Der fünfte Schatten. Jürgen Petschull

Der fünfte Schatten - Jürgen Petschull


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sprechen.«

      »In welcher Angelegenheit?«, wollte er wissen, und bevor er fragen konnte, in welcher Beziehung ich zu seiner Chefin stünde, sagte ich: »Stellen Sie mich einfach durch, wenn ich bitten darf!«

      Er schnappte hörbar ein, sagte »Einen Moment« und ließ das seichte Musikpotpourri laufen, mit dem der Mellin-Verlag seit Jahren schon seine Anrufer auf nervtötende Weise hinzuhalten pflegt. Der beleidigte Vorzimmer-Zerberus ließ mich natürlich extra lange warten. Ich hatte also reichlich Zeit zum Nachdenken. In welcher Beziehung ich zu seiner Chefin stehe? Gute Frage.

      Ehrlicherweise hätte ich wohl sagen müssen: Ihre Arbeitgeberin und ich hatten früher im Wesentlichen gemeinsame erotische Interessen. Unsere Affäre war jedenfalls stürmisch gewesen und hatte nach drei, vier Monaten nicht gerade harmonisch geendet. Die Verlegertochter und der im Verlag ihrer Familie arbeitende Enthüllungsjournalist, das war in der ersten Phase eine prickelnde Konstellation, aber von Dauer konnte die Sache nicht sein.

      Vier Jahre war das jetzt her. Ich durchlebte damals gerade eine Sinnkrise und eine Ehe im Endstadium. Sexuell war ich nahezu verdurstet. Und ausgerechnet Irma war nach einer feuchtfröhlichen Verlagsveranstaltung im Atlantic Hotel die Quelle, an der ich mich laben konnte. Für die rebellische Großverlegertochter hatte ich wohl eine Prise von Freiheit und Abenteuer zu bieten. Die Heimlichtuerei, das Versteckspielen vor der Familie und vor unseren Kollegen im Verlag und in der Redaktion war dabei ein zusätzlicher Kick. Ihre Familie sollte nichts davon erfahren, meine damalige zukünftige Ex-Ehefrau schon gar nicht.

      An den Wochenenden verkrochen wir uns in kuschelige Hotels und Apartments zwischen Sylt und Berlin. Tagsüber spielten wir zusammen Golf, und auch nachts haben wir uns nicht gelangweilt. Aber dann haben Irma und ich Himmel und Hölle erlebt, verletzende Machtkämpfe, gegenseitige Kränkungen und überschwängliche Versöhnungen – dazwischen gab es schließlich nichts mehr. Vielleicht waren wir süchtig nach unseren Versöhnungen.

      Seither hatten wir uns nur noch von Ferne wahrgenommen, und ich habe diese Episode meines Lebens in stiller Trauer auf dem Friedhof der Erinnerungen beigesetzt. In einer sehr schönen Ecke – aus meiner Sicht jedenfalls.

      »Frau von Mellin bittet Sie, noch einen Moment zu warten. Sie hat noch ein dringendes Gespräch mit New York auf der anderen Leitung.«

      Der Wächter im Vorstandssekretariat schien jetzt eine Spur milder gestimmt. Ich wartete also geduldig auf meine ehemalige Intimfreundin.

      Die nach mir folgenden Männergeschichten der »schönen Tochter des Großverlegers« hatte ich in den Klatschkolumnen der Gesellschaftsmagazine und Boulevardblätter auszugsweise verfolgen können. Dabei spielten diverse blaublütige Polospieler und künftige Erben hanseatischer Privatbanken eine führende Rolle. Ihre sehenswerte Figur stellte Irma abwechselnd in ausgeschnittenen Abendroben in Bayreuth, in eleganten Miniröcken bei einer Vernissage in Berlin oder Hamburg oder im Bikini auf der Multimillionärsinsel St. Barth zur Schau. Haarfarbe und Frisur wechselten offenbar mit ihren Liebhabern. Aber ihr Lächeln blieb immer gleich. Auf den Fotos wie in Wirklichkeit verstrahlte sie einen Society-Charme, der während ihrer Internatszeit in England das letzte Feintuning erhalten hatte. In letzter Zeit war es in der Öffentlichkeit allerdings merklich ruhiger um Irma von Mellin geworden. Wenn sie in den Zeitungen auftauchte, dann meist bei geschäftlichen oder gesellschaftlichen Anlässen an der Seite ihres Vaters, seltener mit ihrer Stiefmutter und nur ausnahmsweise einmal in Begleitung ihres älteren Bruder Ortwin, dem sie zu meiner Zeit in geschwisterlicher Hassliebe verbunden war. Auch mit ihrer engelhaft niedlichen Tochter Lena hatte sie sich abbilden lassen.

      Endlich hörte die Musikberieselung mit einem dreifachen Knacken auf. Irmas Stimme hatte sich um keine Spur verändert. Ich hätte sie unter Tausenden erkannt, besonders wenn sie mit zwitschernder Tonlage »überschwängliche Herzlichkeit« spielte.

      »Jonas Anders – alias Bogey! Bist du’s wirklich!? Schön, dass du dich endlich mal meldest. Hast du unsere Einladung bekommen? Ich freue mich so, dich bald wiederzusehen. Ich habe schon ein Zimmer auf deinen Namen im neuen Gästehaus am Schloss reservieren lassen, gleich am Golfclub. Vielleicht können wir mal wieder eine Runde zusammen spielen, wenigstens eine halbe. Sonst komme ich ja kaum noch dazu ... In dem Laden hier ist zurzeit der Teufel los, aber mir macht der Job immer mehr Spaß. Ich bin neuerdings auch für unsere neuen Auslandsaktivitäten zuständig, und in den USA steht gerade ein ganz großes Projekt an, demnächst muss ich zu Verhandlungen wieder mal in die Staaten ...«

      »Hallo Irma!«, sagte ich in ihren Redefluss hinein.

      »Entschuldige«, sagte sie, »ich weiß – ich rede wieder mal nur von mir. Wie ist es dir denn ergangen, Bogey? Man hat ja so einiges gehört ...«

      Vermutlich wusste sie, dass ich nach einem geräuschvollen Krach mit dem Chefredakteur beim Magazin Zenit ausgeschieden war – oder rausgeschmissen worden bin, die Darstellung variiert, je nachdem, wer erzählt. Das war vor rund drei Jahren gewesen, nach unserer gemeinsamen Zeit. Jedenfalls gehörte ich seitdem nicht mehr zu der gut bezahlten Heerschar von Verlagsangestellten und Journalisten, die tagtäglich für die Mehrung von Ruhm und Gewinn des Imperiums Mellin kämpften.

      »Bogey ... Hallo ... Einen Moment noch, Bogey – da kommt gerade ein wichtiges Gespräch aus den USA. Entschuldige, ich bin gleich wieder da ...«

      »Bogey« hatte sie gesagt, nicht Jonas wie früher. Sie hatte also von meinen Spitznamen gehört, den ich mir nach unserer Trennung mit intensivem Training auf der Driving Range und auf dem Putting Green und bei vielen Golfturnieren erspielt hatte: ein Bogey-Spieler, das ist beim Golf ein guter, statistisch gesehen sogar ein überdurchschnittlich guter Spieler. Einer, der, wenn es gut läuft, jedes der 18 Löcher auf einer Golfrunde mit jeweils nur einem Schlag schlechter spielt als etwa ein durchschnittlicher Profi.

      »Wie ist es dir denn ergangen, Bogey?«, hatte sie gefragt.

      Ob sie wirklich an einer Antwort interessiert war? Die Unterbrechung des Gespräches kam mir nicht ungelegen. Was hätte ich darauf in Kürze sagen sollen? Wie es gekommen ist, dass ich nach meinem Abgang als gut dotierter Reporter des Mellin-Konzerns nicht in Armut verfallen, sondern zu einem kleinen Vermögen gekommen bin? Das wäre die gute Nachricht, aber sonst ...

      Vor sechs Wochen bin ich 42 Jahre alt geworden. Wohlwollende Leute meinen, ich sähe aus wie Mitte dreißig. Und an guten Tagen fühle ich mich auch so. Aber in letzter Zeit gibt es kaum richtig gute Tage. Meinen Geburtstag habe ich nicht gefeiert, denn es gab wenig Grund dazu. Meine zukünftige Exfrau will vor dem gerichtlichen Scheidungstermin immer höhere Unterhaltszahlungen herausschlagen. Sie lebt mit meiner Tochter in unserem früheren Haus. Meine Dauerüberweisungen sichern ihren Lebensstandard. Meine amtierende Freundin nörgelt an mir herum und droht mit Trennung. Ich fürchte, zu Recht. Und meine geliebte, aber hochgradig pubertierende Teenie-Tochter legt zurzeit nicht besonders viel Wert auf meine geistesabwesende Gegenwart. Wahrscheinlich weil sie gerade mal wieder eine neue große Liebe gefunden hat, einen Jonathan, Philipp, Konstantin oder ähnlich. Und obendrein ist auch noch vor knapp einem Monat mein Führerschein wegen Geschwindigkeitsüberschreitung im Hamburger Hafengebiet für vier Wochen aus dem Verkehr gezogen worden. Zusammengenommen reicht das für anhaltend schlechte Laune. Und allmählich habe ich die Befürchtung, mit Anfang vierzig schon das Beste hinter mir zu haben.

      Nach selbstkritischer Diagnose, warum eigentlich vieles nicht so gelaufen war, wie ich mir das vorstellte, war ich wieder mal zu keinem Ergebnis gekommen. Familiär bedingte Beziehungsprobleme? Vorgezogene Midlife-Crisis? Wahrscheinlich war es so banal. Bekanntlich werden die meisten Altersgenossen von Zweifeln an sich und der Welt geplagt. Man muss an sich arbeiten, und das Leben ist eine Baustelle. Aber ich habe immer noch keine Vorstellung davon, wie mein Haus eines Tages eigentlich aussehen soll. In meinem Alter wäre es an der Zeit für ein Richtfest gewesen, und ich änderte immer noch die Baupläne. Gerade war wieder so eine Phase, wo ich alles stehen und liegen lassen und abhauen wollte. Aber mit welchem Ziel?

      Jedenfalls hatte ich mir eigentlich eine Denkpause verordnet, eine Art Selbstgesprächs-Therapie. Einfach irgendwohin fahren, eine neue Umgebung kennenlernen, neue Menschen sehen, drei, vier Wochen weg aus Hamburg, dem Schauplatz meiner Probleme. Finanziell konnte ich mir das leisten. In dieser Hinsicht


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