Schweinsteiger. Ludwig Krammer
ist Garhammer überzeugt. Der Fred habe bei seinen Stationen dies- und jenseits der deutsch-österreichischen Grenze zwar nie durch besondere Technik geglänzt, „aber er hat mit seiner Größe und Wucht als Vorstopper praktisch jeden Kopfball gewonnen. Und gelaufen ist er wie ein Narrischer.“ Als der FC Bayern Mitte der 1970er Jahre mal zu Gast in Rosenheim gewesen sei, erinnert sich Garhammer, da habe Franz Beckenbauer nach dem Spiel auf den Fred gedeutet und gefragt: „Was habt’s denn da für einen? Der läuft ja sogar durch eine Betonwand.“
„Halbgas“ habe es auch beim Basti nie gegeben. „Der ist im Training auf dem Ascheplatz reingegangen wie im Spiel.“ Mit sichtbaren Folgen: „Aufgeschürft war er die ganzen Arschbacken rauf, und aus den Knien hab ich ihm mit der Pinzette den Dreck gezogen. Aber eine lange Hose wollte er ums Verrecken nicht drunterziehen“, erzählt Garhammer. Immerhin fruchtet der Rat von Mama Monika, doch wenigstens die Stutzen über die Knie zu ziehen. Jahre später wird Hermann Gerland den Kopf über Schweinsteigers „Strapse“ schütteln.
Während Bastian bei Äußerlichkeiten früh eine gewisse Beratungsresistenz erkennen lässt, sind seine Ohren für fußballtaktische Dinge sperrangelweit offen: „Was du ihm in der Besprechung gesagt hast, hat er auf dem Platz eins zu eins umgesetzt“, erzählt Garhammer stolz. „Er war bei mir meistens der Sechser und hat den Spielmacher der anderen ausgeschaltet. Dazu hat er noch das eigene Spiel aufgebaut und jeden Ball gefordert. Aber egoistisch war er nie.“ Ganz im Gegenteil: Stets habe Schweinsteiger geschaut, seine Mitspieler bestmöglich in Szene zu setzen. „Zur Not hätte er auch noch auf der Torlinie rübergespielt, wenn einer besser gestanden wäre“, sagt Garhammer. „Das war einfach drin in ihm, dieses Mannschaftsdienliche.“
Aus Überlegenheit folgt keine Überheblichkeit. „Dass er besser war als die meisten anderen, hat der Basti nie raushängen lassen. Er war der Selbstkritischste von allen“, erinnert sich Garhammer. „Die einzige Saisonniederlage in der D-Jugend gegen den ESV Rosenheim hat er sich so zu Herzen genommen, das war schon fast wieder lustig. Am nächsten Wochenende haben wir gegen Prien 10:1 gewonnen, und er fragt: ‚Hab ich schon einigermaßen gut gespielt, Trainer?‘ Ja freilich, da musst du dir keine Gedanken machen, hab ich geantwortet – und innerlich gelacht. Ich war schon ein Strenger damals, aber dem Basti hab ich immer über den Kopf streicheln müssen, wenn er so geschaut hat. Er konnte ein Hundling sein, aber beim Spiel war auf ihn zu tausend Prozent Verlass.“
Von den älteren Spielern wird der kleine Schweinsteiger nicht nur akzeptiert, sondern geradezu hofiert. Florian Heller beispielsweise und Leo Haas, beide später Profis bei Klubs wie Ingolstadt und Augsburg, hätten früh gewusst, was sie an Bastian haben, sagt Garhammer. „Den Respekt hat er sich mit seiner energischen Art verdient. Er hat immer angeschoben. Und mit seiner Besessenheit vom Gewinnen hat er auch die Älteren mitgerissen.“
In der U13 gelingt den Rosenheimer Sechzigern eine kleine Sensation: ein Sieg gegen den FC Bayern, der in dieser Altersklasse seit zwölf Jahren ungeschlagen ist. Schweinsteiger spielt gegen den Besten der Münchner, einen gewissen Thomas Hitzlsperger. „Der hatte damals schon einen Mordsschuss, vor dem sich alle gefürchtet haben“, erzählt Garhammer. „Aber gegen den Basti ist er im ganzen Spiel zu keinem einzigen Abschluss gekommen.“
Schweinsteigers Führungsqualitäten sind schon seit dem ersten Tag in Rosenheim zu erkennen. Garhammers Lieblingsanekdote spielt im Vereinsheim. „Nach dem ersten Training mit der D-Jugend sind damals alle Spieler durch die volle Wirtschaft ins Besprechungs-Kammerl gerannt. Grußlos. Ich war so zornig, dass ich sie alle wieder rausgeschickt hab, weil das eine Frage des Anstands gegenüber den Gästen und der Wirtin ist. Durch den Türspalt habe ich gesehen, dass sie den Basti, den Kleinsten, nach vorne geschickt haben. Ganz aufrecht und mit fester Stimme ist er überall hingegangen: ‚Griaß eich beinand, griaß eich!‘“ Dieter Brenninger, der ehemalige Spieler des FC Bayern, sei am Stammtisch „fast erstickt vor Lachen“, erzählt Garhammer. „Das war bühnenreif. Wenn es damals schon ein Handy gegeben hätte, der Film wäre eine Sensation.“
Dass sich Schweinsteiger, der hochtalentierte Slalom- und Riesenslalomfahrer nach einigem Hin und Her für den Fußball entscheidet – auch daran dürfte Garhammer seinen Anteil gehabt haben. Als er Tobias bei einem Spiel auf die Bank setzt und nur den Kleinen spielen lässt, klingelt beim Trainer spätabends das Telefon: Schweinsteiger senior ist am Apparat – und außer sich vor Wut! „Der Fred hat mir angedroht, dass er den Basti für immer zum Skifahren abziehen würde, falls ich die beiden nicht gleich oft spielen lasse“, erzählt Garhammer. Gute vier Stunden dauert das Gespräch, bis der ehrgeizige Vater um zwei Uhr früh einlenkt. „Ich hab ihm gesagt: ‚Wenn du aus dem Basti einen Skifahrer machen willst, bitt’schön, dein Bub. Aber dann verdient er halt bloß 10.000 DM im Jahr statt einer Million als Fußballer.‘ Vielleicht hat das den Fred zum Nachdenken gebracht.“ Vielleicht. Bastian hat die oft gestellte Ski-oder-Fußball-Frage stets mit einem Augenzwinkern beantwortet. Beispielsweise in der Münchner Abendzeitung: „Es gab immer Germknödel und Kaiserschmarrn, das war schön, aber es war immer so kalt, und die Skier waren so schwer zu schleppen. Und so früh aufstehen muss man beim Fußball auch nicht.“
Das letzte Ski-Duell gegen Spezl Neureuther steigt 1997 in Brixen, Südtirol, unter der Schirmherrschaft von Slalom-Legende Alberto Tomba. Schweinsteiger gewinnt das teilnehmerstärkste Kinderrennen der Welt. Und Felix, 1,9 Sekunden zurück, muss sich die Geschichte bis heute anhören. „Da hat sein Papa, der Fred, sicher Wunderwachs ausgepackt“, erzählt er schmunzelnd. „Und mein Vater hat mir noch schön Honig auf den Ski geschmiert, dass ich ja nicht zu schnell bin, damit der Herr Schweinsteiger auch mal ein Rennen gewinnen darf. Sein Glück war, dass wir danach nicht mehr gegeneinander gefahren sind.“
Die Fans hätten eine Revanche sicher liebend gerne gesehen. Nach einer verlorenen TV-Wette im März 2015 verspricht Schweinsteiger, im Parallelslalom am Gudiberg in Garmisch-Partenkirchen gegen Neureuther zum Freundschaftskampf anzutreten – umgesetzt worden ist das Ganze bis heute nicht. Dafür haben sich die beiden in einem 2017 erschienenen Kinderbuch verewigt. Auf die Piste – fertig – los! nennt sich das Werk. Es geht um einen Wettkampf zwischen Ski-Fuchs Ixi und Fußball-Husky Basti und soll Kinder zum Sporttreiben animieren. Kein Spoiler an dieser Stelle, nur die Moral von der Geschicht: Freundschaft ist wichtiger als Siegen. Und Bewegung durch nichts zu ersetzen. Fast schon kitschig, dass sowohl Neureuther als auch Schweinsteiger ihre Profikarrieren 2019 beenden und ins Fach der TV-Experten wechseln. Ein Parallelslalom der anderen Art.
KAPITEL 2
Altarraum für den Fußballgott
Ein Besuch in Oberaudorf
Man nehme die Füße von Bastian Schweinsteiger und Skisprung-Olympiasieger Marinus Kraus, dazu die Hände von Edmund Stoiber … Was klingen mag wie die Bastelanleitung für einen oberbayerischen Sportpolit-Wolpertinger, ist der von der Gemeindeverwaltung so getaufte „Oberaudorfer Walk of Fame“. Vor dem schmucklosen Rathaus haben die drei berühmtesten Söhne des Ski- und Luftkurortes an der A93 ihre tiefen und dauerhaften Eindrücke hinterlassen – gegossen in Bronzeplatten, deren Abstand auch für einen professionellen Dreispringer eine Herausforderung darstellen würde. Sechs handelsübliche Pflastersteine sind es von Schweinsteigers Spuren bis zum Krausschen Fußabdruck. Zwischen Skispringer und Landesvater a.D. liegen noch mal elf optimistisch verlegte Platten. Kein Zweifel, Oberaudorf ist gewappnet für prominenten Nachschub.
Der Verkehr ist beachtlich an diesem winterlichen Nachmittag Ende 2017 in der 5.000-Einwohner-Gemeinde. Das gefühlte Unentschieden zwischen Rosenheimer und Kufsteiner Autokennzeichen zeugt von der unmittelbaren Grenznähe zu Tirol, entsprechende Betriebsamkeit herrscht an der Großtankstelle auf der steuerlich begünstigten Seite jenseits der Innbrücke. Tanktourismus heißt das Stichwort. In Oberaudorf selbst hält sich nur noch eine Zapfstelle über Wasser, vornehmlich aus Gründen der Solidarität. Polizei, Feuerwehr und die Gemeindebediensteten holen sich ihren Sprit weiterhin vor Ort, die angegliederte Werkstatt trägt ihren Teil zum Fortbestand bei.
Wer sich einen Eindruck von den Wechselwirkungen zwischen Autoverkehr und Landschaft machen will, der ist in Oberaudorf nicht an der schlechtesten Adresse. Die 2017 fertiggestellte Lärmschutzwand