Der fünfte Schatten. Jürgen Petschull
»Wenn Sie einverstanden sind und sich gut fühlen, können wir unsere Behandlung morgen zur gleichen Zeit an derselben Stelle Ihrer Erinnerungen fortsetzen, an der wir jetzt unterbrochen haben. Ich glaube, Sie haben noch viel zu erzählen«.
»Gut, einverstanden.«
Als der Psychotherapeut und der Neurologe das Behandlungszimmer verließen, wartete im kühl möblierten Empfangsraum der Klinik schon aufgeregt der Kardiologe auf sie. Er zeigte seinen Kollegen eine Seite der vorletzten Wochenendausgabe der New York Times. In der unteren Hälfte deutete er auf einen kurzen Bericht unter einem dreispaltigen Foto. Die Überschrift lautete: »U.S. Bomber Crashed on Golf Course in Germany – 48 Years Ago!«
Auf dem Pressefoto aus Deutschland war das verbeulte, rostige, erdverdreckte Cockpit eines abgestürzten Bombers der U.S. Air Force zu sehen, neben dem ein gewaltiger Bagger stand. Im Hintergrund konnte man noch ein schlossartiges Gebäude mit Giebeln und Türmchen erkennen. Und davor ein Stück eines Golfplatzes mit einer kleinen Fahne, die ein Loch auf einem der Grüns markierte.
Im Text hieß es: »Bei Baggerarbeiten auf dem Gelände des exklusiven Golfclubs Schloss Herrensee in Norddeutschland sind Mitte vergangener Woche Arbeiter auf das Wrack eines amerikanischen Bombers aus dem Zweiten Weltkrieg gestoßen. Am demolierten Heck ist noch die Kennung 909 TB 35 zu lesen und am Cockpit sind die Überreste einer handgemalten Aufschrift zu entziffern: ›Pride of New York‹.«
Es handele sich um eine von Boeing gebaute Maschine des Typs »B-17«, der wegen seiner Kampfstärke und Robustheit »Flying Fortress« genannt wurde. Vier jeweils 1200 PS starke Triebwerke hätten diese fliegenden Festungen mit ihren neun- oder zehnköpfigen Besatzungen und mit drei Tonnen Bombenlast bis zu sechstausend Kilometer weit transportieren können.
»Nach bisherigen Ermittlungen«, so schrieb die New York Times weiter, »ist der jetzt in Norddeutschland aufgetauchte Bomber im Frühjahr 1945 vermutlich nach einem Angriff auf die Hafenstadt Hamburg von der deutschen Flugabwehr abgeschossen worden.« Man habe in der Maschine oder in der Nähe bisher jedoch weder Skelette noch Uniformreste finden können. Von den Besatzungsmitgliedern fehle jede Spur.
Der Psychotherapeut faltete die Zeitungsseite sorgfältig zusammen.
»Jedenfalls wissen wir mehr über diese Geschichte als die Times«, sagte er, bevor er den Artikel in die Mappe mit seinen Patienten-Unterlagen legte. »Immerhin kennen wir schon den Piloten.«
2
Hamburg, Donnerstag, 15. Juli 1993
Dieses Chaos! Um mich herum sah es aus, als habe eine Bombe eingeschlagen. In der schrägen Decke meiner Dachgeschosswohnung klaffte ein gewaltiges Loch. Vor drei Tagen hätte da oben schon ein großes Oberlicht eingesetzt werden sollen – Gott sei Dank regnete es wenigsten seit einigen Tagen nicht mehr in Hamburg. Fliesenleger und Sanitärleute hatten unter gegenseitigen Schuldzuweisungen das halbfertige Bad und die zukünftige Küche fluchtartig verlassen. Die Innenausbauer flexten und bohrten offenbar planlos in den Wänden herum, so dass eine Staubwolke die Sicht von der Straßenfront am Isemarkt bis zur Rückseite am Kanal vernebelte. Und der Elektriker verursachte wieder mal einen Kurzschluss.
Die auf vier Wochen festgesetzten Umbauarbeiten zogen sich bereits drei Monate hin. Unter meinen Handwerkern schien eine ansteckende Seuche ausgebrochen zu sein: überall plötzliche, schwere Krankheiten und Sterbefälle in allernächster Verwandtschaft. Tagelang herrschte Untätigkeit, die nur von sporadischen Energieanfällen unterbrochen wurde. Ich hauste derweil in einer Notunterkunft hinter einem Plastikvorhang in einer Ecke der Baustelle.
Die Post fand sich jeden Tag woanders, seit der rostige Briefkasten am Eingang abmontiert worden war. An diesem Tag lagen die Zeitung und drei Briefe in einem ausgetrockneten Mischeimer für Fugenzement. Die Lokalzeitung berichtete wieder einmal über den mysteriösen Fund des amerikanischen Bomberwracks am Golfclub Schloss Herrensee, obwohl es eigentlich nichts Neues gab. Man suche noch immer nach Spuren der ehemaligen Besatzung, so hieß es. Bald würden amerikanische Spezialisten am Fundort erwartet.
Der erste der drei Briefe war ein Einschreiben meines Zahnarztes, der die Bezahlung einer Doppelkrone anmahnte. Leider zu Recht. Aus dem zweiten Umschlag fiel der Tiefdruck-Prospekt einer Firma für »Finanz- und Anlagenmanagement«, die als Unternehmenssitz unverblümt das Steuerfluchtparadies Cayman Islands angab. Der persönliche Absender war ein gewisser »Diplom-Finanzwirt Dr. Laurenz Jansen jr.«. Ein unangenehmer Kerl, dem ich nicht mal meine wertlose alte Briefmarkensammlung anvertrauen würde. Leider war dieser Jansen Mitglied in meinem Golfclub. Schließlich öffnete ich den dritten Umschlag. Die innen liegende Doppelkarte zeigte auf handgeschöpftem Bütten papier geprägt die imposante Silhouette von Schloss Herrensee. Der Text lautete:
»Baronin Hedwig von Mellin gibt sich die Ehre, Herrn Jonas P. Anders am 21. und 22. August aus Anlass des 67. Geburtstags des Gründers und Mehrheitseigners der Mellin Media AG, Malte von Mellin, zu einer kleinen Feier einzuladen.
Wir bitten am Sonnabend um 18:00 Uhr im Kreise der Freunde der Familie und unseres Verlagshauses zum Empfang mit anschließendem Dinner in das Schloss Herrensee. Am Sonntag wird dann Gelegenheit sein, auf dem Golfplatz von Schloss Herrensee an unserem traditionellen Charity-Turnier teilzunehmen.«
Es folgte eine schöne Unterschrift in blauer Tinte. Und darunter war im Kleingedruckten zu lesen: Für eine begrenzte Anzahl von Gästen stünden Zimmer und Apartments im Schlosshotel zur Verfügung. Man bitte um rechtzeitige Anmeldungen für die Übernachtung und ebenso für die Teilnahme am Golfturnier, dessen Teilnehmerzahl auf hundert Spieler beschränkt sei. Für den Abendempfang wurde »sommerlich-festliche Kleidung« empfohlen.
Ich war wirklich überrascht. Ausgerechnet mich baten die Mellins auf ihren Olymp! Welch eine Ehre für den früheren Reporter ihres Großverlages! Denn solch eine persönliche Einladung war in der sogenannten besseren Gesellschaft fast so viel wert wie die Ehrenbürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg. Und das Allerbeste folgte erst noch mit flotter Handschrift auf der Rückseite hinzugefügt:
»Mein lieber Jonas,
ich hoffe sehr, dass Du kommst! Ich freue mich schon nach so langer Zeit auf ein Wiedersehen mit Dir!
Ruf mich doch bitte vorher noch an!
Irma«
Drei Ausrufezeichen in drei kurzen Sätzen. Es schien ihr wirklich wichtig zu sein.
Wir hatten uns jahrelang nicht gesehen. Und wie immer hatte ich ihren Geburtstag vergessen: Irma von Mellin, die begabte und hübsche Tochter des deutschen Medienmoguls Malte von Mellin, war kürzlich 37 Jahre alt geworden. So hatte ich es nach ihrem Geburtstag in den Zeitungen gelesen. Man habe dieses Ereignis im engsten Familienkreis begangen, meldeten die Klatschspalten. Und in den Wirtschaftsteilen der großen Zeitungen stand aus diesem Anlass: Die Journalistin und Verlagsmanagerin gelte neuerdings als Kronprinzessin des Hauses Mellin. Denn trotz ihres ziemlich flotten Lebenswandels war sie nach Meinung der Branche fähiger und ehrgeiziger als ihr älterer Bruder Ortwin, der die Erwartungen des gestrengen Vaters enttäuscht habe.
Am nächsten Tag wartete ich die ruhige Mittagspause der verbliebenen Handwerker ab und stellte mich auf die halbfertige Dachterrasse zum Isekanal hin, bevor ich Irmas Durchwahlnummer im Mellin-Verlag wählte, die noch in meinem alten Organizer gespeichert war. Die Geräusche der Großstadt drangen zu mir hoch. Ab und zu ratterte unten eine S-Bahn vorüber. Es meldete sich eine unbekannte Stimme, wahrscheinlich ein neuer Sekretär oder ein persönlicher Assistent. Die hochnäsige Tonlage klang nach London School of Economics oder einem ähnlich teuren Institut.
»Wen darf ich melden?«
»Anders«, sagte ich.
»Nein, ich meinte Ihren Namen?«
»Ich meine es nicht anders, ich heiße Anders«, sagte ich. »Jonas Anders – aber Ihre Chefin kennt mich auch unter meinem neuen Künstlernamen Bogey.«.
»Sie sind Künstler?«
»So etwas in der Art«, sagte ich und fügte unwirsch hinzu: »Bevor Sie auch noch