden ist, die im Lauf des Monats da waren. Das Schweinchen, das man sich irrsinnigerweise angeschafft hat, grunzt im Hintergrund im Heu und sendet einen scharfen und unverkennbaren Geruch aus, der den beiden Moderatoren in die Nase sticht, sich für Charlotte jedoch heimisch und sicher anfühlt.

      Sie ist schließlich auf dem Land groß geworden und hat vor hundert Jahren selbst einmal ihr eigenes Saugferkel gehabt, Tulle, dem sie die Flasche gegeben und das sie hinter den Ohren gekrault hat, bis es schlachtreif war und plötzlich »verschwand«.

      Diese Geschichte gibt sie, zwar sichtlich erkältet, doch gut gelaunt zum Besten, ausgeschmückt und mit einer dicken Schicht Vaseline auf der Linse der Erinnerung; diese Geschichte, die kritischere Moderatoren dazu veranlasst haben könnte, auf den inzwischen landesweit bekannten Selbstmord ihres Vaters zu sprechen zu kommen, der sich mit der Kordel eines Mähbinders erhängt hat. Aber so eine Sendung ist das nicht, es ist Weihnachten, und sie faltet gerade eine Mäuseleiter aus den Seiten der Regierungsgrundlage, in der es um die Leistungen im Umweltsektor geht.

      »Ja, die wird leider nicht sehr lang!«, bemerkt sie trocken und hält sie den begeisterten Moderatoren hin. Die halten Charlotte ganz offensichtlich für einen Hit, und sie genießt diese unverpflichtende Freistunde, in der sie einigen


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