Der fünfte Schatten. Jürgen Petschull
lenkte die Gedanken des Patienten auf einen bestimmten Tag vor mehr als einem halben Jahrhundert, auf den Abend des Tages, an dem sein Erinnerungsvermögen verloren gegangen war. Nach einem vorsichtigen Abtasten wurden die Fragen konkreter:
»Wissen Sie noch, wo Sie am Morgen dieses Tages gewesen sind?«
»Irgendwo im Süden von England.«
»Können Sie sich an einen Ortsnamen erinnern?«
»Nein ..., doch ... Der Ort heißt Sudbury in der Grafschaft Suffolk.«
»Sehr gut. Danke. Und was machen Sie in Sudbury?«
»Ich bin hier mit meinem Geschwader stationiert.«
»Wie heißt dieses Geschwader ...?«
»Das ..., das weiß ich nicht mehr genau. Aber wir gehören zur 486. Bombardment Group der Achten U.S. Air Force.«
»... und welche Funktion haben Sie persönlich?«
»Ich bin Pilot eines B-17-Bombers. Zu meiner Besatzung gehören neun Männer.
»Wie ist ihr Name?«
»Man ... dell ... Paul Ferdinand Mandell.«
»Wie werden Sie von Ihren Freunden genannt?«
»Paul.«
»Danke, Paul.«
»Welchen Dienstrang haben Sie?«
»Captain.«
»Wie alt sind Sie, Captain Mandell?«
»Zweiundzwanzig. Ich bin einer der jüngsten Bomberpiloten der U.S. Air Force.«
»Hatte Ihre Maschine eine besondere Bezeichnung, einen bestimmten Namen?«
»Ja, wir haben sie vor unserem Abflug zum Krieg nach Europa ›Pride of New York‹ getauft. Die meisten meiner Leute stammen aus New York oder Umgebung.«
»Danke, Captain Mandell. Bitte erzählen Sie uns nun, was an diesem 16. April des Jahres 1945 geschehen ist ...«
Ein halbes Jahrhundert später erinnerte sich der Patient in der New Yorker Gehirnklinik, was er damals erlebt und empfunden hat – an jenem Montag am Himmel über Hamburg. Erst verwaschen und leise, dann deutlicher und immer flüssiger begann der dünne Mann mit der Narbe zu sprechen. Zufrieden registrierten die Ärzte, wie er in das abgrundtiefe Loch seiner verlorenen Erinnerung eintauchte.
Wie eine Spinne baumelte ein kleines Mikrofon von der Decke herab. Ein Tonbandgerät zeichnete drei Stunden und siebzehn Minuten lang seine Aussagen und Äußerungen auf. Jeden Laut, jede Silbe, jedes Wort, jeden Satz. Jedes Zögern und jedes Stöhnen. Und jeden Schrei.
Captain Paul Ferdinand Mandell hockt eingeklemmt, mit vorgebeugtem Oberkörper und angezogenen Knien, in dem für ihn viel zu engen Cockpit. In der Frontscheibe kann er verschwommen sein Spiegelbild erkennen: einen Mann mit lederner Fliegerklappe, mit Kopfhörern und Mikrofon vor dem Mund. Ein kleines Lächeln scheint in seine Mundwinkel eingewachsen zu sein, aber seine übrigen Gesichtszüge machen dabei nicht mit. Seinen Augen fehlt jede Fröhlichkeit, denn hat mehr erlebt und erlitten als die meisten Menschen seines Alters.
Ein Gefühl der Allmacht ergreift ihn an seinem Arbeitsplatz in achttausend Meter Höhe: Er ist der Racheengel, und dies ist die Stunde der Vergeltung! Nun müssen sie da unten büßen für das, was sie ihm und seiner Familie angetan haben: der braune Pöbel, der Steine in die Fenster der elterlichen Wohnung im jüdischen Viertel am Grindel geworfen hat; die Nazi-Lehrer, von denen er schikaniert worden ist; die SS-Schergen, die seinen Vater, seine Mutter und seine Schwester abgeholt haben.
Fluchthelfer haben ihn im Herbst 1941 nach Dänemark und weiter zu Verwandten in die USA geschleust. Mit achtzehn wurde er amerikanischer Staatsbürger und meldete sich sofort zur Air Force. Vor einem Jahr wurde er zum Captain befördert. Seit zwei Monaten ist er mit seiner Crew und seiner Maschine im Süden von England stationiert.
Bei Beginn der Dämmerung fliegt Mandells Geschwader einen der letzten Luftangriffe des Krieges auf Hamburg. Er drosselt die Fluggeschwindigkeit seines Bombers mit der Kennung 909 TB 35 auf nur noch 290 Stundenkilometer. Der Höhenmesser fällt langsam bis auf dreitausend Meter. Der Bombenschacht ist noch geschlossen.
Am Himmel über seiner früheren Heimatstadt Hamburg empfindet Captain Mandell einen Moment lang Genugtuung, sogar eine furchtbare Freude über das, was er auf der Erde sieht: Am Hafen stehen Werften und Industrieanlagen in Flammen, über den Vierteln der feinen Leute an Alster und Elbe hängen schwarzgelbe Qualmwolken, und in den Vororten blitzen vereinzelte rote Bombeneinschläge. Östlich der City haben furchtbare Feuerstürme schon vor zwei Jahren große Wohngebiete in eine Ruinenlandschaft verwandelt.
Hinter der Fliegerbrille brennen Mandells Augen. Sein Atem geht stoßweise in die Sauerstoffmaske. Das Kehlkopfmikrofon der Bordsprechanlage scheuert an seinem Hals und in seinen Ohren kreischen Störsender, als habe man mehrere Kreissägen angeworfen.
Mit seiner linken Hand bedient er die Steuersäule, mit der rechten schiebt er die vier Gashebel der vier Turbomotoren gefühlvoll vor und zurück. Präzise muss er die schwere, polternde und holpernde Maschine auf Abstand zu den anderen Maschinen seines Geschwaders halten.
Endlich kommt das Angriffsziel in Sicht: Die Elbe. Die Hafenbecken. Die Ölraffinerien.
Links vor sich erkennt Mandell noch im Zwielicht die Innenstadt und die Alster. Die Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend kehren zurück. Er muss heftig schlucken. Seine Wut schlägt in Wehmut um. Sein Triumphgefühl verwandelt sich in Trauer. Wie aus weiter Ferne hört er die Stimme seines Copiloten.
»Alles in Ordnung, Captain? – Alles okay, Paul ...?«
Mandell nickt, doch während er mit den Fingern seiner rechten Hand ein Victory-Zeichen macht, versucht er vergeblich, ein Zittern zu unterdrücken, das seinen ganzen Körper erfasst hat.
Im Behandlungszimmer rüttelte der Patient jetzt an seinen breiten Lederfesseln. Er warf den Kopf hin und her. Sein Pulsschlag erhöhte sich dramatisch.
Eilig stöpselten die Ärzte die Kanüle in seiner Armbeuge um. Ein Anästhesist ließ jetzt ein Beruhigungsmittel in seine Vene fließen.
Aus den Lautsprechern am Bett strömten beruhigende Geräusche in den Behandlungsraum. Meeresbrandung, Waldesrauschen, Vogelstimmen und das lang anhaltenden Gongen indischer Klangschalen.
Der Mann auf dem Bett beruhigte sich endlich. Seine Glieder und seine Gesichtszüge entkrampften sich.
»Welches Jahr haben wir jetzt?«, fragte ihn der Psychotherapeut nach einer Weile und löst seine Fesseln.
»Neun-zehn-hundert-drei-und-neunzig.«
»Und welchen Monat?«
»Juli.«
»Welchen Wochentag?«
»Mittwoch.«
Und ohne gefragt zu werden, sagte der dünne Mann mit der Narbe langsam und deutlich: »Ich bin in einer Klinik in Manhattan ... Es ist sehr heiß draußen ... Ich wohne im Plaza Hotel am Central Park.«
»Willkommen zurück in unserer Welt«, sagte der Therapeut. »Wie fühlen Sie sich?«
Ihm sei noch ein wenig schwindelig und sein Kopf dröhne, als habe er einen Kater.
Er blinzelte im Liegen durch die nun halbgeöffnete Jalousie. Am Himmel über Manhattan setzte gerade eine Passagiermaschine der American Airlines zur Landung auf dem La Guardia Airport an.
»Können Sie sich daran erinnern, was Sie uns gerade erzählt haben?«
Der verkabelte Mann richtete sich vorsichtig auf.
»Ich glaube schon. Ja, an jedes Detail ...«
Seine Schultern zuckten. Und nachdem man ihm die Handfesseln abgenommen hatte, schlug er seine Hände vors Gesicht.
»Es war sehr anstrengend für Sie«, sagte der Therapeut. »Sie