Der fünfte Schatten. Jürgen Petschull
hat ein Gedächtnis wie ein Elefant, das weißt du doch. Die Gästeliste hat er persönlich abgesegnet und vorher ein Dutzend Namen gestrichen. Deiner ist draufgeblieben.«
»Wirklich erstaunlich. Wie viele Leute erwartet ihr zu dieser kleinen Familienfeier?«
»Nach letztem Stand sind es mit dir 200. Du kommst doch, oder?«
»Wenn du dich wirklich freust?«
»Und wie.«
»Ich mich auch.«
»Also, dann rufe ich dich an, wenn ich zurück bin. Unter der alten Nummer?«
»Ja«, sagte ich, die habe ich behalten. Ich baue mir gerade eine Dachgeschosswohnung aus. Hörst du den Krach im Hintergrund? Ich stehe mitten in der Baustelle.«
»Da gibt es ja wirklich einiges zu erzählen. Wo liegt deine neue Wohnung?«
»In der Isestraße.«
»Keine schlechte Gegend. Bis dann also!«
Wie immer legte Irma zuerst auf.
5
Hamburg/Herrensee, Sonntag, 18. Juli 1993
Am frühen Morgen hing der Himmel noch bleischwer über der norddeutschen Tiefebene. Wie in den letzten Tagen. Aber wenigstens der Regen hatte endlich aufgehört und es klarte allmählich auf. Meine Stimmung schlug ebenso um wie das Wetter. Beides wurde von weiteren Tiefausläufern verschont, es breitete sich ein Hochdruckgebiet aus, über Norddeutschland und über meinem Seelenleben. Endlich sollte es Sommer werden. 24 bis 30 Grad, viel Sonne. Die Aussichten für die kommenden Tage seien recht vielversprechend, versicherte ein Meteorologe vom Seewetterdienst im Radiofrühprogramm. Plötzlich fühlte ich mich so gut wie schon lange nicht mehr. Das lag nicht nur am Wetter, sondern vor allem an dem Gespräch mit Irma und an der Einladung zum großen Geburtstags- und Golfwochenende auf Schloss Herrensee.
Beides hatte mich vor einer jener heraufdämmernden Schwermutsattacken bewahrt, in deren Verlauf ich mir die Sinnfrage zu stellen pflegte. Aber nicht nur das: Nach einem Monat hatte ich gerade zur rechten Zeit meinen Führerschein zurückbekommen. Und mein schönes Saab Cabrio – eines der letzten aus der echten Schwedenproduktion, bevor die Amerikaner die Marke verhunzten – stand nach einer Inspektion abholbereit in der Werkstatt, rundum poliert und auch innen auf Hochglanz geputzt.
Natürlich klappte ich gleich das Verdeck auf, um bei der Fahrt übers Land den blauweißen Himmel, die Ausblicke ins Grüne und den Geruch von Bäumen, Blüten und frisch gemähtem Heu zu genießen. Mein Ziel: das Dorf Herrensee. Ich war dort Mitglied im ziemlich exklusiven »Golf- und Landclub Schloss Herrensee«. Das hatte ich mir nur leisten können, weil der Verleger und Clubbesitzer Malte von Mellin seinen Verlagsangehörigen einen fünfzigprozentigen Rabatt auf Jahresbeiträge und Eintrittsspenden gewährte. Zu den wirklich wichtigen Einladungen und den großen Turnieren wurden jedoch nur wenige Auserwählte aus den Führungszirkeln des Konzerns geladen. Und obwohl ich nicht mehr für den Verlag arbeitete, gehörte ich nun dazu. Das hatte ich also Irma zu verdanken
An diesem Sonntag wollte ich trainieren und vielleicht auch eine Runde spielen. Mein Abschlag war vor dem kommenden Turnier dringend renovierungsbedürftig, ein hartnäckiger Slice, ein Ballflug nach rechts statt schnurgeradeaus, machte mir wieder mal zu schaffen. Eine weit verbreitete Golferkrankheit. Und ein neuer Putter sollte mir helfen, gewisse Schwächen auf dem Grün zu beheben.
Von der Isestraße fuhr ich über den Klosterstern zum Harvestehuder Weg und über die Lombardbrücke in Richtung Autobahn. Die traumhafte Aussicht aus dem offenen Wagen über das blaue Wasser und auf das Alsterufer gegenüber mit den prächtigen weißen Häuserfassaden war immer gut für die Stimmung. Der Saab röhrte mit einem satten Sound über Autobahn und Landstraßen. Die Sonne kam gleichzeitig mit mir in Herrensee an. Bald weideten nur noch ein paar grauweiße Schäfchenwolken am blauen Himmel. Am Ende einer langgezogenen Kurve tauchte der Kirchturm hinter hohen Baumkronen auf und dann das Ortsschild des Dorfes, das durch das Schloss am See und den Golfplatz bekannt geworden ist. Im Radio verklangen die letzten Pianotöne von Dave Brubecks »Wonderful Copenhagen«.
Herrensee war eine noch landwirtschaftlich genutzte Idylle. Kuhfladen mit Reifenprofilen lagen auf der mit Kopfsteinen gepflasterten Hauptstraße. Eichen, Kastanien und Walnussbäume hatten Krieg und Frieden überstanden, und Rosen rankten an den Fassaden von strohgedeckten Fachwerkhäusern. Städter aus Hamburg, Hannover und Bremen, sogar aus Berlin, hatten sich hier idyllische Zweitwohnsitze zugelegt. Alte Bauernhäuser und marode Fachwerkkaten waren mehr oder weniger einfühlsam renoviert worden. Die Zugezogenen schienen in nachbarschaftlicher Symbiose mit der knorrigen Landbevölkerung zu leben. Im Dorf Herrensee gab es noch eine verräucherte Kneipe, in der es heimatlich roch, nach verschüttetem Bier und nach Bratkartoffeln. Auf dem Kirchplatz erinnerte ein mit verwelkten Topfblumen garniertes Kriegerdenkmal an die Söhne der Gemeinde, die in zwei Weltkriegen fürs Vaterland gefallen waren.
An der nächsten Ecke, vor einer Lindenallee, wies ein Holzschild mit zwei gekreuzten Golfschlägern den Weg zum »Golfclub Schloss Herrensee«. Der Golfplatz war von einem Fachmagazin zu Beginn der Saison erneut zu einer der schönsten Anlagen Deutschlands ernannt worden. Der Eigentümer, Großverleger Malte von Mellin, so hieß es, scheue weder Mühe noch Kosten, um diesen in schöner Landschaft gelegenen und sportlich ambitionierten Platz zum Wallfahrtsort für Weltklassespieler und für Golfer aus Deutschland und der ganzen Welt zu machen. Der 18-Loch-Platz sollte auf 27 Loch erweitert werden. Die Erdarbeiten hatten im Frühjahr begonnen. Dabei war nun ein großer Bagger am Rande einer alten Kiesgrube auf das Wrack des amerikanischen Bombers gestoßen.
Weil ich Zeit hatte und die Sonne inzwischen prächtig schien, fuhr ich noch einmal aus dem Dorf heraus und bog in einen Waldweg ein. Von einem sandigen Parkplatz lief ich ein paar Meter in den lichten Laubwald hinein. Nach wenigen Metern hatte man eine hinreißende Aussicht. Herrensee lag in einem flachen, ausgedehnten Tal vor sanft ansteigenden Hügeln. Zur Linken war ein Teil des Herrensees und davor ein Stück des Golfplatzes mit dem Schloss zu sehen. Ein beliebtes Postkartenmotiv. Hundert Meter vor mir stieg gerade ein Starenschwarm lärmend aus einem ungeschützten alten Kirschgarten auf, tanzte eine Weile anmutig über dem Dorf und folgte der Lindenallee, die zum Schloss Herrensee führt. Das zweistöckige neoklassizistische Gebäude mit den Säulen an der Frontseite stand sonnengelb leuchtend vor einem dunkelgrünen Park. In der großen Gartenanlage davor waren sorgfältig gestutzte Hecken und gezirkelte Blumenbeete, Rhododendron und Rosen zu sehen. Von der Terrasse fiel eine Rasenfläche zum See hin ab, zu dem ein Bach führte, der von einer Holzbrücke überquert wird. Auf der Terrasse waren jetzt zwei Dutzend weiße Sonnenschirme und ebenso viele Tische aufgestellt.
Von meinem Platz aus wirkte die Landschaft mit See und Schloss wie ein Gemälde des britischen Landschaftsmalers John Constable. Und tatsächlich wusste ich von Irma, dass ein von den Mellins engagierter Landschaftsarchitekt aus England in den sechziger Jahren das ganze Golfplatzgelände inmitten des norddeutschen Bauernlandes rings um Schloss Herrensee zu einer naturnahen Parklandschaft veredelt hatte, wie man sie aus Devon oder Cornwall kennt.
Von ihr wusste ich auch, dass ein Schüler Karl Friedrich Schinkels das Schloss Herrensee vor eineinhalb Jahrhunderten im Auftrag eines Hamburger Reeders entworfen hatte, der mit dem Gewürzimport aus Sansibar reich geworden war. Später hatte eine jüdische Bankiersfamilie das Anwesen gekauft. Sie konnte sich nach der Reichskristallnacht und vor Kriegsausbruch nach Amerika retten. Während der Nazizeit war das Schloss beschlagnahmt worden, viel mehr wusste man darüber nicht. Auf alten Fotos war der erbärmliche Zustand des Gebäudes in den Nachkriegsjahren dokumentiert: große Löcher in den Dächern, zerborstene Fenster, herausgerissene Fußböden.
Malte von Mellin hatte den heruntergekommenen Besitz inklusive hundertfünfzig Hektar Land Ende der fünfziger Jahre zu einem symbolischen Preis von der Denkmalschutzbehörde gekauft. Mit vielen Millionen und mit einfühlsamen Architekten hatten er und seine Ehefrauen daraus wieder das gemacht, was es einmal gewesen war: ein Schmuckstück großbürgerlicher Lebensart.
Früher hatte der Verleger auf Schloss Herrensee häufiger Empfänge für die wirtschaftliche und politische