Der fünfte Schatten. Jürgen Petschull
von Mellin gerade eine Diagnose, weil er neuerdings »so ein blödes Gefühl unterhalb der linken Kniescheibe« verspüre.
»Das kann ein Knorpelproblem oder eine Schleimbeutelentzündung sein, da gibt es einige Möglichkeiten«, meinte der Arzt. Er solle doch am besten in seine Praxis kommen. An der Schulter zwicke es auch, sagte der Verleger, und der Arzt beliebte zu scherzen: »Du musst dir nicht immer so viel auf die Schulter klopfen lassen, Malte, dann hören die Schmerzen ganz von selber wieder auf.« Die Umstehenden lachten.
Das Kasperletheater dauerte eine Stunde. Danach tollten die Kinder auf der Wiese herum. »Wir spielen jetzt Verstecken«, rief ein Junge. Mit ihm lief eine Gruppe den Sandweg entlang zum Wald hinüber. Ein kleiner Hund rannte immer wieder um die Kinder herum wie ein Schäferhund um seine Herde. Nach einer halben Stunde kamen sie zurück. Der Jack-Russel-Terrier tollte vor ihnen her.
Die Festtagskleider der Mädchen waren von Erde und Brombeeren verschmiert. Die stolzen Eltern waren entsetzt. Auch Irma.
»Mein Gott, Lena, wie siehst du denn aus?«, sagte sie und zog ihre Tochter zu sich heran. »Wie ist das denn passiert?«
»Das war Ali!«, sagte die Kleine und lachte. Wie zum Beweis kam der Hund angerannt und sprang mit den dreckigen Vorderpfoten an Irmas Tochter hoch. Die riss ihm nach einem kleinen Kampf den Stock aus der Schnauze und warf ihn wieder weg. Mit großen Sprüngen hetzte der Hund hinterher, schnappte zu und schlug sich die Beute um die Ohren. Dazu knurrte er heftig. Es sah aus, als zappele ein Tier in seiner Schnauze.
Lena wollte wieder nach dem Stock greifen. Aber der Jack Russel war schneller. Er flitzte wie wild um Tischbeine und Menschenfüße herum. Das sah so komisch aus, dass auch die Erwachsenen in das Gelächter der Kinder einstimmten. Sogar Malte von Mellin.
Das Spiel wiederholte sich ein paar Mal. Dann stürzte sich ein junger Mann auf den Terrier, erwischte ihn am Halsband und nahm ihm den Stock aus der Schnauze. Der Medizinstudent Philipp, Sohn des Chefarztes Ingwersen, warf dem Hund ein paar Fleischreste von einem noch nicht abgeräumten Teller zu. Damit war Ali erst einmal beschäftigt.
Der Medizinstudent drehte und wendete den Stock und betrachtete ihn eine Weile von allen Seiten.
»Gibt es hier in der Nähe einen Friedhof?«, fragte der junge Ingwersen.
»Nein«, sagte jemand. »Warum?«
»Weil das hier kein Stock ist. Es ist ein Knochen. Ein älterer, menschlicher Knochen – vermutlich ein Teil von einem Unterarm.«
»Mach jetzt keine makaberen Witze«, sagte sein Vater, stand auf und nahm das Fundstück an sich.
Professor Ingwersen begutachtete das etwa dreißig Zentimeter lange Fundstück ausgiebig, dann legte er es mit einer bedeutungsschweren Geste auf eine ohnehin schon schmutzige Serviette.
»Und ...? Was ist das denn nun, Professor?«, fragte jemand.
»Mein Herr Sohn hat im Anatomieunterricht gut aufgepasst. Das ist tatsächlich ein menschlicher Knochen. Ein paar Jahrzehnte alt, schätze ich. Genauer gesagt handelt es sich um einen der beiden miteinander verbundenen Unterarmknochen, dies hier ist die Ulna, die Elle, die etwas größer und dicker ist als die sogenannte Speiche. Die beiden Knochen sind durch starke Sehnen miteinander verbunden und dadurch sehr flexibel«, dozierte der Professor weiter. Er fasste sich an seinen Arm. »Und hier sitzen die Gelenke, die den Unterarmknochen mit dem Ellenbogen beziehungsweise mit dem Handgelenk verbinden.«
Ein paar Frauen hielten sich die Hände vor den Mund, als würde ihnen schlecht werden. Die Männer traten an den Tisch, um den Knochen aus der Nähe zu betrachten.
Ali, der Terrier, lag unter einem Tisch und beobachtete alles aufmerksam. Dann sprang er blitzschnell auf einen Rattansessel, streckte sich lang, stemmte die Vorderpfoten auf die Tischkante, schnappte zu und rannte mit dem Knochen in der Schnauze davon.
Arztsohn Ingwersen nahm wieder die Verfolgung auf. Er rannte nicht, sondern schlich sich vorsichtig an den Hund heran. Ali freute sich auf das Spiel. Er lag platt auf dem Bauch, streckte alle vier Pfoten von sich, hielt den Knochen in der Mitte, kaute darauf herum und schlug freudig erregt mit seinem Schwanz auf den Boden.
Der junge Ingwersen ging in die Hocke und streckte seine rechte Hand langsam vor.
Jetzt! Der Medizinstudent machte einen Satz nach vorn. Seine rechte Hand erwischte den Knochen. In diesem Moment biss Ali kräftig zu.
Krachend brach und splitterte der Menschenknochen in zwei Teile auseinander.
Die Zuschauer stöhnten entsetzt.
Ich stand direkt hinter Malte von Mellin und hörte, wie er sagte: »Oh Gott, auch das noch!«
Ein paar hundert Meter entfernt, hinter den Baumwipfeln auf dem alten Hochsitz, hatte der Amerikaner die Gesichter der Leute und das Geschehen auf der großen Wiese von Schloss Herrensee durch sein Spezial-Fernglas beobachtet.
Als der Hund den Knochen zerbiss, lachte er laut.
Er grinste noch immer, während er wieder vom Hochsitz kletterte und mit dem Rucksack über der Schulter und dem Korb in der Hand zu dem kleinen Suzuki-Geländewagen zurückging, den er am Vormittag etwas abseits der Straße unter dichtem Gebüsch abgestellt hatte.
9
Ali tobte mit seiner Knochenhälfte noch immer auf der großen Wiese herum. Die Aufregung über den mysteriösen Fund des Menschenknochens legte sich langsam. Allmählich wandten sich die meisten Gäste wieder der Kaffeetafel zu und nahmen ihre unterbrochenen Gespräche wieder auf.
Mir aber ließ die Geschichte keine Ruhe. Ich machte mich an Irmas Tochter heran.
»Hallo Lena«, sagte ich, »erzählst du mir mal, wo Ali den Stock gefunden hat?«
»Wer bist du?«
»Ich bin doch Bogey! Wir haben uns heute morgen schon auf dem Parkplatz kennengelernt.«
Jetzt erinnerte sie sich und lachte.
»Stimmt ja! Was machst du denn hier?«
»Deine Mama hat mich eingeladen.«
»Bist du der neue Freund von Mama?«
Ich zögerte. Irma stand ein paar Meter weiter und hatte uns wohl zugehört. Sie entschuldigte sich bei ihren Gesprächspartnern und kam mir bei der Antwort zu Hilfe.
»Nein, mein Schatz«, sagte sie. »Bogey ist ein alter Freund von mir, wir kennen uns schon lange und spielen manchmal Golf zusammen.«
Das Eis war gebrochen. Ich kniete mich hin und Lena strich mit ihrer weichen Mädchenhand über mein raues Kinn.
»Warum hast du so einen stoppeligen Bart?«
»Weil mein Rasierapparat kaputt ist«, sagte ich.
»Dann ist der Rasierapparat von dem Mann auch kaputt.«
»Was für ein Mann?«, wollte Irma wissen.
»Der Mann, der Ali den komischen Stock gegeben hat.«
»Waaas? Ein Mann hat Ali den Knochen gegeben?«
Irma wollte es nicht glauben. Aber als ich nachfragte, erzählte das aufgeweckte Kind immer mehr. Da drüben am Waldweg, nur etwa zwei- bis dreihundert Meter entfernt, sei ein Mann aus dem Wald gekommen.
»Der hatte einen Stoppelbart wie du, nur dunkler ... Und der hatte einen Korb in der Hand ... In dem Korb waren Pilze und das Stöckchen ... Das Stöckchen hat der Mann aus dem Korb genommen und Ali vor die Nase gehalten, und dann hat er es weggeworfen, und Ali hat es geschnappt.«
»Und was hat der Mann dann gemacht?«, wollte Irma wissen.
»Der Mann hat sich gefreut und ist wieder in den Wald gegangen.«
»Hat der Mann etwas gesagt?«, fragte ich.
»Ja, er hat mir gesagt, Ali soll Opa das Stöckchen bringen, dem gehört es oder der kennt es oder so.«
Irma