Der fünfte Schatten. Jürgen Petschull
Anders, der einzige Bruder meines verstorbenen Vaters, hatte als Immobilienkaufmann eine Vorliebe für schöne Altbauten in bester Hamburger Lage. Nach bewährter Kaufmannsart kaufte er günstig und verkaufte teuer. Er hatte starke Nerven, wenn es um riskante Geschäfte, um aufwändige Renovierungen und komplizierte Finanzierungen ging. Aber sein Herz war schwach. Den dritten Infarkt überlebte er nicht mehr. Onkel Friedhelm ist nur 63 Jahre alt geworden. Bei der Testamentseröffnung stellte sich heraus, dass ich sein einziger Erbe war. Tagelang konnte ich das nicht fassen, obwohl mir der Notar immer wieder versicherte, er mache in solchen Dingen keine Scherze, das habe schon alles seine Richtigkeit.
Was Onkel Friedhelm mir hinterlassen hat, war auf den ersten Blick mindestens so viel wert wie ein Lottogewinn, auf den ich zwei Jahrzehnte lang fast jeden Freitagnachmittag vergeblich getippt hatte. Plötzlich gehörte mir ein schönes Jugendstilhaus in Hamburg-Harvestehude, vier Stockwerke hoch, mit acht Mietwohnungen und ausbaubarem Dachgeschoss, das ich mithilfe von krankheitsgeplagten Handwerkern in ein lichtdurchflutetes Penthouse verwandeln will. Und als Zugabe noch ein Wochenendhaus, eine restaurierte Bauernkate, gleich hinterm Deich an der Unterelbe. Allerdings, und das war die schlechte Nachricht, gehörten drei Viertel dieses Besitzes diversen Banken. Die gute: Zinsen und Tilgungen konnten von den Mieteinnahmen bestritten werden, und es blieb monatlich noch genug zum Leben übrig. Jedenfalls musste ich nach dem Verlust meines monatlichen Reporter-Gehaltes nicht aufs Golfspielen verzichten. Sogar das längst bestellte Saab Cabrio aus Schweden hatte ich mir noch leisten können. Aber wie lange noch? Nicht nur das Vermögen, sondern auch die Ansprüche und Forderungen meiner künftigen Exgattin waren gestiegen. Und leider hatte sie auch noch eine ehrgeizige Anwältin.
»Herr Bogey ... Hallo, Herr Bogey, sind Sie noch da? Frau von Mellin bittet Sie recht herzlich, in der Leitung zu bleiben. Ihr Gespräch mit New York dauert leider doch länger.«
Die Stimme von Irmas Sekretär hatte inzwischen eine devote Tonlage angenommen. Immerhin.
3
New York, Donnerstag, 15. Juli 1993
»Sind Sie bereit? Können wir weitermachen?«
Wie am Tag zuvor lag der glatzköpfige Mann aus Washington angeschnallt und verkabelt im Behandlungsraum des »Manhattan Brain Clinic and Research Institute«. Der Kriegsfilm wurde wieder gezeigt. Die Medikamente wirkten. Wie am Tag zuvor sprach der Psychotherapeut auf den in Trance gefallenen Patienten ein.
»Sie haben uns gestern berichtet, welche Eindrücke und Gefühle Sie beim Feindflug über Hamburg hatten, der Stadt Ihrer Kindheit und Jugend. Ihr Copilot, Mister Patrick Henderson, schien sich Sorgen um Ihren Zustand zu machen. Wir spielen Ihnen diese Stelle noch einmal vor.«
Der Therapeut schaltete den Rekorder und die Lautsprecher am Kopfende des Raumes ein. Eine Stimme ertönte:
»Alles in Ordnung, Captain? – Alles okay, Paul ...?«
Der Mann auf dem Behandlungsbett verzog sein Gesicht. Er schien mit sich zu kämpfen, bevor er mit seiner Geschichte fortfuhr. Schließlich sprach er wieder mit einer gedehnten, fremd klingenden Stimme wie am Tag zuvor:
»Ich habe Henderson zur Antwort gegeben: Es ist alles in Ordnung mit mir!«
Captain Paul F. Mandell nickt seinem Copiloten im Cockpit des B-17-Bombers zu und macht mit der rechten Hand das Victory-Zeichen. Dann konzentrieren sich die beiden Flieger wieder auf die Instrumente.
Außer Mandell und Henderson sind noch acht Mann Besatzung an Bord der fliegenden Kampfmaschine: ein Navigator, ein Funker, zwei Techniker, zwei Bombenspezialisten und zwei MG-Schützen. Männer von Mitte zwanzig, Junggesellen oder junge Familienväter, Draufgänger oder besonnene Handwerker des Krieges. Einige sind mit Lust bei der Sache, die meisten versuchen ihre Angst zu verbergen. An ihren Oberkörpern baumeln ovale Metallmarken mit ihren Namen, ihren Heimatorten, ihrer Einheit und ihrer Blutgruppe. »Dogtags« nennen die Amerikaner diese Marken. Falls den Männern etwas zustoßen sollte, sind sie damit leichter zu identifizieren.
Im Schutz der beginnenden Dämmerung fliegt Mandells Geschwader in südöstlicher Richtung den Elbstrom entlang. Die Sicht ist noch gut.
»Da unten rechts die dunklen Zacken, das sind die Hafenbecken mit den Ölraffinerien, da müssen wir hin«, ruft Bryan Simmons, der Navigator, in den Bordfunk. Sein Vater hat ihn nach dem berühmten amerikanischen Golfspieler Bryan Nelson genannt. Simmons junior will nach dem Krieg tatsächlich Golfprofi werden. Er war schon zweimal Meister in seinem College und hat ein größeres Turnier in New Jersey gewonnen.
Hinter dem Navigator arbeitet Greg Podolski, der Bombenschütze aus Brooklyn. »Wetten, dass ich mit dem neuen Norden-Zielgerät aus fünftausend Meter Höhe ein Whiskeyfass treffen kann?«, hat er vor dem Einsatz behauptet – da sollten doch Öltanks in der Größe von Mehrfamilienhäusern kein Problem sein. Und tatsächlich: Nachdem er im entscheidenden Moment seine Bomben präzise ausgeklinkt hat, explodieren im Sekundentakt vier riesige Tanks der Ölraffinerie im Hamburger Hafen. Die anderen hören Gregs Jubelschreie in ihren Kopfhörern. Mit den restlichen Bomben nehmen sie sich noch einmal die Werftanlagen von Blohm & Voss vor und danach einen Güterzug im Süden der Stadt.
Eine halbe Stunde dauert der Angriff. Danach fliegt das ganze Geschwader noch eine Ehrenrunde über Hamburg, um seine totale Luftüberlegenheit zu demonstrieren. Wie verirrte Silvesterkracher verpuffen unter ihnen die letzten Granaten der fast vollständig ausgeschalteten Hamburger Flakabwehr.
Bevor die Männer zum vereinbarten Sammelpunkt mit den anderen Maschinen abdrehen, gehen die Gedanken des jungen Bomberpiloten zurück.
Da unten hat er seine Kindheit und seine Jugend verbracht: Paul F. Mandell, einziger Sohn eines so geachteten wie gefürchteten Wirtschaftsjuristen. Zur Welt gekommen in der Universitätsklinik Eppendorf, im jüdischen Viertel am Grindel aufgewachsen. Schüler des traditionsreichen Johanneum-Gymnasiums in Winterhude. Er muss an Iris denken, an seine anschmiegsame Tanzstundenfreundin, die sich in einer Herbstnacht am Ufer der Alster von ihm hat küssen lassen, und an die Freunde aus dem Ruderclub, mit denen er verbotene Swingplatten von Benny Goodmann und Glenn Miller gehört hat. Captain Mandell denkt auch an die Nachbarn aus der Hallerstraße, die ihn vor den Nazis versteckt haben, bis ihn Fluchthelfer über Dänemark und England nach Amerika schleusen konnten. Was wohl aus dem alten Ehepaar geworden ist? Ob sie den Krieg überleben werden?
Wie ein Schwarm von Zugvögeln sammeln sich die amerikanischen Bomber über der Lüneburger Heide zum gemeinsamen Rückflug nach England. Die Maschine der Mandell-Crew nimmt eine Position ganz am Ende des Konvois ein.
An Bord macht sich Entspannung und Erschöpfung breit. Die meisten Besatzungsmitglieder dösen an ihren engen, blechernen Arbeitsplätzen vor sich hin wie Bauarbeiter, die auf einem Lastwagen ihrem Feierabend entgegenrumpeln. In ein paar Stunden werden sie wieder in Snetterton Heath landen, ihrer Base in Suffolk, dann werden sie essen und trinken und duschen und schlafen und hoffen, dass dieser verdammte Krieg bald zu Ende sein wird und sie nach Hause zurückkehren können.
»Glaubt ihr Juden eigentlich an ein Leben nach dem Tod?«, fragt Copilot Henderson, ein gläubiger Methodist, dessen Vater vor ein paar Wochen gestorben ist.
»Für die Gerechten soll es ein ewiges Leben geben«, sagt Mandell zögernd. »Ich bin nicht sehr religiös, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass nach dem körperlichen Sterben auch mein Geist für immer und ewig erloschen sein soll.«
Der Bomberschwarm fliegt nach Norden, parallel zum immer breiter werdenden Elbstrom, der sich behäbig durch das norddeutsche Bauernland windet. Am Horizont ist schon die Küste auszumachen. Das Wattenmeer glänzt im Widerschein der tief stehenden Sonne wie ein polierter Silberteller.
Um 19:46 Uhr tauchen die Jäger am Abendhimmel auf.
Hank, der MG-Schütze, sieht sie in seiner gläsernen Aussichtskanzel oberhalb des Cockpits als Erster. Er schreit gegen den Fluglärm an, als er die Position der feindlichen Flugzeuge durchgibt:
»Banditen auf fünf Uhr!«
Es sind drei. Drei winzige Punkte, die zunächst aussehen wie Fliegendreck auf der Verglasung