Der fünfte Schatten. Jürgen Petschull
»Einen Moment«, sagte er, immer noch zögernd. »Ich sehe mal in unserem Terminkalender nach ...«
»... also, am kommenden Montag, den sechsundzwanzigsten Juli hat Frau von Mellin sich freigenommen.«
Jetzt erinnere er sich wieder, sagte Irmas Vorzimmer-Sprecher. Man habe bereits vor drei oder vier Wochen etwa ein gutes Dutzend bunter Einladungen an die Schulfreundinnen der kleinen Lena geschickt beziehungsweise an deren Eltern. Für den Kindergeburtstag auf Herrensee.
Ich bedankte mich sehr.
Zu Lenas Geburtstag würde Irma spätestens zurück sein. Und sie wollten also nicht in der Stadt, sondern draußen auf dem Lande feiern.
Vielleicht konnte ich ja an diesem Montag auch zufällig in Herrensee sein.
Am Sonnabend war die Business Class des Lufthansafluges vom Kennedy International Airport New York nach Frankfurt/Main gerade mal zur Hälfte ausgebucht. Auf dem leeren Platz neben Irma von Mellin saß ein Bär. Dick und rund, aus feinem Plüsch, gut eineinhalb Meter groß. 980 Dollar hatte sie für das Tier in einem exklusiven Luxus-Spielzeugladen an der Fifth Avenue bezahlt. Sie konnte es kaum erwarten zu sehen, wie Lena sich über dieses Geschenk freuen würde, denn vor ein paar Wochen hatten sie sich zusammen Walt Disneys Zeichentrickfilm »Das Dschungelbuch« angesehen, mit Balou, dem lustigen Tanzbär, in der Hauptrolle.
Stewardessen und Passagiere schmunzelten über das Paar in Reihe 7: über die junge Dame im Prada-Kostüm und den Bären im Plastiksack mit bunter Schleife. Auch der Mann hinter Irma von Mellin auf Platz 11 A hatte ihr beim Einsteigen freundlich zugenickt. Zwei Stunden nach dem Start, nach dem vorzüglichen Abendessen und nach einer halben Flasche Rotwein war er offenbar in Tiefschlaf gefallen. Er schnarchte immer wieder mal, meistens leise, gelegentlich aber auch markerschütternd laut. Irma drehte sich deshalb ein paar Mal um. Der Mann hatte seine sportlich-schlanke Figur über zwei der breiten Sitze ausgestreckt. Er trug Jeans, ein verwaschenes Hemd und spitze, verzierte Cowboy-Stiefel. Sein rotbraunes Haar war zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden. Sein Gesicht konnte sie nur zur Hälfte sehen. Er hatte einen dichten Schnurrbart auf der Oberlippe, ein kantiges Kinn und einen harten Zug um den Mund. Augen und Nase wurden von einer Schlafmaske verdeckt. Wie ein Cowboy sah er aus. Oder wie »Zorro, der Mann mit der Maske«, dachte sie.
Malte von Mellin saß in derselben Reihe wie seine Tochter, aber auf der anderen Seite des Ganges. Wenn sie miteinander reden wollten, mussten sie die Köpfe zur Seite drehen und lauter sprechen.
»Du hast dich bei den Gesprächen sehr gut geschlagen. Ohne dich hätte ich das nicht geschafft«, sagte er zu seiner Tochter. »Die Amerikaner waren beeindruckt von deinem Verhandlungsgeschick. Und dein Englisch ist wirklich brillant, darum beneide ich dich.«
Irma freute sich über das seltene Lob des Vaters. Als sie einige Geschäftspapiere aus ihrer Aktentasche zog und darüber reden wollte, bremste er sie. »Nicht jetzt und nicht hier«, sagte er.
Stattdessen plauderten sie über die Pläne für Lenas Geburtstag. Auf einer Wiese neben Schloss Herrensee sollte ein weißes Partyzelt aufgebaut werden. Bei schönem Wetter würde man ein großes Picknick auf der Wiese veranstalten. Für Kinder und Eltern getrennt. Sie habe ein Kasperletheater und einen Zauberkünstler engagiert und einen Fachmann für allerlei unterhaltsame Spiele, erzählte Irma. Malte von Mellin versprach zu kommen. Er liebte sein Enkelkind. Vielleicht besonders, weil der Vater unbekannt war. Selbst ihm gegenüber hatte Irma daraus ein Geheimnis gemacht. Aber er wusste, dass mehrere Männer in Frage kamen. Zwei oder drei. Keiner davon war ihm sympathisch.
Der Großvater notierte mit penibler, kleiner Schrift in seinen dicken Terminkalender.
»Montag, 26. Juli ab 14 Uhr, Herrensee, Geburtstag Lena!«
Er wiederholte Datum und Uhrzeit noch einmal laut.
Hinter ihnen hörte der scheinbar schlummernde Passagier aufmerksam zu. Eigentlich interessierte er sich nicht für Kindergeburtstage, aber diesmal merkte er sich Ort und Zeit sehr genau.
In der Ankunftshalle des Hamburger Flughafens sah Irma den Passagier aus der Business Class noch kurz wieder. Als der Chauffeur ihres Vaters ihre beiden schweren Rimowa-Koffer von der Gepäckkarre hob, stand er an einer Säule und hielt eine aufgeschlagene Zeitung in Brusthöhe, als ob er lese. Das amerikanische Blatt USA Today. Eine schlanke, etwas kleinere Frau trat auf ihn zu. In ihrem roten Haar steckte eine Sonnenbrille. Sie trug enge weiße Jeans und einen ebenfalls weißen Sommerblouson mit einer lachsfarbenen Rose im Knopfloch. Die beiden sahen sich ein paar Sekunden lang an. Offenbar unsicher. Dann umarmten sie sich zögernd. Ein Paar, das sich nach einem Streit oder nach einer Trennung wieder versöhnen wollte. So sah es aus.
So sollte es aussehen.
Die Frau mit der Rose hakte sich bei dem Zeitungsleser unter und zog ihn zum Ausgang.
Sie lenkte einen schwarzen Dreier-BMW durch dichten Feierabendverkehr zum Eppendorfer Baum und weiter zum Harvestehuder Weg mit seinen hohen Bäumen, großen Rasenflächen und teuren Villen. Er sah schweigend durch die grüngetönten Scheiben.
»Einer ... schöner ... Staadt ... nicht wahrrr ...?«, sagte er dann, wie jemand, der seine Deutschkenntnisse lange nicht angewandt hatte.
»Ja, Hamburg ist wirklich schön«, wiederholte sie wie eine Lehrerin, »besonders hier an der Alster.«
Sie bog in eine Nebenstraße ein und hielt vor einer terrassenartig angelegten Apartmentanlage. Auf Knopfdruck glitt das Tor vor der Tiefgarageneinfahrt zur Seite. Ein Fahrstuhl brachte sie in den obersten, dritten Stock. Sie öffnete das Sicherheitsschloss einer Wohnungstür mit einer Plastikkarte und einer Zahlenkombination.
An der Tür stand der Name »Schwarzvogel«.
»Weißt du, was ›Schwarzvogel‹ auf Englisch heißt?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Blackbird ...!«
»Sehr witzig«, sagte er und lachte.
»Es ist eine Firmenwohnung«, sagte sie. Blackbird Global Security unterhalte mehrere solcher konspirativer Wohnungen in einigen wichtigen deutschen Städten. Sie führte ihn durch das lichtdurchflutete, spartanisch, aber zweckmäßig möblierte Drei-Zimmer-Apartment. Vom breiten Balkon hatte man über Baumwipfel hinweg einen Blick auf das Wasser und auf die gegenüberliegende Seite der Alster.
»Du kannst hier so lange wohnen, bis der Auftrag erledigt ist. Vermutlich wirst du zwischendurch ein paar Mal verreisen müssen. Ich habe Wäsche und Kleidung in deiner Größe besorgen lassen. Ich hoffe, die Sachen gefallen dir. Der Kühlschrank ist gut gefüllt. Auch mit Getränken. Es ist alles da, was ein Mann so braucht. Auch ein elektrischer Rasierapparat, wie du es gewünscht hast.«
»Wo ist das Badezimmer?«
Sie brachte ihn zu einer Tür, die vom offenen Flur abging.
Sie hörte erstaunt, dass er sich offenbar gleich rasierte. Nach ein paar Minuten kam er heraus. Sein Bärtchen war ab. In seiner rechten Hand hielt er einen rotbraunen Haarschopf mit Pferdeschwanz. Wie ein Skalp sah die Perücke aus.
Sie hätte ihn beinahe nicht wiedererkannt.
Er lächelte zufrieden, als er ihr verblüfftes Gesicht sah.
»Du bist ja ein Verwandlungskünstler.«
»Das ist Teil meines Jobs«, sagte er. »Eine gute Tarnung hat mich schon ein paar Mal gerettet.«
Sie versuchte ein wenig Smalltalk zu machen. Ob es mit der Platzbuchung in der Lufthansamaschine geklappt habe?
»Ja, alles war bestens organisiert. Ich habe direkt hinter Mister Mellin und seiner Tochter gesessen. Und ich habe einiges mitbekommen, was sie geredet haben.«
Aus seiner Zeit als GI in Süddeutschland könne er noch ein paar Brocken Deutsch.
Als sie zwischen zwei Buchsbaum-Töpfen nebeneinander an der Balkonbrüstung standen und zur Alster hinüberblickten, drehte sie sich zu ihm um, streckte ihm ihre rechte Hand entgegen und sagte, als habe